XX.

Rückschau.

[269] Was für ein wundersames Stück Weltgeschichte ist mir vergönnt gewesen mit zu durchleben!

Als ich geboren wurde, war die Pariser Julirevolution neun Monate alt. Mit ihr beginnt das politische Leben fast aller Völker eine neue Wendung zu nehmen. Nur zwei Staaten hatten ihre mittelalterliche Verfassung behauptet: England und – Mecklenburg. England, um sie stetig fortzubilden und mit den veränderten Zeitbedürfnissen in Einklang zu halten, Mecklenburg, um darin politisch-sozial zu verknöchern. In Preussen hatte »der aufgeklärte Despotismus« von der alten ständischen Verfassung der Einzelstaaten, aus denen sich die Monarchie zusammensetzte, nur noch die sog. Huldigungslandtage übrig gelassen. Die Regierung wehrte sich gegen den Erlass der geforderten und wohl auch versprochenen »Konstitution«. Sie hoffte, mit Provinziallandtagen auskommen zu können und bewilligte zuletzt den vereinigten Landtag ohne sonstige Erweiterung der ständischen Rechte. Damit knüpfte sie weder an die längst in Vergessenheit gebrachten historischen Bildungen an, noch schuf sie etwas der französischen Verfassung Gleichwertiges, die damals den Völkern mustergiltig erschien. Deshalb auf allen Seiten Unzufriedenheit. Der alte[270] preussische Beamtenstand war liberal. Man darf sagen, er hatte begriffen, dass er an die Stelle der früheren politischen Körperschaften getreten war, die über das Volksrecht zu wachen die Aufgabe hatten, und dass es dem fürstlichen Absolutismus gegenüber verpflichtet war, das Gesetz unverbrüchlich zu halten. Es gab nicht nur liberale Landräte, sondern auch Regierungspräsidenten, und unter den Richtern war überall wenigstens ein starkes Unabhängigkeitsgefühl lebendig, das zur Opposition neigte. Ich wuchs im elterlichen Hause in eine liberale Gesinnung hinein, die zwar noch wenig specifisch-politischen Charakter hatte, aber das Verständnis für alle fortschrittlichen Regungen im Staatsleben vorbereitete.

Ich habe 1840 als neunjähriger Knabe auf dem inneren Schlosshof in Königsberg (wohin mich meine Eltern von Pillau mitgenommen hatten), der Huldigung König Friedrich Wilhelm IV. beigewohnt und dabei gehört, wie eine Frau, die mir als eine Wahnsinnige bezeichnet wurde, aus einem Fenster des Schlosses hinabrief: »Schwört nicht!«, ein Ereignis, das meine Phantasie sehr stark beschäftigte und mir noch jetzt ganz gegenwärtig ist.

Und dann – ungefähr in der Zeit, als ich mich zur Konfirmation vorbereitete, setzte die religiöse Bewegung, teilweise in meiner nächsten Nähe ein. Julius Rupp gründete die frei-evangelische Gemeinde, Johannes Ronge die frei-katholische. Es war der Versuch einer Befreiung vom Dogma und von den Fesseln eines erstarrten Kirchentums ohne die Loslösung vom christlichen Glauben in freigeistigem Verständnis. Niemand ahnte damals, wie wenig diese Bewegung über ihre ersten Anfänge hinauskommen würde. Es war eine Anregung gegeben, die weit über die Kreise derer nachwirkte, die mutig in den Kampf traten, auch weit über die Zeit hinaus, in der jene Bahnbrecher thätig waren. Man darf behaupten, dass heute noch der Kampf sich fortsetzt. Noch immer giebt es eine Partei von[271] Kirchlich-freisinnigen, die den Protestantismus in der protestantischen Kirche zu konservieren bestrebt sind, und der Alt-Katholicismus wendete sich auch gegen das Dogma. Nur hat sich gewaltig die Zahl der Gleichgiltigen und der überhaupt Ungläubigen vermehrt, während auf der anderen Seite das Kirchentum den Anspruch auf Unabänderlichkeit schärfer vorgekehrt und durch Aussonderung der zweifelhaften Elemente das orthodox-kirchliche Leben zu stärken versucht hat. Diese Gegensätze haben schon den Knaben lebhaft beschäftigt, und ich kann versichern, dass ich seitdem unablässig bemüht gewesen bin, wenigstens für mich selbst Stellung zu nehmen und mir darüber klar zu werden, was in mir von dem kirchlichen Glauben übrig geblieben ist und wie weit ich noch berechtigt bin, mich einen Christen zu nennen. Zu den Gleichgiltigen habe ich nie gehört, aber auch zu den Ungläubigen möchte ich mich nicht schlechtweg zählen lassen. Keine Vertiefung in die Probleme der Philosophie und keine Prüfung der naturwissenschaftlichen Ergebnisse und Hypothesen hat mir den Gottglauben und die Überzeugung von der freien Handlungsfähigkeit und sittlichen Verantwortlichkeit des Menschen nehmen können. Nichts Geschaffenes ist mir ohne einen Schöpfer denkbar, und dem mit Bewusstsein begabten Geschöpf die Unterscheidung zwischen Gut und Böse absprechen, heisst mir unsere ganze Kultur zerstören. Die Fähigkeit des Selbstbewusstseins hebt den Menschen über das Tier hinaus. Das Bewusstsein der Unzulänglichkeit alles an die Vorstellung von Raum und Zeit gebundenen Erkennens des menschlichen Geistes, die Erkenntnis seiner Schranken, wird immer zu der Frage drängen: soll nicht nur der einzelne Mensch, soll auch die ganze Menschheit nie eine Aufklärung über das erwarten dürfen, was nach menschlichem Denken muss aufgeklärt werden können, wenn alle sinnliche Empfindung aufhört? Giebt es auf andern Weltkörpern vollkommen organisierte Wesen, vielleicht in langer Stufenfolge[272] bis zum vollkommensten hinauf, von denen jedes bestimmt ist, zu sein und zu vergehen, ohne jemals über sich hinausschauen zu können, oder ist die menschliche Vernunft die höchste irdische, und gelangt sie nie zu einer höheren Einsicht, oder lebt nach dem leiblichen Tode des Menschen von ihr etwas fort, was erweiterungsfähig ist und sich bis zu vollkommenem Erkennen steigern kann? Auch wenn man die Vorstellung von Lohn und Strafe in einem (immer unvorstellbaren) Jenseits nicht für notwendig erachtet, den Menschen zum sittlichen Handeln zu bestimmen, bleibt es nicht ein notwendiges Postulat unseres Intellekts, an die Möglichkeit der Aufhebung seiner Schranken zu glauben? Alle diese Fragen kann ich mir nur mit einem Non liquet beantworten, nicht verneinen.

Ich war eben 17 Jahre alt geworden, als die Nachricht von den Berliner Märztagen 1848 nach Königsberg gelangte, immerhin alt genug, um für ihre Bedeutung einiges Verständnis haben zu können. Ich stand bald darauf unter der erregten Menge auf dem Königsgarten, als Oberlehrer Witt eine Depesche zurückbrachte, die er einem Kourier abgenommen hatte und in der um den Einmarsch der russischen Truppen gebeten sein sollte. Ich bin dann in den folgenden Jahren als Primaner und Student Zeuge der Reaktion gewesen, die bis zum Fall des Generals v. Plehve im Duell von Ludwig Walesrode so anschaulich geschildert ist. Der tragische Ausgang des geistvollen Romantikers auf dem Throne erschütterte mich, und der Übergang der Regierung auf König Wilhelm erregte auch mir frohe Hoffnungen.

