III.

Universität.

[52] Ich habe drei Jahre in Königsberg studiert. Leider nur in Königsberg! Mein Vater erhielt bald das dortige Kreisgericht, so dass ich in seinem Hause Wohnung und Kost haben konnte. Er war ausser stande, mich auswärts zu unterhalten. Für meine sonstigen Bedürfnisse schaffte ich mir das erforderliche durch Stundengeben, was mir an einem anderen Orte auch schwer möglich gewesen wäre. Auf den Gedanken, Schulden zu machen, um eine fremde Universität beziehen zu können, kam ich nicht einmal, was mir später oft leid gethan hat; es hätte sich aber auch schwerlich ein vertrausamer Wohlthäter gefunden. Und doch handelte es sich nur um drei- bis vierhundert Thaler fürs Jahr! Damit konnte man damals »im Reich« auskommen, während in Königsberg ein Jahreswechsel von zweihundert Thalern schon eine ganz behäbige Existenz schaffte. Auf soviel wurde ich, als ich in eine Verbindung eintrat, alles in allem eingeschätzt.

Diese Verbindung hiess »die Palmburg« nach einem kleinen Orte in der Nähe Königsbergs, in dem sie ganz kürzlich hauptsächlich von den früheren Kneiphöfern gestiftet war. Sie hatte burschenschaftlichen Charakter, wennschon ohne politischen Grundzug, und trug die Farben rot-gold-weiss. Sie wurde ebenso von den Korps wie von[53] den Landsmannschaften scharf angegriffen, wusste sich aber durch eine nicht gewöhnliche Zahl intelligenter Köpfe Achtung zu verschaffen und wurde ohne äussere Nötigung schon nach drei Jahren von uns wieder aufgehoben, da uns der Nachwuchs nicht mehr genügte. Fast alle ihre Mitglieder haben es im Leben zu etwas gebracht, sei es in hohen amtlichen Stellungen, sei es in wissenschaftlichen Würden.1 Einen einzigen Theologen hatten wir unter uns; er wendete sich aber früh einem bürgerlichen Gewerbe zu und hat nie die Kanzel bestiegen. Es war eine frohe Zeit, die wir mitsammen im traulichsten Verkehr verlebten, und die Sommerfahrten zu den Stiftungsfesten – einmal nach der Klosterruine Kadinen am Frischen Haff – werden allen Beteiligten in wärmster Erinnerung geblieben sein.

Ich beabsichtigte, Geschichte zu studieren, wozu mich die Neigung stark trieb, gab diesen Plan aber bald auf, vornehmlich weil es für dieses Fach in Königsberg an bedeutenden Lehrkräften fehlte und die unglaublich trockene Behandlung des Gegenstandes mich abschreckte, und liess mich nach einem halben Jahre in die juristische Fakultät einschreiben. Besonders anregende Lehrer gab es auch hier nicht (Eduard Simson war seiner parlamentarischen Thätigkeit wegen meist auswärts), die Kollegia wurden deshalb sehr unregelmässig besucht, die Hefte selten ordentlich nachgetragen. Es blieb mir sehr viel freie Zeit nicht nur zu Vergnügungen, sondern auch zum Besuch anderer Kollegien,[54] die mich interessierten (so der von Karl Rosenkranz über Ästhetik, von August Hagen über Kunstgeschichte und von Ludwig Friedländer, der damals erst zu dozieren anfing, über römische Altertümer), zur Vervollständigung meiner Literaturkenntnis und zu eignen dichterischen Versuchen. Ich schrieb ein fünfaktiges Drama »Johannes Huss«, das ich schon auf der Schule geplant hatte, als ich, wohl angeregt durch meine Beziehungen zur Ruppschen freien Gemeinde, nach einem Helden ausschaute, der für die Freiheit seiner religiösen Überzeugung stritt und litt und sich zudem dramatisch verwerten liesse. Ich hatte im ersten Halbjahr ein Kolleg bei dem alten Professor Drumann, dem berühmten Verfasser der Diadochengeschichte, angenommen und allerdings wenig Freude daran, da er lediglich sein Heft diktierte. Nun fasste ich mir ein Herz, trat an ihn heran und bat ihn, mir Quellenwerke über Johann Huss zu nennen, die ich von der Königlichen Bibliothek beziehen könnte. Über Johann Huss – das schien ihm gar kein recht fassliches Thema für die Arbeit eines jungen Studenten zu sein. Recht verdriesslich und immer verdriesslicher, da ich nicht mit der Sprache herauswollte, fragte er mich wie ein richtiger Professor aus, welchen historischen Abschnitt ich denn eigentlich in Betracht ziehen und in welcher Richtung ich mit meiner Forschung vorgehen wollte. Ich betonte immer seine Lebensgeschichte, und er begriff nicht, was die mich sonderlich angehen könne. Es blieb mir endlich nichts übrig, als ihm zu sagen, dass ich ein Drama schreiben wolle. Den Blick äusserster Geringschätzung, mit dem er mich nun mass, werde ich nie vergessen. Er schien zu überlegen, ob er mich überhaupt noch einer Antwort würdigen solle. Dann warf er mir ein paar Büchertitel hin, und ich machte mich eiligst davon. Diese Begegnung mit Drumann wirkte jedenfalls mit, meine Begeisterung für das Studium der Geschichte erkalten zu lassen.

