In der Straßenbahn.

[300] Da fährt sie hin, die elektrische Bahn! Der Kondukteurist im Innern des Wagenraumes, und so bleibt Käthes Winken mit dem Sonnenschirm – auf mehr kann eine Dame ihre Versuche, die Bahn halten zu lassen, ja nicht erstrecken – ungesehen.

Nein, nicht doch, gesehen hat ihre Bemühungen ja jener Herr, der auf der hinteren Plattform seine Cigarre raucht.

»Unbegreiflich,« denkt Käthe, »daß er nicht halten läßt! Es muß kein Herr sein, der auf gute Formen Anspruch erheben kann.« Ein wenig geärgert, entschließt sich Käthe, dem Wagen, der vom Alexanderplatz kommt, ein Stückchen entgegenzugehen.

Ein Erheben des Schirmes, der Kutscher nickt bestätigend, der Wagen hält vor Käthe. Im Aufsteigen sieht sie, daß kein Sitzplatz mehr frei ist. Nun, sie wird stehen; die Zeiten sind vorüber, wo man sich über eine Dame entsetzte, die den Aufenthalt in frischer Luft der dumpfen Atmosphäre im Innern vorzieht. Sie wird durchgehen bis zum Kutscher. Dort ist sie weniger[300] belästigt vom Aus- und Einsteigen der Fahrgäste und genießt eventuell seinen Schutz. Aber ehe sie ihren Plan ausführen kann, hat sich ein älterer Herr im Innern des Wagens erhoben. Er tritt, den Hut lüftend, an Käthe heran: »Darf ich Ihnen meinen Platz anbieten?« Käthe wirst einen Blick auf die zitternde, gebrechliche, alte Gestalt, die trotz ihres Leidens die angeborene Höflichkeit gegen Damen nicht verleugnet. Freundlich den Kopf neigend, will sie das Anerbieten des alten Herrn dankend ablehnen, er soll sich ihretwegen keine Unbequemlichkeit auferlegen, da steht ein größerer Knabe auf und bietet ihr seinen Platz an. –

Nun ist ja beiden geholfen. Mit einem »Danke!« setzt sich Käthe, sich bemühend, die Mitfahrenden bei dem Stoßen des Wagens möglichst nicht zu berühren, und sich zu diesem Zweck an den ledernen Riemen haltend, die von der Wagendecke herabhängen.

Sie ist ein liebenswürdiges Ding, die kleine Käthe. Voll Wohlgefallen folgen ihr die Blicke einiger Fahrgäste. Wieviel Rücksichtslosigkeit mußte sie noch eben von der Dame mit den vielen Paketen mit in Kauf nehmen, die, zwei Plätze beanspruchend, den übrigen die Qual des Engsitzens auferlegte.

Der wahrhaft gebildete Mensch zeigt sich gerade bei solchen Gelegenheiten, wo man auf gegenseitige Rücksicht angewiesen ist.

Dort hinten in der Ecke sitzt ein junger Mann. Er war so vertieft in seine »Neuesten Nachrichten«, daß er vorhin kaum aufgeblickt hat. Erst als Käthe ihm gegenüber Platz nimmt und er mit raschem Blick die[301] Situation erfaßt, fällt ihm seine Unterlassungssünde ein. Konnte, nein, mußte er nicht statt des alten Herrn aufstehen? Und er beschließt von jetzt ab aufmerksamer zu sein. Es wird ihm eher Gelegenheit gegeben, als er denkt. Die Bahn hält, und eine Dame gewinnt den Perron, in dicke Mäntel gehüllt. Der junge Mann erkennt eine Bekannte, die Frau seines Prinzipals, und ist im Augenblick neben ihr.

»Wollen gnädige Frau nicht meinen Platz einnehmen?« sagt er mit abgezogenem Hut und einer Verbeugung.

»Ach, Herr Kern, sehr liebenswürdig! Aber ich möchte Sie nicht Ihres Platzes berauben...« (dies sagt sie natürlich nur der Form wegen, denn schon setzt sie sich nieder). »Wie geht es Ihrer Frau Mutter? Haben Sie gute Nachrichten von Ihrer Schwester, der Frau H.? Sind Sie zufrieden bei Meyer & Sohn? Wieviel Gehalt bekommen Sie denn jetzt? Immer noch 100 Mark, oder sind Sie jetzt gesteigert?«

Herr Kern muß Rede und Antwort stehen. Welch schreckliche Schwätzerin! Und wie entsetzlich unpassend ist es, Familienangelegenheiten in der Pferdebahn zur Sprache zu bringen, wo fremde, aber vielleicht recht offene Ohren hinhorchen! Vermeidet nicht jeder gebildete Mensch in der Oeffentlichkeit die Namen von Bekannten anzuführen? Thatest du es bisher noch nicht, lieber Leser, und fühlst du dich dabei jetzt ein klein wenig getroffen, so versprich mir, in Zukunft aus Klugheitsrücksichten nicht von Meier's und B.'s und A.'s laut im Konzertsaal oder auf der elektrischen Bahn zu reden.[302] Eine sonderbare Verkettung von Umständen bringt es öfters zu Wege, daß solche harmlose Erzählungen über diesen oder jenen zum Stadtklatsch erhoben werden.

Käthe hat nicht umhin gekonnt, die ihr oberflächlich bekannte Dame mit einer stummen Verbeugung zu begrüßen. Jetzt schaut sie zum Fenster hinaus. Da gehen ja S.'s, dort Frau Bernard. Ob sie sie erkennen hier in der Bahn? Dort geht Ingenieur Herbert. Sein Blick streift den Wagen der elektrischen Bahn, er stutzt, erkennt Käthe und grüßt aufs verbindlichste. Käthe ist rot geworden. Wie herrlich könnte es werden, wenn sie jetzt halten ließe und zu Frau Bernard eilte. Gewiß würde Ingenieur Herbert ihnen beiden einen guten Tag sagen, und sie könnte ihm dann für das reizende Vielliebchengeschenk danken, das ihr heute in seinem Namen überbracht wurde.

Gedacht, gethan! Sie steht auf und zieht an dem Riemen, um dem Führer das Zeichen zum Halten zu geben. Damen sollten nie während der Fahrt oder bei verlangsamter Fahrt abspringen. Thun es Herren, so müssen sie stets daran denken, in der Fahrrichtung abzuspringen, sonst können sie ernstlich zu Schaden kommen.

Trinkgeld an den Kondukteur zu geben, ist eine Unsitte, der man sich nicht entziehen kann, macht man Anspruch auf des Schaffners Höflichkeit und Hilfe. Damen, die allein sind, raten wir daher, lieber diesen Brauch mitzumachen. Sorgsame Hilfe beim Aussteigen und freundliche Gefälligkeit sind unter Umständen mehr wert wie die wenigen Pfennige.[303]

Quelle:
Wedell, J. von: Wie soll ich mich benehmen? Stuttgart 4[o.J.], S. 300-304.
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