In der Konfliktszeit stand ich auf Seiten der Fortschrittspartei und bin noch heute der Meinung, dass der ihr gemachte Vorwurf der politischen Kurzsichtigkeit ungerecht ist. Am wenigsten ihre Gegner ahnten und wollten damals das, was später geschehen und glücklicherweise zum guten Ausgang gebracht ist. Vielleicht hatten die Machthaber selbst nicht einmal eine sichere Voraussicht dieser Ziele. Auch die Sympathien[273] für den Augustenburger hatten in der Zeit, in der sie sich äusserten, guten Grund. Er schien einen Rechtsanspruch zu haben, und niemand wusste, wohin der Schleswig-Holsteinsche Krieg eigentlich auslaufen sollte. Nationale und patriotische Empfindungen wurden in stärkerem Masse erst durch den Krieg und die raschen Siege 1866 geweckt. Nun kamen wir in ein tiefes und offenes Fahrwasser, in dem das Staatsschiff mit vollen Segeln den Kurs nehmen konnte, den ihm stets die liberale Partei gewünscht hatte. Der grosse Krieg von 1870/71 brachte endlich die Erfüllung nationaler Hoffnungen, die zum Teil schon der Befreiungskrieg zu Anfang des Jahrhunderts genährt hatte. Es war endlich wieder möglich, das ruhmgekrönte Regentenhaus der Hohenzollern im Liede zu feiern, ohne als Streber und Byzantiner über die Achsel angesehen zu werden. Es war, wenn auch nicht alles von manchen Seiten Erhoffte, doch unter Berücksichtigung der starken Widerstände sehr viel erreicht worden: ein deutscher Kaiser und ein deutscher Reichstag, ein protestantischer Kaiser und ein Reichstag hervorgegangen aus dem allgemeinen gleichen und geheimen Stimmrecht, Elsass-Lothringen dem Reich zurückzugeben.

Für uns ältere Leute erstand hieraus ein ganz anderes Deutschland, als wir's bis dahin gewohnt waren, und wir konnten die Umwandelung nicht leicht und nicht so rasch, als der vorstürmenden jüngeren Generation notwendig schien, mitmachen. Ja, es kam uns so vor, als ob die Bewegung garnicht immer ein Vorwärts bedeutete, oft neue Vorteile nur mit Verlust bewährter Güter eingetauscht würden. Wir fühlten uns in dem neuen Deutschland bald nicht mehr recht behaglich und ganz gegen unseren Willen in eine gnirrige Opposition gedrängt. Unsere Ideale waren, wenn auch nicht im vollsten Masse, erfüllt; wir wünschten nun den Ausbau des Hauses in derselben Richtung: der liberale Geist im deutschen Bürgertum sollte mehr und mehr erstarken, alle Institutionen des neuen Reichs von innen her festigen. In[274] Wirklichkeit entstand aber hier gerade ein Stillstand, bald ein entschiedener Rückgang. Macht war die Parole. Das Reich nach aussen hin so mächtig zu stellen, dass es allen Bemühungen der Gegner, uns die Früchte unserer blutigen Siege zu verkümmern und den Platz an der Tafel obenan wieder streitig zu machen, Trotz bieten konnte, schien die, wenn nicht einzige, so doch hervorragendste Aufgabe der »vereinigten Regierungen«. Das Reich musste eine Militärmacht ersten Ranges und zugleich eine seine Handelsinteressen genügend schützende Seemacht werden. Diesem nur bei äusserster Ausnutzung der Steuerkraft des Landes wirksamen Streben kam der militäristische Geist der jüngeren Generation entgegen. Wer die Feldzüge mitgemacht hatte, blickte mit berechtigtem Stolz auf die deutschen Waffenerfolge zurück, die auch er hatte erringen helfen. Der Reserveoffizier erhielt eine ganz andere Bedeutung, als je vorher; wer überhaupt gedient hatte, suchte auch im Zivilverhältnis das militärische Band zu markieren. Überall entstanden Kriegervereine, in denen die kriegerischen Erinnerungen gepflegt wurden. Schlossen sie auch jede Einwirkung auf die Politik ausdrücklich aus, so ergab doch die Zugehörigkeit ganz von selbst eine Art von moralischer Verpflichtung, oppositionelle Regungen zu unterdrücken, sobald es sich um Forderungen zu besserer Wehrbarmachung des Reichs handelte und der oberste Kriegsherr seine Wünsche ausgesprochen hatte. In den Regierungs- und Richterkollegien wurde bei Anstellungen und Beförderungen auf Kriegskameraden Rücksicht genommen; unter den Referendarien und Assessoren, auch denen, die erst später ihre militärische Schule durchmachten, wurde die »Schneidigkeit« Mode. Schneidig wurden auch die Lehrer der höheren Schulen, in die mehr und mehr ein reglementarischer Drill einzog, die humanistischen Anschauungen der früheren Zeit unterdrückend. Auf den Universitäten wucherte der Korpsgeist und impfte sich nach und nach auch den Burschenschaften[275] ein, die nicht minderwertig erscheinen wollten. Der organisierte »Bummel« und das Mensurunwesen blühten. Das Motiv, durch den Eintritt in eine »vornehme« Verbindung Bekanntschaften anzuknüpfen, die für die künftige Karriere dienlich sein möchten, wurde offen ausgesprochen, und um dem Herrn Sohn die Empfehlung mitgeben zu können, einem studentischen Eliteverband angehört zu haben, ruinierten sich die Väter. Ein ganz merkwürdiger Ehrenkodex, bisher kaum in den exklusivsten Offizierkorps geltend, wurde in diesen Kreisen unverbrüchliches Gesetz und sollte es auch in allen Lebensstellungen bleiben. Es konnte infolge gänzlicher Verwirrung des Begriffs von Ehre dahin kommen, dass ein im Examen Durchgefallener seinen Examinator auf Pistolen forderte. Der Scheffelsche »Rodensteiner« wurde der studierenden Jugend das Ideal des deutschen Mannes.

Der Adel, wohl besorgt um seine gesellschaftlichen Vorrechte, nachdem er die politischen verloren hatte, war auffällig bestrebt, sich kastenartig abzusondern. Um den Flor der Familie wenigstens in einem Gliede zu erhalten, stiftete er Fideikommisse und erwartete vom Staat die Versorgung der jüngeren Söhne in den höheren Stellen und Ämtern des Militärs und Zivils. Dabei hielt er sich doch nicht zu gut, seinen Namen zu Gründungen mehr oder minder zweifelhaften Charakters herzugeben, um ohne Arbeit zu ernten. Verbindungen mit Erbtöchtern bürgerlichen Standes nahm er sich nicht übel und, obgleich durch und durch antisemitisch, verschmähte er auch nicht reiche Jüdinnen, wenn sie geneigt waren, ein verblasstes Wappen neu zu vergolden. – Reiche und Arme hatte es immer gegeben, jetzt aber erweiterte sich die Kluft mit beängstigender Plötzlichkeit. Die »Millionäre«, die ganz Reichen, fingen an einen besonderen Stand zu bilden, der zum Teil recht protzig auf die übrige Menschheit hinabsah. Er sog allmählich die fünf Milliarden auf, die Frankreich an Kriegskosten hatte zahlen müssen, und trieb die kapitalistische Wirtschaft ins Grosse. Sie allein erschien[276] bald überhaupt nur noch lohnend. Der Versuch des Kleinbürgertums, sich durch genossenschaftliche Verbindungen ähnliche Vorteile zu verschaffen, glückte für die Einzelnen doch nur in sehr bescheidenen Grenzen. Ausgeschlossen waren auch hier alle, die aus der Hand in den Mund lebten, auf den täglichen Arbeitsverdienst angewiesen blieben, und ihre Zahl wuchs mit der Zahl der neuentstehenden Fabriken. Nun erst wurde der Arbeiterstand wirklich ein Stand, scharf abgegrenzt, gleichartig in seinen Elementen, den Besitzenden feindlich. Arbeitgeber und Arbeitnehmer erbitterten sich gegen einander und wollten nicht mehr einsehen, dass sie im Grunde gemeinsame Interessen hätten. Wo die Fabrikherrn menschenfreundlich für ihre Arbeiter sorgten, konnten sie sich doch selten dazu entschliessen, sie als Gleichberechtigte anzuerkennen. Der Staat liess es an Wohlfahrtseinrichtungen nicht fehlen, beruhigte aber die aufgeregten Gemüter durch seine soziale Gesetzgebung nicht. Dem einen Teil ging er schon zu weit, dem andern lange noch nicht weit genug.