Die Vorarbeiten zu meinem Drama betrieb ich aber mit allem Eifer. Bald war auch das Szenarium entworfen und[55] der erste Akt geschrieben, der sich aus dem geschichtlichen Stoff ziemlich von selbst ergab. Huss, der die Kirche angegriffen hatte, wurde zur Verantwortung nach Konstanz berufen; seine Anhänger warnten ihn, sich von dem heimischen Boden, seinem festesten Halt, zu trennen; er sprach es als seine Pflicht aus, ohne Menschenfurcht die Wahrheit bekennen zu müssen; ein tapferer Ritter versicherte ihn seines Schutzes; sein treuer Schüler, Hieronymus von Prag, entschloss sich ihn zu begleiten, das Schicksal des teueren Lehrers vorahnend. Nun aber, in Konstanz selbst, häuften sich rasch die Schwierigkeiten. Der dogmatische Streit erwies sich als unbrauchbar, der Kampf gegen die kirchlichen Missbräuche als nicht viel verwendbarer. Das weibliche Element war allzu spärlich vertreten, die Fabel, die erst das Drama ergeben konnte, fehlte. So reihten sich wohl Szenen aneinander, sie enthielten aber im wesentlichen nur kulturhistorische Bilder, die Charakteristik einzelner Gruppen des Konzils, und führten keinen rechten Fortschritt der Handlung herbei. Die Arbeit kam ins Stocken. Auch ein historisches Drama muss erfunden werden. Ich suchte eine Fabel einzufügen, konnte aber im wesentlichen nur Hieronymus von Prag zum Träger derselben machen. Ich merkte deshalb auch bald, dass das eigentliche Interesse auf ihn überging, gerade weil seine Standhaftigkeit ins Schwanken kam, die menschliche Schwäche ihn übermannte. So gehörte ihm denn auch der letzte Akt, was den Schwerpunkt vollends verschob. Diese Bedenken stellte ich mir schon damals entgegen, und sie wirkten oft so stark, dass ich die Arbeit von Zeit zu Zeit immer wieder liegen liess. Endlich wurde sie aber doch fertig gebracht. Mein Vater nahm ungewöhnlichen Anteil daran, nur fand er in der Form viel zu tadeln. Der Dialog war zu breit geraten, der fünffüssige Jambus an manchen Stellen holperig, der Ausdruck oft unkorrekt, der Gedanke nicht zur Klarheit gebracht. Er gab sich nun die unendliche Mühe, Zeile nach Zeile mit mir durchzugehen. Oft bis[56] in die späte Nacht brüteten wir über dem Manuskript, die Unebenheiten zu beseitigen und die Form auszuglätten. Ich bin ihm noch heut dankbar dafür, denn ich lernte durch ihn, was es heisst, ein Gedicht auszufeilen. Seitdem habe ich meine ersten Niederschriften stets mit grossem Misstrauen behandelt, jede dramatische Arbeit vier- und fünfmal umgeformt.

Mein Vater liess das Stück darauf schön abschreiben. Ich sah mich zum erstenmal, wenn auch nicht im Druck, so doch in einer Kopie von fremder Hand. Meine Absicht war, dasselbe einem Verleger anzubieten, aber es fehlte mir immer der Mut. Eine Zurückweisung wäre mir sehr unangenehm gewesen; sie hätte mir, wie ich damals darüber dachte, den Beweis geführt, dass mein Drama nichts taugte. In meinem Innersten freilich war ich, trotz aller darauf verwendeten Mühe, weit mehr geneigt, an meinem Werke zu zweifeln, als mir von ihm Erfolg zu versprechen; dieser Zustand des Zweifelns schien aber noch immer erträglicher als die unabweisliche Einsicht der Selbsttäuschung. An eine Bühne wagte ich schon garnicht zu denken, nicht einmal an die in meiner Vaterstadt. So blieb das Stück liegen. Das Manuskript habe ich später einmal, ich weiss nicht an wen, verliehen und nicht wiederbekommen.

Vom Oktober 1851 bis dahin 1852 genügte ich meiner Militärpflicht. Was ich von diesem Dienst zu erzählen habe, wird der heutigen Generation sehr sonderbar erscheinen müssen. Es darf nicht vergessen werden, dass wir damals noch die alte Friedensarmee hatten, mit der erst König Wilhelm aufräumte. Ich trat bei der Artillerie ein, weil man da, wie es hiess, als einjähriger Freiwilliger »anständiger behandelt« wurde. Den Offizieren schrieb man grössere Bildung und freiere Lebensanschauung zu. Meine ganze Ausrüstung an Kleidern und Waffenstücken kaufte ich von einem Kommilitonen, der eben sein Jahr abgedient hatte, für wenig mehr als dreissig Thaler; dazu liess ich mir in[57] der Schneiderwerkstätte noch einen neuen Kommissanzug für weniges Geld anfertigen. Meine besonderen Ausgaben für den Militärdienst haben das ganze Jahr über noch keine hundert Thaler betragen. Sobald ich vom Exerzieren kam, zog ich den blauen Rock aus und die Pikesche an; ich blieb Student, ausser den meist nicht allzu zahlreichen Stunden des Tages, in denen ich mich in den Artilleristen verwandelte. Dass jemand sich einen sogenannten Extraanzug anschaffte und gar in solchem Gesellschaften besuchte, war etwas ganz Ungewöhnliches, mir überhaupt nicht Erinnerliches.

Wir waren in diesem Jahre dreissig Freiwillige bei der Fussartillerie, wurden erst zusammen sechs Wochen lang einexerziert, dann in die Batterien verteilt; die Instruktionsstunden aber blieben gemeinsam. Unser Instrukteur war ein älterer Sekondeleutnant, der den Spitznamen »Silberblick« erhalten hatte. Er spielte sich gern als strammen Soldaten auf, war aber viel zu gutmütig, um die Disziplin sonderlich strenge zu nehmen, strafte nie und ging immer darauf aus, uns »beim Ehrgefühl zu fassen«. Er hörte sich gern reden und sprach in gewählten Ausdrücken, öfters etwas pathetisch. Er wurde in jenem Jahr Premier und kündigte uns dieses Ereignis hoch vom Pferde herab an, als er uns eines Tages nach dem Schiessplatze hinausführte. Dabei liess er nicht unerwähnt, dass er nun schon neunzehn Jahre Militär sei. Ein gutes Avancement! Sein Pferd hatte die Gewohnheit, über eine gewisse Brücke nicht gehen zu wollen. Wir mussten dann hinter ihm unsere Faschinenmesser kräftig in die Scheiden stossen, um einen »kriegerischen Lärm« zu erregen, der seine Wirkung nicht verfehlte. Silberblick hat es übrigens später doch bis zum Major gebracht.

Einmal wollte ich mir einen Urlaub von ihm erbitten und besuchte ihn zu diesem Zwecke in seiner Wohnung – im Schnurrock und die Farbenmütze in der Hand. Er empfing mich ganz freundlich, nötigte mich zum Sitzen und unterhielt sich mit mir eine Weile wie eben mit einem[58] Studenten. Erst am anderen Tage, als ich im Soldatenrock steckte, rief er mich heran und hielt mir »dienstlich« unter vier Augen vor, dass ich ein militärisches Versehen begangen hätte. Es geschah das aber ganz freundschaftlich mit einer kleinen Vorlesung über militärische Erziehung und ihre Bedeutung fürs ganze Leben.