Die politischen Parteien hörten als solche fast gänzlich zu existieren auf; wirtschaftliche und religiöse Interessen überwogen. Die konservative Partei wurde mehr und mehr die Partei des Adels, des Grossgrundbesitzes, der höheren Beamten und der Orthodoxen in der evangelischen Kirche. Sie acceptierte nicht aufrichtig den bestehenden Staat, sondern strebte zurück zu einer früheren Gesellschaftsordnung, auf mittelalterlichen Anschauungen fussend. Sie identifizierte sich nicht mit der Wirtschaftspartei der Agrarier und Bimetallisten, aber sie leistete ihr jeden gewünschten Vorschub, da die Mitglieder fast durch weg dieselben waren. Sie nahm für sich eine besondere Art von Patriotismus und Königstreue in Anspruch, liebäugelte mit dem Absolutismus und stellte sich dem Militarismus unbedingt zur Verfügung. Noch immer rekrutierte sich die Regierung im wesentlichen aus ihren Kreisen. Von der[277] grossen liberalen Partei bröckelte Stück nach Stück ab. Ein Teil gesellte sich dem Zentrum zu, welches an oberster Stelle die Interessen der katholischen Kirche zu vertreten bestimmt war. Erst Katholik, dann Deutscher und Staatsbürger! Das Zentrum mit Mitgliedern jeder politischen Richtung konnte und wollte kein leitendes politisches Prinzip haben; es stellte sich der Regierung gegenüber auf den Standpunkt des do ut des, ging deshalb mit der Opposition nur so weit, als diese Taktik es nützlich erscheinen liess und wurde überall da grundreaktionär, wo es galt, die Freiheit der Wissenschaft zu beschränken, die Schule dem Staat zu entziehen und den kirchlichen Einfluss zu fördern. Selbst nicht Majorität und ohne Aussicht, jemals Majorität zu werden, gab es doch durch seine kompakte Masse in jeder Frage von politischer Bedeutung den Ausschlag. Es lag in der Natur dieser Vereinigung, dass sie, je mehr die Regierung ihr nachgab, um so illiberaler werden musste. Die alte Fortschrittspartei verkümmerte mehr und mehr. Es trennte sich von ihr der rechte Flügel, dem sie politisch zu starrsinnig war, und dann der linke, der ihr manchesterliche Anschauungen Schuld gab. Es entstanden neue Fraktionen, die sie gelegentlich bekämpften, ohne doch schon der geringen Zahl ihrer Mitglieder wegen, für sich selbst etwas durchsetzen zu können. Die Nationalliberalen in Preussen und ausserhalb Preussens bedeuteten zweierlei. Ausserhalb Preussens waren es ursprünglich die Liberalen, die deutsche Politik zu treiben gewillt waren gegenüber der Kleinstaaterei und ihren separatistischen Gelüsten, in Preussen die politischen Theoretiker, die freie Hand behalten wollten, sich in jedem praktischen Fall zu entscheiden, wie weit es geboten scheine, liberale Grundsätze nationalen Erwägungen unterzuordnen. Sie erwarteten, unter dem Nachfolger des ersten Kaisers zur Regierung zu kommen; seine schwere Krankheit und früher Tod machten diese Hoffnungen zu Schanden. Seitdem neigten sie noch mehr zu den Freikonservativen, deren Wirtschaftspolitik[278] ein grosser Teil vertritt. In ihren Abstimmungen sind sie unberechenbar, ganz zuverlässig nur in einigen wenigen Punkten des liberalen Programms. Ganz gesondert endlich marschiert die Sozialdemokratie, deren schnelles Wachstum, besonders unter der Herrschaft der zu ihrer Unterdrückung bestimmten Ausnahmegesetze, Staunen erregte. Die Sozialdemokratie ist ebenso wie das Zentrum nur nebenher eine politische Partei. Sie erstrebt zwar den demokratisch regierten Staat, aber doch wesentlich nur deshalb, weil in ihm allein die neue Gesellschaftsordnung, die sie plant, denkbar ist. Sie nennt sich selbst revolutionär, behauptet aber, nicht an eine gewaltsame Umwälzung zu denken, und überlässt es einer unbestimmten Zukunft, ihre letzten, wohl auch einem Teil der Genossen selbst utopistisch erscheinenden Ziele zu erfüllen. Sie nimmt an den parlamentarischen Arbeiten des Reichstags teil, ist aber bereit, mit jeder Partei zu gehen, die ihren sozialen Reformen zustimmt oder sie denselben einen Schritt näher führt. An sich ist sie ganz ebenso der natürliche Gegner der Konservativen als der Liberalen aller Schattierungen. Wie das Zentrum ist sie in gewissem Sinne international, entgegengesetzt demselben aber durchaus unkirchlich. Sie hat nicht so viel überzeugte Anhänger, als für sie Wahlstimmen abgegeben werden, da hier auch alle diejenigen mitzählen, welche, bis weit in die Kreise des Kleingewerbes und der unteren Beamtenschaft hinein, ihrer Unzufriedenheit über die bestehenden Verhältnisse unerkannt Ausdruck zu geben wünschen; auch ist es sehr unwahrscheinlich, dass die Sozialdemokratie, wie sie doch hoffen muss, wenn sie friedlich zum Ziel gelangen will, jemals die Majorität gewinnt oder dieselbe sich auch nur kürzeste Zeit erhält, sobald sie nun wirklich mit der Umgestaltung nach ihrem Prinzip des Gleichmachens beginnt. Eine unverkennbare Gefahr für Staat und Gesellschaft liegt aber doch darin, dass sie eine fortwährende Unruhe unterhält, die Unzufriedenheit in Permanenz erklärt und nicht einmal den anderen[279] Ständen die Möglichkeit giebt, sie zu beseitigen, solange sie überhaupt existieren, da die neue angeblich bessere Gesellschaftsordnung ja erst dann perfekt werden kann, wenn sie zu sein aufgehört haben. Jede Reformpartei bezeichnet die Grenzen, innerhalb deren sie das Bestehende abzuändern bestrebt sein will, damit ein befriedigender Zustand eintrete; die Sozialdemokratie aber beteiligt sich bei Reformen überhaupt nur in der ausgesprochenen Absicht, sie als Abschlagszahlungen zu betrachten und ohne Befriedigung ihrer eigentlichen Wünsche hinzunehmen; andererseits stellt sie sich zugleich auch auf den Standpunkt, dass sie, solange die jetzige Gesellschaftsordnung bestehe, nicht verpflichtet sei, sich positiv über ihren Zukunftsstaat zu äussern. Bei weitestem Entgegenkommen seitens derer, die viele ihrer Forderungen und Beschwerden für gerecht anerkennen möchten, ist doch kein Schritt zum Frieden gethan, die allgemeine Lage nur unwesentlich gebessert. In diesem fortwährenden Anreiz der Unzufriedenheit liegt ein demagogisches Element, und wer weiss, ob allezeit die Massen soviel Klugheit haben als die Führer, und geduldig abwarten, was mit gesetzlichen Mitteln in unabsehbarer Zeit erreicht werden kann. Der Verdacht wird doch nicht abzuweisen sein, dass die Revolution spätestens dann versucht werden wird, wenn sie Aussicht auf Erfolg verspricht, was jetzt freilich auch den Unklügsten noch eine verderbliche Täuschung scheint. Man bemüht sich auf der Gegenseite um Mittel zur Abwehr, setzt der Koalition die Koalition entgegen, nimmt jeden Vorteil des Gesetzes und des Besitzes wahr, sich die grössere Macht zu sichern. So entsteht mitten im Frieden ein gesellschaftlicher Kriegszustand, dessen Ende nicht abzusehen ist und unter dem jeder leidet.