Nach sechs Monaten wurden die tüchtigeren von uns »Bombardier«, eine Vorstufe zum Unteroffizier. Wir trugen in dieser Charge Tressen an den Ärmelaufschlägen und eine schwarzweisse Troddel am Faschinenmesser. Wir verrichteten nun auch den Dienst der Bombardiere, der sich jedoch am Geschütz von dem der Gemeinen nicht wesentlich unterschied. Am Schlusse des Jahres wurden wir zu Unteroffizieren ernannt und hatten als solche ein paar Jahre später eine vierzehntägige Landwehrübung mitzumachen, worauf unsere Wahl zum Offizier erfolgen konnte. Der junge Offizier der Landwehr übte ein paarmal vier Wochen lang.

Jeder Freiwillige hatte, wenn ich nicht irre, sechs Wachen zu leisten. Die erste war allemal sehr lustig. Hatte sie ein Student, so war gewöhnlich nachts über die ganze Couleur zum Besuch; es wurden Bowlen gebraut und Lieder gesungen, wie auf der Stammkneipe, obgleich das Wachtlokal mitten in der Stadt, wenn auch nicht in besuchter Gegend, lag. Wir hatten vor dem Hause des Obersten, nur ein paar Strassen weiter, Posten zu stehen. Wer an die Reihe kam, erhielt ein Fläschchen Grog zur Stärkung mit. In einer kalten Winternacht ging es besonders toll zu. Zwei Studenten, die nie gedient hatten, wurden in die Wachtmäntel gesteckt, und der eine führte den andern auf. Er stand wirklich seine zwei Stunden ab, ohne dass glücklicherweise etwas passierte, und hat sich dieses »Studentenstreichs« noch oft als Wirklicher Geheimer Oberregierungsrat lachend erinnert. Ich glaube, die Wache wurde in solchen Nächten absichtlich nicht revidiert; sonst wärs doch schwer begreiflich,[59] dass der wachthabende Unteroffizier, der freilich mitkneipte, dergleichen Unfug zuliess. Wir Einjährige hatten aber auch keineswegs das Bewusstsein, etwas besonders Strafwürdiges zu thun. Wenn es herauskäme, meinten wir, würde es nicht vergessen werden, dass wir Studenten seien. Dass der Lärm nicht unbemerkt geblieben war, erkannten wir daraus, dass unser Leutnant, nachdem jeder seine erste Wache gethan hatte, uns eine Rede hielt und ermahnte, uns künftig stiller zu verhalten und nun auch »des Ernstes des Lebens eingedenk zu sein.«

Es wurde auch im Reiten Unterricht ertheilt, doch brachte man's dabei zu keinem festen Sitz. Am Schluss des Jahres hatten wir ein schriftliches und praktisches Offiziersexamen zu bestehen. Zu letzterem gehörte auch, dass wir auf ein Pferd gesetzt wurden und die Aufgabe erhielten, als Zugführer mit zwei bespannten Geschützen gewisse Evolutionen auszuführen. Ich erinnere mich, dass mir dabei himmelangst wurde; ich hatte die grösste Anstrengung nötig, mich auf dem Gaul zu halten, und dabei bohrte sich fortwährend das als Säbel gezogene Faschinenmesser in die Achselhöhle ein. Sobald das Marschkommando gegeben war, rasselten die beiden Geschütze hinter mir her, und ich weiss nicht, ob ich noch irgend ein Wort herausbrachte, das Halten und Abprotzen zu befehlen. Zum Glück wussten die Unteroffiziere und Fahrer besser Bescheid und thaten von selbst, was zu thun war, sodass ich gut bestand. Erst viele Jahre später bei einer fünfmonatlichen Mobilmachung erlangte ich im Reiten und Kommandieren die erforderliche Sicherheit.

Übrigens bot mir das Dienstjahr manchen interessanten Einblick in militärische Verhältnisse. Mit den Gemeinen zusammen standen wir in Reih und Glied; wir hörten ihre Gespräche bei den Märschen nach dem Schiessplatz, lernten ihre Soldatenlieder mitsingen. Hatten wir auch mit den Unteroffizieren keinen eigentlichen Umgang, so würden sie es doch als eine Beleidigung angesehen haben, wenn wir Bombardiere[60] uns von ihnen ferngehalten hätten. So lernte ich die künftigen Gerichtsboten, Exekutoren, Postschaffner, Steuererheber, Gendarmen und kleinen Magistratsbeamten kennen.

Unter den Offizieren, namentlich der Festungsartillerie, waren noch einige wunderliche Exemplare der alten Art, wie uniformierte Schullehrer aussehend, ohne militärische Haltung, den damals noch sehr hohen Helm im Genick, die Halsbinde lose, Rock und Hose zu weit, den Säbel fortwährend zwischen den Beinen, die Epaulettes von den abschüssigen Schultern nach der Brust hin verrutscht; übrigens sehr brave und meist kenntnisreiche Leute. Sie legten besonderes Gewicht darauf, keine »Paradesoldaten« zu sein. Ich habe aus der Erinnerung heraus so einen in meinem Einakter »An der Majorsecke« zu gestalten versucht; als aber das Stückchen erschien, fehlten schon zu sehr die Modelle. Weitaus die meisten Offiziere dieser Waffe waren bürgerlich, die wenigen vom Adel spielten keine hervorragende Rolle. Die jüngere Generation empfand es aber schon mit Verdruss, dass die Artillerieoffiziere von den Kameraden der Infanterie und Kavallerie nicht ganz für voll angesehen wurden, und drängten zur reitenden Artillerie, die einen etwas besseren Stand hatte. »Wer bei der Festungsartillerie eingestellt wurde, hielt sich für zurückgesetzt. Es herrschte im ganzen ein ungezwungener Ton, den Gemeinen gegenüber viel Wohlwollen. Von roher Behandlung der Soldaten, auch durch die Unteroffiziere, war wenig zu bemerken. Natürlich fehlte es an den üblichen Koseworten auch hier nicht. Wurde aber auch einmal einer Schlafmütze der Helm unsanft zurechtgesetzt oder das Kinn aufgerichtet, so hatte das keinen bösartigen Charakter und wurde auch nicht übelgenommen.

Mein letztes Universitätsjahr wendete ich hauptsächlich dazu an, mich aus Büchern zum Examen vorzubereiten. Für römisches Recht galt zu diesem Zweck das Lehrbuch von Mackeldey für ausreichend, für deutsches Recht das von Eichhorn. Doch wurden auch die Puchtaschen Pandekten[61] durchgenommen, sowie Werke über Staats-, Lehn- und Kirchenrecht, Rechtsgeschichte und Prozess. Eine wissenschaftliche Grundlage konnte hierdurch nicht gewonnen werden. Unsere Examinatoren für das erste (Auskultator-) Examen waren nicht Universitätslehrer, sondern allein Räte des Oberlandesgerichts, darunter befanden sich Herren, die in dem Ruf standen, sich auffällig an ihren Fragebogen zu klammern. Übrigens hatte ich schon während des Studiums an meinem Vater eine sehr dankenswerte Stütze, wenn es darauf ankam, mir irgend ein Rechtsinstitut, auch aus entlegenster Zeit, vorstellbar, also in praktischer Thätigkeit denkbar zu machen, indem er mir die fremden Formen in die jetzt gebräuchlichen umsetzte. Auch mein Onkel, der Justizrat Marenski, ein sehr beliebter und vielbeschäftigter Anwalt, war ein tüchtiger Jurist und feiner Kopf. Die Schwäger konnten an Sonntagen nicht leicht zusammenkommen, ohne dass über interessante Rechtsfälle aus der Praxis verhandelt und disputiert wurde. Ich hörte allemal gern zu, mit wachsendem Verständnis. Es war da gleichsam ein juristisches Fluidum um mich gebreitet, in dem ich atmete und für den praktischen Beruf heranreifte, ohne dass ich genötigt war, meine Gedanken von den Dingen abzuwenden, die mir näher am Herzen lagen.