Das scheint mir die Signatur dieses letzten Viertels des Jahrhunderts zu sein. Es ist dabei noch nicht einmal an die widerwärtigste Verirrung der Neuzeit im Antisemitismus gedacht. Von allem, was ich erlebt habe, ist mir dieser Rückgang[280] des humanen Geistes der Nation zur engherzigsten Unduldsamkeit das traurigste. Die Emancipation der Juden zu Anfang und bis zur Mitte dieses Jahrhunderts bedeutete einen Kulturfortschritt. Nach dem Gesetz wurden sie Staatsbürger mosaischer Konfession, gleichberechtigt den Staatsbürgern anderer Konfessionen. In Kleider- und Haartracht, in der Sprache, in gesellschaftlichen Sitten und Gewohnheiten waren da, wo das frühere Schutzverhältnis bis in das vorige Jahrhundert zurückging, die Unterschiede meist völlig verwischt. Die Kinder der Juden besuchten mit denen der Christen dieselben Schulen und Universitäten, wurden zu den gleichen Examen zugelassen, durch dieselben akademischen Ehren ausgezeichnet, als Ärzte und Advokaten vom Publikum ohne jede Rücksichtnahme auf die Konfession beansprucht. In den Gerichts- und Regierungskollegien sassen Juden neben Christen. Ich selbst habe eine grosse Zahl jüdischer Referendarien praktisch auszubilden Gelegenheit gehabt und kann ihnen das Zeugnis geben, dass sie sich nicht nur durch leichte Auffassung, gute Kenntnisse und unermüdlichen Fleiss, sondern auch durch Bescheidenheit im Verkehr mit den Vorgesetzten auszeichneten. Juden dienten im Heer, auch als einjährig Freiwillige, wurden im Kriege zu Offizieren befördert, mit dem eisernen Kreuz geschmückt. Juden hatten in christlichen Häusern Umgang und umgekehrt, ohne dass man daraus irgend etwas besonderes machte. Es liess sich annehmen, dass die Lebensgewohnheiten beider Teile, wenn man die Dinge sich ruhig entwickeln liesse, sehr bald auch in tiefere Volksschichten hinab ausgeglichen erscheinen würden. Da brach plötzlich eine Judenhetze los, wie sie ähnlich nur die dunkelsten Zeiten des Mittelalters gesehen hatten. Die Verschiedenheit der Rasse wurde vorgekehrt, den Juden das Recht abgestritten, sich als Deutsche fühlen zu dürfen. Man gab ihnen Wucher und Neigung zum Betrug schuld, behauptete, dass sie sich vor körperlicher Arbeit scheuten, suchte aus dem[281] Talmud Stellen hervor, die ihre Feindschaft und Rachsucht gegen Andersgläubige beweisen sollten, zum Teil aus dem Zusammenhang gerissen, zum Teil falsch ausgelegt oder geradezu gefälscht waren, und entblödete sich nicht einmal, die alten Märchen von der Hostienschändung und dem Ritualmord aufzufrischen. Es bildete sich eine förmliche Partei der Antisemiten, deren Streben es war, die Juden gesellschaftlich und wo möglich auch geschäftlich zu isolieren, ihnen die deutsche Staatsbürgerschaft zu verleiden und zu verkümmern, sie ins Ausland abzuschieben. Auch wo man sich nicht offen zum Antisemitismus bekannte, liess man sich doch von der Strömung fortreissen. Jüdische Schüler wurden nicht nur von christlichen Mitschülern, sondern selbst von Lehrern verhöhnt und verspottet, auf den Universitäten schlossen nicht nur die Korps, sondern auch die Burschenschaften (!) jüdische Studenten von den Verbindungen aus, die Freiwilligen liess man zum Offizierexamen nicht mehr zu, Juden sollten nicht mehr Richter sein können, weil sie nicht Christen vereidigen dürften; man erschwerte ihnen das Notariat. Selbst die zum Christentum übergetretenen Juden wurden nicht voll geachtet. Die Folge dieser masslosen Anfeindung war selbstverständlich, dass die Juden sich ebenfalls wieder enger aneinander schlossen, um gemeinsam ihre Verteidigung zu führen, was übrigens mit Geschick und grosser Selbstbeherrschung geschah, und dass sogar der Zionismus unter ihnen wieder zu Kräften zu kommen bestrebt war. Aber höchst bedauerlich war auch die Wirkung nach einer anderen Seite hin. Waren die Juden schon früher dazu gedrängt worden, sich auf das Handels-und Geldgeschäft, auf den Beruf des Arztes und Advokaten zu beschränken, so sahen sie sich jetzt die Wege zu den Staatsämtern und nun gar zum Militär völlig verlegt, zu den Schulämtern noch mehr erschwert, und es war daher nur natürlich, dass ihre Intelligenz sich nach den Seiten Bahn brach, die sich noch zu geistiger Bethätigung öffneten. So[282] strömten sie der Presse zu, wurden Schriftsteller und Journalisten in viel grösserer Zahl, als sie das Bevölkerungsverhältnis bedingte, erwarben und gründeten Zeitungen, bemächtigten sich der Kritik und missbrauchten wohl auch gelegentlich ihren Einfluss und ihre Macht; ebenso unverhältnismässig schoben sie sich in gewisse Kunstgebiete ein, indem sie sich namentlich musikalisch ausbildeten, Theater leiteten und als Schauspieler versuchten. Es ist mir nicht zweifelhaft, dass hier der natürliche Ausgleich erfolgen würde, sobald die Gleichberechtigung der Staatsbürger aller Konfessionen aufhören würde nur auf dem Papier zu stehen. Nun hat das Geschrei über die Judenpresse und über das Judentheater keinen vernünftigen Halt, so sehr mancherlei Auswüchse des Spekulationsgeistes auch zu beklagen sein mögen.

In der Kunst bin ich Zeuge grosser Wandlungen gewesen. Das Genie Richard Wagners wies der Musik neue Bahnen und nahm das Interesse für seine Schöpfung so stark in Anspruch, dass eigenartige Talente grosse und vielfach vergebliche Mühe hatten, sich neben ihm Geltung zu schaffen, alle Mittelmässigkeiten sich in seiner Stilart versuchten und der Geschmack des Opern-Publikums sich den italienischen Meistern, Meyerbeer und selbst Mozart abwendete. Schneller aber lange nicht so nachhaltig gewann sich Offenbach, in einem ganz anderen Genre, dessen Gunst. Eine Reihe von Jahren beherrschten beide nebeneinander die deutsche Bühne, ohne bei der Gegensätzlichkeit der Tendenzen gegenseitig ihre Kreise zu stören. In einer Stadt wie Königsberg, die nur ein Theater hat, liess sich dies besonders gut beobachten. Die Operette hat sich rasch verbraucht und ist ausgeartet, Wagner setzt seinen Siegesflug über die deutschen Grenzen, jetzt auch längst schon nach Frankreich hinein, anscheinend ungeschwächt fort. Ich selbst gehöre zu denen, die »Tannhäuser«, »Lohengrin« und »Meistersinger« zu den ganz grossen dichterisch-musikalischen Offenbarungen zählen, die eine unbegrenzte[283] Zukunft haben, für »Tristan und Isolde« nicht mehr schwärmen und zum »Ring der Nibelungen« kein Verhältnis zu gewinnen vermögen. Ich glaube das Recht zu haben, über diese Werke zu urteilen, obgleich ich nicht Musikverständiger bin, denn bei der Oper steht der dramatische Vorgang an erster Stelle (sonst hat die Bühnenaufführung überhaupt keinen Zweck), und die Musik muss so beschaffen sein, dass sie, wie viel darin auch der Musikkenner für sich findet, dem nicht musikalisch gebildeten Zuhörer Befriedigung schafft. Ich halte »Tannhäuser« für eine dramatische Grossthat. Nur ein genialer Blick konnte die Sagenkreise des Sängerkrieges auf der Wartburg, des Tannhäuser und der heiligen Elisabeth in eine dichterische Handlung zusammenlaufen sehen und für sie die einfachste Form finden. Ich empfinde aber auch die Notwendigkeit des musikalischen Ausdrucks, die Steigerung meines menschlichen Mitgefühls durch ihn und die innere Beziehung von Wort und Note. Ähnlich bei »Lohengrin«, dessen Handlung die allgemeine Menschennatur in der Tiefe fasst und eine sehr starke Nachempfindung anregt. Beide Opern haben etwas Symbolisches, das leicht verstanden wird und seine Wirkung immer wieder erneuert. In ihnen ist nach meiner Schätzung der Dichter Wagner so gross als der Komponist. Mit seiner Theorie des Musikdramas habe ich mich nie befreunden können. Ich halte sie geradezu für falsch. Denn sie verkennt die künstlerischen Zwecke ebenso des Dramas als der Musik, wenn sie für beide da, wo sie für sich allein am stärksten sind, eine Verschmelzung sucht, die ihre Wirkung aufhebt, da aber, wo ihr Zusammenwirken der neuen Kunstform die Berechtigung giebt, eine Trennung vornimmt, die keinen unbefangenen Genuss aufkommen lässt. Drama und Oper sind eben zwei in ihrem Grundwesen völlig verschiedene Gattungen. Sprache und Gesang sind zweierlei; der Gedanken-und Empfindungsinhalt beider ist ein verschiedener und bringt sich in verschiedener Weise zur Erkenntnis.[284] Es ist ein Irrtum, dass sich die Deklamation durch Notenschrift fixieren lässt, eine Folge von höheren und tieferen, längeren und kürzeren Tönen der Wortverbindung den richtigen Ausdruck für den gedanklichen Inhalt giebt. Jede solche Folge ist willkürlich und widerstrebt der natürlichen Betonung. Eine Oper, die aus lauter gesungener Rede besteht, verkennt ebenso die Bedeutung der Rede als des Mittels, Gedanken zum Verständnis zu bringen, wie des Gesangs als des Mittels, Empfindungen zu übertragen. Die gesungene Rede ist nie so deutlich wie die gesprochene, und sie hat gar keinen Zweck mehr, wenn sie erst im Buch nachgelesen werden muss und sich da für das Auge aus Worten zusammensetzt, die rein verstandesmässig interessieren. Die Musik dazu giebt das Orchester, nicht in einer anschmiegenden Begleitung, sondern in einer selbständigen oder doch nur von dem Gange der Opernhandlung ganz im allgemeinen beeinflussten Symphonie. Sie mag an sich sehr schön und interessant sein, aber ich komme nicht zum Genuss, weil von Zeit zu Zeit dazwischen gesprochen wird, ich mein Ohr spitzen muss, um die Worte notdürftig zu verstehen, und in diesen Tönen jede Spur von Melodie fehlt, die sie meinem Gefühl vermitteln. Wenn nun aber gar, wie in den letzten Wagnerschen Opern, (Parsifal kenne ich nicht), die Handlung nur durch einen gelehrten Kommentar dem Verständnis des Zuschauers einigermassen näher gebracht werden kann, die Vorgänge auf der Bühne meine menschliche Teilnahme nur sehr wenig wecken, der Text selbst bei aufmerksamstem Lesen an vielen Stellen dunkel bleibt, die gesungenen Reden sich endlos ausdehnen, während derselben und der rein musikalischen Zwischenspiele aber die Aktion auf der Bühne stehen bleibt oder nur künstlich weiterbewegt wird, endlich der Theaterabend sich über die Zeit meiner Genussfähigkeit hinaus verlängert, empfinde ich bei meiner Unfähigkeit, mir etwas einreden zu lassen oder mir selbst einzureden, eine Qual, die auch durch den[285] szenischen Aufwand für das Auge nur vorübergehend gemindert wird. Es scheint mir sehr bedauerlich, dass die Nachfolger Wagners gerade da angeknüpft haben, wo der Meister doch wohl nur sich selbst im Auge gehabt haben konnte. Die Oper durfte nun nur noch aus gesungener Rede und Gegenrede bestehen; der mehrstimmige Gesang im Duett und Terzett, die Arie, der Chor, die Melodie, waren verpönt; die Opernkritik stellte sich fast durchweg auf den modernsten Standpunkt und liess nichts gelten, was an die alte Schule erinnerte. Aber auch die neuen Schöpfungen im Wagnerstil hatten kein Glück und verschwanden immer sehr bald wieder. Man war auf falschem Wege und verlief sich immer mehr. In den seltenen Fällen, in denen es einer neueren deutschen Oper gelungen ist das Publikum anzuziehen, sind die Komponisten zu Stoffen und Formen zurückgekehrt, die das Gemüt ansprechen durften.

Auf den ersten Bilderausstellungen, die ich besuchte, herrschten die Düsseldörfer; ihre anmutigen, oft von einem Hauch echter Poesie durchwehten Schöpfungen sind mir immer lieb geblieben. Sie wurden abgelöst von den Münchener und Berliner Historikern, denen durch die siegreichen Kriege und ihre politischen Folgen auch moderne Stoffe gegeben wurden. An bedeutenden Landschaften fehlte es nicht. Französischer Einfluss machte sich bei der Genremalerei geltend, die mehr und mehr von dem Objekt absah, um wesentlich nur noch durch die Technik zu wirken. Dann feierten die Koloristen ihre Triumphe. Die Wohlhabenheit wuchs in Deutschland; wer sich früher mit guten Kupferstichen begnügt hatte, schmückte jetzt seine Wände gern mit Ölgemälden, Aquarellen und Familienporträts; es wurde Geld für die Kunst flüssig, und die Zahl der Maler wuchs zur Legion. Um sich bemerkbar zu machen, wählte man Gegenstände und Techniken, die Sensation erregen konnten; bald wurde auch das Verwegenste gewagt, mochte es auch noch so abstossend wirken, wenn es nur diesen Zweck erfüllte. Die Jüngeren wurden[286] zugleich die Modernen und erklärten der ganzen »Ateliermalerei« den Krieg. Sie fanden ein Schlagwort, das Wunder that: Freilicht! Alles sollte gemalt werden, wie es in der Natur gesehen werde. Aber von welchen Augen? Die der Maler schienen plötzlich krank geworden zu sein. Sie sahen überhaupt nichts mehr deutlich, sodass auch der Beschauer des Bildes nichts mehr deutlich zu erkennen vermochte, ob er nun nahe heran oder weit ab trat, und die Farbe schwankte zwischen einem schmutzigen Blau und einem schmutzigen Gelb und ihren Mischungen. Dabei eine wunderliche Vorliebe für das Dürftigste in der Natur und der Menschengestalt. Seitdem mühen sich Veristen, Naturalisten, Symbolisten, Jmpressionisten und andere -isten dem Wahnsinn Methode zu geben. Eine Sezession folgt der andern. Ich glaubte zu bemerken, dass das künstlerische Können immer schwächer wurde. Wo aus diesen Reihen ein starkes Talent herauswächst, zeigt es, dass es zunächst in der alten Schule etwas gelernt hat, und nähert sich ihr wieder so weit, dass der prinzipielle Unterschied unmerkbar wird.

Von dem Theater habe ich schon gelegentlich gesprochen. Als ich mich mit demselben zu beschäftigen anfing, bestand noch das Konzessionswesen. Neben den Hof- und Stadttheatern konnte schwer ein neues Unternehmen aufkommen, auch dann oft nur mit beschränktem Reportoir. Die Freigabe der Theatergründungen bedeutete auf der einen Seite die Verallgemeinerung der Kunst, auf der anderen die Einreihung der Theater in die Zahl der gewerblichen Institute. Die Eröffnung der Konkurrenz wurde unzweifelhaft als ein Segen empfunden; sie ermöglichte es, Volkskreisen, die bis dahin ausgeschlossen waren, die höchsten Erzeugnisse der dramatischen Dichtung zuzuführen, brachte Novitäten zur Anerkennung, die bisher keine Pflegestätte hatten finden können, und nötigte die früher privilegierten Bühnen zu grösseren Anstrengungen. Aber dem Licht fehlte doch auch nicht der Schatten: den Theatern als Kunstinstituten wird[287] es immer schwer werden, sich ganz aus eigenen Mitteln auf der Höhe zu erhalten; der Privatunternehmer will aber auch noch einen Gewinn herausziehen, einen möglichst hohen Gewinn. Selten wird ein sachkundiger und kunstliebender Leiter in der Lage sein, aus eigenen Mitteln den Aufwand einer grösseren Bühne bestreiten zu können; es bildet sich hinter ihm ein Konsortium von Kapitalisten, die vorwiegend das Interesse haben, eine Dividende herausgewirtschaftet zu sehen. Das Publikum muss deshalb in Massen herangezogen werden, und es strömt nur zu, wenn ihm Sensationelles in der Wahl der Stücke oder in der Art der Darstellung, Ausstattung, Rollenbesetzung pp. geboten wird. Daher neben einer kleinen Zahl von Theatern, die einem wirklichen allgemeinen Bedürfnis abhelfen oder einseitig, aber mit künstlerischen Mitteln eine eigenartige Richtung fördern, eine grosse Zahl von zum Teil prachtvoll ausgestatteten Schaubuden, in denen täglich dem Publikum die ungesündeste Kost geboten wird. Auch da, wo der Betrieb in alter Weise erfolgt, zeigt sich die Neigung, für den gröberen Geschmack zu arbeiten, mitunter recht auffallend. Das Theater ist noch mehr, als früher schon, Geschäft geworden. – In den letzten fünfundzwanzig Jahren hat Berlin Wien als leitende Theaterstadt überflügelt. Was bei den Wiener Theatern, namentlich dem Hofburgtheater, gefiel oder missfiel, hatte seine Note für die deutschen Theater überhaupt erhalten. In Wien vornehmlich wurde fürs Theater geschrieben; es gab aber dort auch eine Theaterkritik, deren Stimme weithin vernehmbar war. Wien dominierte jedoch nicht derart, dass sich daneben kein anderer Ort einen selbständigen Einfluss auf die öffentliche Meinung in Theaterangelegenheiten hätte schaffen können. Hamburg behielt für Norddeutschland und darüber hinaus grosse Bedeutung, namentlich durch das vorzüglich geleitete Thalia-Theater. Auch Leipzig, Frankfurt a.M. und München sprachen mit. Für den Theaterdichter war es damals ziemlich gleichgiltig, wo er seinen Schreibtisch stehen[288] hatte; eine unmittelbare Einwirkung auf die Inszenierung selbst seiner eigenen Schauspiele wurde ihm in den seltensten Fällen gestattet. Gustav zu Putlitz, der doch Intendant des Schweriner Hoftheaters gewesen war, erzählte mir, er sei zu den Proben seiner Stücke im Berliner Königlichen Schauspielhaus nur unter der ausdrücklichen Bedingung zugelassen worden, dass er sich in die Regie nicht einmischte. Dass der Autor, wie in Paris üblich, sein Drama dem Personal eines bestimmten Theaters vorlas und demnächst auf den Proben erst fertig stellte, kam kaum vor; er lernte von der Bühne nicht viel mehr, als jeder Zuschauer im Parkett lernen konnte. Mein Verhältnis zum Königsberger Theater war noch besonders günstig zu nennen, nachdem ich Stammgast geworden war, doch stellte es sich mir keineswegs als Probebühne zur Verfügung und gönnte der Vorbereitung meiner Stücke nicht mehr Zeit, als der Anderer. Eine Leseprobe des Personals in meiner Gegenwart habe ich allerdings einmal durchgesetzt. Als ich mich aber überzeugte, dass ihr ganzer Zweck darin gesehen wurde, die fehlerhaft ausgeschriebenen Rollen zu vergleichen und zu verbessern, kam ich auf dieses Verlangen nicht wieder zurück. Doch ich schweife ab. Berlin fing erst an tonangebend zu werden, als die Berliner Posse mit dem politischen Couplet von sich reden machte. Sie konnte nur in Berlin geschrieben, nur von Berlin aus verbreitet werden, und sie fand überall willige Aufnahme, wo derselbe freigeistige Luftzug wehte. Als Berlin dann seine Bevölkerungszahl rapide vergrösserte, den Fremdenzufluss stetig steigerte, nicht nur der politische, sondern auch der geschäftliche Mittelpunkt für Deutschland wurde; als in Berlin am lautesten der Pulsschlag der geistigen Bewegung gespürt wurde, die Berliner Presse weltstädtische Bedeutung erlangte und eine Masse neuer Theater entstand, die in der Vorführung interessanter Novitäten wetteiferten, gewöhnte man sich ausserhalb mehr und mehr daran, der Reichshauptstadt in Theaterangelegenheiten eine entscheidende Stimme zuzusprechen.[289] Jetzt ergreift sehr selten noch die Bühne einer anderen Stadt die Initiative; nur was sich in Berlin bewährt hat, findet Aufnahme, und was von den Berliner Zeitungen besprochen ist, erregt die Aufmerksamkeit der Direktionen und die Neugierde des Publikums. Die meisten dramatischen Autoren von Bedeutung leben in Berlin; wer aussen bleibt, verliert leicht die Fühlung. Diese Zentralisation, den Umständen nach unvermeidlich, ist nicht frei von Gefahren für die dramatische Produktion. Sie arbeitet vielleicht schon zu sehr für den spezifischen Geschmack bestimmter Berliner Theaterkreise und sieht sich verlassen, wenn sie ihn nicht trifft. Was in Berlin »geht«, ist keineswegs immer das literarisch Wertvolle, und was sich hier nicht anbringt oder rasch verbraucht und damit überhaupt tot ist, verdient öfters diese Zurücksetzung nicht und würde ausserhalb der scharfen Strömung gerechtere Würdigung erfahren haben. Macht sich gar das Kliquenunwesen breit, so geht jeder allgemein giltige Massstab für die Leistung verloren.

Neben den Klassikern behaupteten sich zu Anfang der fünfziger Jahre auf dem Reportoir einige ältere Lust- und Schauspiele von Blum, Töpfer, Iffland, während Kotzebues Einfluss bereits stark im Schwinden war. Von neueren Autoren gefielen besonders Halm, Bauernfeld, Mosenthal, dann Gutzkow, Freytag, Laube. Grillparzer hatte bereits seine Zeit gehabt und hatte sie noch nicht wieder; Hebbel kämpfte schwer um allgemeinere Anerkennung, ebenso Otto Ludwig. Wohl am häufigsten auf dem Zettel standen bis in die siebenziger Jahre hinein Benedix und Frau Birch-Pfeiffer. Dann wuchs die jüngere Generation heran, zu der ich selbst gehöre, und dann die jüngste. Ich möchte von den Lebenden hier nicht sprechen und es nur als eine erfreuliche Erscheinung bezeichnen, dass es endlich deutschen Dramatikern gelingt, sich auch die Bühnen des Auslandes zu erobern. Bisher haben wir nur immer von dort her aufgenommen, namentlich von den Franzosen und in letzter Zeit von den Skandinaviern, darunter sehr viel Ungesundes.[290]

Vielleicht noch stärker, als im Theater, machten sich die cosmopolitischen Neigungen der Deutschen in der Literatur kenntlich. Der französische, englische, schwedische, später überhaupt skandinavische, russische, amerikanische Roman fand die weiteste Verbreitung und den breitesten Leserkreis. Auch Gedichte wurden vielfach übersetzt, und an Nachahmungen fehlte es nicht. Deutschen Schriftstellern von Eigenart wurde es dadurch sehr schwer gemacht sich durchzuringen. Musste doch ein Wilibald Alexis (Hering) zu der Täuschung seine Zuflucht nehmen, dass sein Originalroman eine Übersetzung aus dem Englischen des Walter Scott sei, um ihm Beachtung zu verschaffen, und Heine ein halber Franzose werden, um sich bei seinen Landsleuten als ebenbürtig legitimieren zu können. Immerhin zeitigte die deutsche Lyrik nach Uhland und Rückert noch eine schöne Blüte in Heine, Lenau, Herwegh, Freiligrath, Geibel etc. und schufen Gutzkow, Freytag, Hering, Auerbach u.a. Romane, die von jedem gebildeten Deutschen gelesen wurden, wenn auch nicht entfernt so viel Auflagen erlebten, wie Franzosen von ähnlichem literarischen Ansehen. Auch einige epische Versdichtungen gelangen, und poetische Erzählungen untermischt mit Liedern fanden trotz aller Anfechtung viel warme Verehrer und Verehrerinnen. Scheffels »Ekkehard« gehört in jene Zeit. Im neuen Reich haben Roman und Novelle, den Zeitstimmungen folgend oder zurückschauend in unsere nationale Vergangenheit, einen reichen Nährboden gefunden. Die grossen Zeitungen brauchten Unterhaltungsstoff für ihre Feuilletons, immer neue Wochen- und Halbmonats- oder Monatsschriften mit und ohne Illustrationen entstanden, die kürzeren und längeren Erzählungen Raum für ersten Abdruck gewährten. Die Buchausgaben folgten dann nach. Diese Art der Veröffentlichung in kleineren und kleinsten Abschnitten hatte freilich das Bedenkliche, dass nun auch gerade von den zahlungsfähigsten Blättern ein Inhalt und eine Schreibweise gefordert wurden, die den[291] Lesern die Lektüre genehm machten, Werke anderer Art schwer ein Unterkommen fanden, auch wenn sie literarisch bedeutender waren, und nur Autoren allerersten Ranges unbekümmert um solche leidige Rücksichten schaffen konnten. Es kam dazu, dass auch ihnen nicht einmal die weitverbreiteten Familienblätter volle Freiheit in der Wahl des Stoffs und der Schilderung liessen, immer besorgt um die Erhaltung ihrer Abonnenten, denen nichts »Anstössiges« gebracht werden dürfe, wobei dann wohl oft mehr als billig auf die Bedürfnisse der jungen Familientöchter Bedacht genommen war. Unsere Neueren hatten aber gerade viel zu sagen, was für reife Leser bestimmt war. Sie wünschten das Stoffgebiet zu erweitern, tiefere Schichten des Seelenlebens abzugraben, die Resultate und Hypotesen der Naturwissenschaften auszunutzen, der Darstellung die möglichste Wahrheit zu geben, und sie hoben geflissentlich den Schleier, den bisher die Dichtung immer gern über die allzu nackte Wirklichkeit gedeckt hatte. Diese Tendenz hat in gewissen Grenzen ihre Berechtigung. Bedauerlich ist nur, dass die grosse Mehrzahl lediglich den Blick für das Unerfreuliche, Widerwärtige, Hässliche und Gemeine zu haben scheint und sich allzu offenkundig an Vorbilder in Frankreich, Italien, Skandinavien und Russland lehnt. Der degenerierte Mann und das (geistig oder körperlich) prostituierte Weib sind da stehende Typen. Und es giebt leider Schriftstellerinnen, die noch fortgeschrittener sind, als die Schriftsteller; was diese nicht zu sagen wagen, sagen sie. Nicht frivol, sondern in der Absicht, der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten. Aber wenn das wirklich die Gesellschaft wäre, in der ich verkehren müsste, so fände ich es zu einer neuen Sintflut an der Zeit. Es kann sein, dass meine Sinne zu stumpf sind; aber die Welt sieht mir anders aus.

Ich war noch auf der Schule, als das Tischrücken begann. Wer die Experimente mitmachte und an ihr Gelingen glaubte, war doch weit entfernt an eine geheime Einwirkung[292] der Geisterwelt zu denken; man schob das Tischdrehen bei geschlossener Kette der aufgelegten Hände nur nicht auf einen unwillkürlichen mechanischen Druck, sondern auf eine magnetische Kraft. Mein Onkel, der Baumeister Fischer, liess sich durch keine Überredung bewegen, einmal versuchsweise mitzuthun. Es sei absoluter Unsinn, sagte er, und keine vermeintliche eigene Erfahrung könnte diese Einsicht beseitigen. Dann kam das Tischklopfen als Mittel der Verständigung mit angerufenen Geistern, das Beschreiben einer untergehaltenen Tafel von unsichtbarer Hand, das spukhafte Spektakeln von allerhand sonst ganz harmlosen Gegenständen, das Lösen eines Bandes ohne Öffnung des Knotens etc. Die Medien spielten dabei eine grosse Rolle. Selbst ein Leipziger Universitätsprofessor bekannte öffentlich seinen Glauben an »vierdimensionale« Einflüsse, und es gab sehr verständige Leute, die es für nötig hielten, durch allerhand schlaue Vorkehrungen Medien zu entlarven, um sich und andern den Beweis zu führen, dass nur Taschenspielerei getrieben werde. Dann kamen hypnotische Wundererscheinungen an die Reihe, zuerst als solche dem Publikum vorgeführt, dann wissenschaftlich untersucht und systematisch dargestellt. Es ergab sich die Möglichkeit einer Einschläferung besonderer Art und der Beeinflussung des Willens eines Hypnotisierten durch Suggestion. Wie weit die Wirkung solcher Gedankenübertragung reicht und wo unter der Maske der Wissenschaftlichkeit der gefährlichste Schwindel einsetzt, muss ich dahingestellt sein lassen. Thatsächlich ist, dass der Hypnotismus schon in französischen Gerichtshöfen gespukt hat. Die Konsequenz ist ja auch in dem englischen Sensationsroman (und Schauspiel) »Trilby« ganz richtig gezogen, wenn einem ganz unmusikalischen Mädchen suggeriert wird, es habe eine wundervolle Stimme und diese nun wirklich alle Welt entzückt. Hier möchte ich nur an die Verbindung erinnern, die der Spiritismus mit dem Hypnotismus eingegangen ist, um[293] Offenbarungen aus einer andern Welt zu erhalten. Es giebt – man möchte es nicht glauben – in dem aufgeklärten Berlin spiritistische Vereine, die regelmässig ihre Sitzungen haben und sich im Geistercitieren üben. Am Ende des neunzehnten Jahrhunderts!

Warum auch nicht? Haben wir doch einige Teufelaustreibungen durch ganz ernsthafte Geistliche der christlichen Kirche erlebt. Die Fälle sind noch sehr jung.

Die Dinge zwischen Himmel und Erde, von denen sich unsere Schulweisheit nicht träumen lässt, spukten sogar in philosophische Systeme hinein. Übrigens ist man in der Philosophie über Schopenhauer und Hartmann doch wieder mehr und mehr auf den alten Kant zurückgekommen.

Die »Frauenfrage« hat in letzter Zeit die Gemüter stark erregt. Sie ist vom Ausland importiert, dann aber in Deutschland schon ganz heimisch geworden. Die Unnatur unserer bürgerlichen und ökonomischen Verhältnisse, die einen grossen Teil des männlichen und weiblichen Geschlechts zur Ehelosigkeit verurteilen, führt namentlich für das letztere Übelstände herbei, aus denen eine soziale Gefahr erwächst. Die thatsächliche und teilweise auch gesetzliche Ungleichheit der beiden Geschlechter im Staat gründet sich auf die Annahme, dass der Mann das Haupt der Familie, die Frau seine Gehilfin in der Hauswirtschaft und die Erzieherin der gemeinsamen Kinder ist. Fällt die Voraussetzung fort, so muss gerechterweise den unverheirateten Frauen dieselbe Möglichkeit selbständigen Erwerbes gegeben werden, wie den Männern; sie müssen auch alle die Rechte haben, welche zur Behauptung einer selbständigen Lebensstellung erforderlich sind. Die Frauen verlangen nun, dass da, wo die Frauenarbeit der Männerarbeit gleichwertig ist, auch die Arbeitslöhne ausgeglichen werden, und dass der Staat sie durch Gleichstellung der Schulen und anderen Vorbereitungsanstalten in den Stand setze, durchweg gleichwertige Arbeit leisten zu können. Sie fordern daher auch[294] weibliche Gymnasien und freie Mitbenutzung der Universitäten, sowie Zulassung zu den Staatsexamen und Freigabe jeder durch sie bedingten Berufsthätigkeit. Hier wird die Frage praktisch, ob nicht eine natürliche Ungleichheit, nicht der geistigen, sondern in erster Linie der körperlichen Eigenschaften, im allgemeinen Interesse für Staat und Kommune das Aufgebot von Mitteln verbieten, die nur in seltenen Ausnahmefällen den gewünschten Erfolg herbeiführen können, und wie weit der dem Gemeinwesen daraus erwachsende Nutzen, dass einige weibliche Ärzte, Oberlehrer (und vielleicht Advokaten) mehr thätig werden, als wenn der Erwerb der gelehrten Kenntnisse Privatsache bleibt, einen unverhaltnismässigen Aufwand rechtfertigt. Man kann der Meinung sein, dass Frauen zum Abiturientenexamen, zur Universität und zu den Staatsprüfungen zuzulassen seien, ohne doch weitere Konsequenzen ziehen zu wollen. Denn unsere ganze gegenwärtige Staats- und Gesellschaftsordnung ist so beschaffen, dass in den Ämtern überhaupt Frauendienste nur in sehr beschränkten Grenzen zur Verwendung kommen können. Die richtigen Frauenrechtlerinnen gehen freilich über diese Forderungen weit hinaus. Sie beanspruchen nicht nur auch für die verheirateten Frauen völlige Gleichstellung in der ehelichen Gemeinschaft, sondern auch gleiche politische Rechte für alle Frauen. Ihnen würde kaum der sozialdemokratische Zukunftsstaat genügen können, wie denn auch wirklich überall sozialdemokratische Tendenzen durchbrechen. Der in ihrem Grundmotiv sehr berechtigten Bewegung wird dadurch nicht genützt.

Büchners »Kraft und Stoff« trat für eine materialistische Weltanschauung ein und richtete in den Köpfen der Halbgebildeten viel Unheil an. Darwins Lehre von der Zuchtwahl, Anpassung und Vererbung wurde von vielen, die auch nicht eine Seite seiner Schriften gelesen hatten, in ihren angeblichen Schlusssätzen als unumstössliche wissenschaftliche Offenbarung aufgenommen und zur Zertrümmerung der sittlichen[295] Welt praktisch in Anwendung gebracht. Es ist bezeichnend, dass der grosse Forscher durch keinen Lehrsatz populärer geworden ist, als durch den von ihm niemals ausgesprochenen, dass der Mensch nämlich vom Affen abstamme. Stirner's »Der Einzige und sein Eigentum«, anfänglich wenig beachtet, stellte den Egoismus als leitendes Prinzip hin, und Nietzsche endlich unternahm eine Umwertung aller sittlichen Begriffe, unterschied eine Herren- und eine Heerden-Moral, begeisterte sich für den Übermenschen und stellte ihn jenseits von Gut und Böse. Auch ihm erging es übrigens ähnlich wie Darwin, dass man die neue Weisheit nicht aus ihm selbst holte, sondern mit Schlagworten operierte, die nur im Zusammenhang des ganzen Vortrages richtig verstanden werden konnten. –

Bei dieser Rückschau stosse ich auf viel Unerfreuliches. Aber ich möchte mich doch nicht in den Verdacht bringen, als grämlicher Laudator temporis acti gelten zu wollen. Wahrlich nicht! Der Fortschritt, den Deutschland in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts gemacht hat, ist ein in jeder Hinsicht so gewaltiger, dass man noch immer die stolze Freude aussprechen kann, in dieser Zeit des mächtigen Werdens gelebt zu haben, auch wenn sich das Bedauern über den Verlust von Gütern einmischt, die einst besonders wertvoll erschienen, oder die Unzufriedenheit über den Gang der Entwickelung von einem Standpunkt aus, der immer nur subjektiv berechtigt sein kann. Ich weiss wohl, dass wir Deutschen uns allerhand häusliche Tugenden beigelegt hatten, die uns gewissermassen für den Mangel des politischen Einflusses und Ansehens entschädigen sollten, und dass Kriege, wie die von 1866 und 1870 nicht geführt werden konnten, ohne mit einer Veränderung unserer Weltstellung auch vielfach eine Umgestaltung unserer bürgerlichen Lebenshaltung und Lebensanschauung zu bedingen. Deutschland ist aus einem geographischen Begriff ein Reich, aus einem kläglichen Staatenbund mit doppelter Spitze ein mächtiger Bundesstaat[296] mit einem kaiserlichen Oberhaupt geworden. Die deutsche Flagge ist geachtet auf allen Meeren, Handel und Industrie haben einen wahrhaft riesigen Aufschwung genommen; der Wohlstand ist so gewachsen, dass man schon zurückgehen muss bis zu den Zeiten vor dem dreissigjährigen Kriege, um Deutschland in annähernd ähnlicher wirtschaftlicher Lage zu finden, und auch der Ärmste hat teilgenommen an den Segnungen des leichteren Verkehrs und der technischen Errungenschaften. Wer die Eisenbahnkarten von 1850 und von heute vergleicht, muss erstaunt sein über das, was in einem halben Jahrhundert geschaffen ist und dem Bedürfnis entsprechend geschaffen werden konnte. Das Telegraphennetz zieht sich immer dichter über die ganze Erde und die Ozeane gebieten ihm nicht mehr Halt; das Telephon ermöglicht die Unterhaltung zwischen Menschen, die viele Meilen weit von einander getrennt sind. Durch die Maschine sind Arbeitsleistungen gewöhnlich geworden, die niemand damals auch nur ahnte. Der Dampf ist die treibende Kraft und eine anscheinend noch gewaltigere ist kürzlich in der Elektrizität wirksam gemacht. Durch Kraftübertragung wird jeder Handwerker in seiner Werkstätte mit dem Mittel ausgestattet, körperliche Anstrengung zu mindern und weit zu überbieten. Die Erde hat das Petroleum hergegeben. Das Gaslicht, jetzt das elektrische Licht erhellt unsere Strassen, öffentlichen Gebäude und Wohnungen an Stelle der früheren Kerzen und Öllampen. Die Chemie schafft Lösungen und Verbindungen, die ganz neue Nutzanwendungen der Natur gestatten. Wir stellen die stofflichen Elemente der fernsten Himmelskörper fest; die Photographie weist das Vorhandensein von Welten nach, die kein Fernrohr entdeckte. Die Chirurgie und die Augenheilkunde erfreuten sich der erstaunlichsten Erfolge zum Wohl der leidenden Menschheit, die winzigen Krankheitserreger wurden aufgefunden und bekämpft, die Röntgenstrahlen leuchteten bis in das Innere der Körper. Noch nie vorher war die kurze Zeitspanne[297] eines halben Jahrhunderts für irgend ein Volk der Erde so reich an geschichtlichen, wissenschaftlichen, industriellen und technischen Fortschritten gewesen. Es lässt sich nur die Zeit der grossen Entdeckungen durch die spanischen und portugisischen Seefahrer in Vergleich ziehen. Und ich bin weit eher Optimist, als Pessimist: ich halte das deutsche Volk im Ganzen für gesund und zweifle nicht, dass es alle die Krankheitskeime ausstossen wird, die jetzt bedrohlich erscheinen mögen. Ich glaube an den deutschen Geist, an die deutsche Kraft, an das deutsche Gemüt. –


* * *


So nun an das Ende meines Lebensausweises gelangt, muss ich zu entschuldigen bitten, dass in demselben so viel, fast ausschliesslich, von mir selbst gesprochen ist. Aber ich habe eben nicht viel mehr erlebt, als mich selbst, und wenig Gelegenheit gehabt, in engere Beziehung zu Personen zu treten, über die etwas auszusagen ich mich berufen fühlen könnte. Mit vielen, vielleicht den meisten ungefähr gleichalterigen Berufsgenossen von der Feder bin ich in Berührung gekommen, jedoch meist nur in flüchtige, und wo eine stark persönliche Einwirkung fühlbar gewesen, handelt es sich um die intimsten Beziehungen zu Lebenden, über die ebenso, wie über das Verhältnis zu nahen Hausgenossen, auch wenn es da nichts zu verhüllen giebt, eine Äusserung nicht erlaubt scheint.

Das »Erkenne dich selbst« ist eine schwere Aufgabe. Eine noch schwerere, über sich selbst zu sprechen oder auch nur von sich zu erzählen. Man möchte ganz objektiv anschauen, urteilen und darstellen, aber aus seiner Haut kann niemand. Die Neigung, sich ernst zu nehmen, ist erklärlich, aber der Wunsch, das Spiegelbild möchte nicht geschmeichelt erscheinen, verführt oft gerade den Ehrlichsten[298] dazu, sich ein schiefes Gesicht zu ziehen. Und ein schiefes Gesicht blickt auch aus dem Spiegel, wenn man sich humoristisch nimmt. Porträtähnlichkeit wird dann freilich nicht verlangt. Sie fehlt aber auch wirklich.

Schliesslich .... ist denn nicht jede Darstellung auch von den Dingen ausser uns und von dem, was man Thatsachen nennt, subjektiv? Über den aufrichtigen Willen, die Wahrheit zu sagen, kommt niemand hin aus.

Quelle:
Wichert, Ernst: Richter und Dichter. Ein Lebensausweis, Berlin und Leipzig 1899, S. 269-299.
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