Dazu gehörte, von der dichterischen Produktion abgesehen, die Beschäftigung mit Geschichte und Literatur. Ich erinnere mich nicht, wie ich in das Haus des russischen Generalkonsuls v. Adelson empfohlen war, das zu einem der ersten in Königsberg gehörte. Die sehr kluge und kenntnisreiche, dabei gesellschaftlich feingebildete Frau liess ihren Töchtern Privatunterricht erteilen. Ich übernahm ihn zunächst bei den beiden jüngsten und dann auch, beschränkt auf neuere Geschichte und Literatur, bei den beiden älteren Fräulein, schon erwachsenen Mädchen. Natürlich hatte ich hier, um lehren zu können, selbst erst noch fleissig zu lernen, und dieser Zwang war für mich sehr wohlthätig. Für die[62] Literaturgeschichte aus der Zeit nach Schiller und Goethe (wo ich anzufangen hatte!) fand ich wenig brauchbare Hilfsmittel vor; ich war genötigt, mir alle die neueren Autoren, die einen Namen hatten, selbst anzusehen, namentlich auch die noch lebenden oder jetzt erst lebendig werdenden aus ihren Werken heraus zu Persönlichkeiten zu gestalten und einzureihen. Wahrscheinlich vorteilte ich davon mehr, als meine Schülerinnen; doch muss ich wohl verstanden haben, die sehr lebhaften und kritischen jungen Damen zu fesseln. Auch die Übung im mündlichen Vortrage schätzte ich nicht gering. Den »Vorlesungen« wohnte gewöhnlich eine ältere, etwas verwachsene, aber ungemein liebenswürdige Französin bei, die schon seit vielen Jahren Erzieherin im Hause war und nun auch mir in sanftester Weise etwas mehr gesellschaftliche Politur zu geben suchte, was ich dankbar aufnahm. An den Sonntagen im Winter öffnete sich der Salon allen im Hause Vorgestellten ohne besondere Einladung. Man konversierte, musizierte und ass an kleinen Tischen, wie man sich zu einem engeren Kreise zusammengefunden hatte. Es gab in Königsberg kein zweites Haus, in welchem ein so freier und geistig anregender Verkehr möglich war. Im Sommer bewohnte die Familie eine hübsche Villa »auf den Hufen« vor dem Steindammer Thor; auch dort bin ich häufig Gast gewesen.

Die Provinz Preussen lag damals noch ziemlich isoliert von dem Hauptkörper der Monarchie und gar von deren westlichen Bestandteilen. Sie hatte unter dem Deutschen Orden und später unter polnischer Oberhoheit bis tief in das XVII. Jahrhundert hinein ihre eigne, sehr interessante Geschichte gehabt, an welche noch viele Baudenkmäler erinnerten, besass in den Litauern, Masuren und Polen beachtenswerte Reste der ursprünglichen Bevölkerung und zeigte in mancherlei sozialen Einrichtungen und Gewohnheiten eine unverkennbare Ähnlichkeit mit den benachbarten russischen Ostseeländern. Die Söhne der reichen Kur-und[63] Livländer studierten jedoch nicht mehr, wie ehemals, in Königsberg. Auch diese Stadt hatte in ihrem äusseren Ansehen noch vieles, was an eine viel frühere Zeit erinnerte, als sie sich noch aus drei Städten mit selbständigen Magistraten und ihren Vorstädten und Freiheiten zusammensetzte. Es wurden überall noch Überbleibsel der alten Mauern, Türme und öffentlichen Gebäude sichtbar. Teile des hochgelegenen Schlosses wiesen auf das XIII. Jahrhundert zurück. Auch die Universität befand sich noch ungefähr in der Beschaffenheit, die ihr der Stifter, Herzog Albrecht von Brandenburg, gegeben hatte. Die grauen Häuser hinter dem alten, langgestreckten Dom mit ihren kleinscheibigen Fenstern, durch welche die niedrigen Hörsäle ihr nicht allzu reichliches Licht erhielten, und mit den Steinwappen über den Thüren machten aber doch einen anheimelnden Eindruck. Die an den Dom gebaute Stoa Kantiana, allerdings durch ein Gitter abgesperrt und auch für die Professoren nicht im Gebrauch, enthielt die Grabstelle des Philosophen, der vor fünfzig Jahren starb, der ganzen Welt eine Leuchte gewesen war und nicht aufhörte, sie mit seinem Ruhm zu erfüllen. Hiess doch von ihm her Königsberg »die Stadt der reinen Vernunft«, welchen Namen sie sich durch ihre politische und religiöse Freigeistigkeit zu erhalten suchte. Weiter hinaus erinnerte die Kneiphöfische Langgasse mit dem »Grünen Thor« und der über dem Pregel erbauten Börse an Danzig. In den schmalen Häusern der Magisterstrasse und der Altstädtischen Wassergasse wohnten die Studenten, gewöhnlich zwei zusammen in einem Zimmer, das für vier bis fünf Thaler monatlich zu mieten war. Hier in der Nähe hatten die Verbindungen auch ihre Fechtböden, wie übrigens auch die Handwerker ihre Gesellenherbergen, durch uralte Schilder mit allerhand Bildwerken und Sprüchen kenntlich. Königsberg, obgleich eine ansehnliche Handelsstadt und von einer zahlreichen Beamtenschaft bewohnt, war doch nicht so gross, dass sich der Student in ihr verlor. Ganz im Gegenteil[64] spielte er immer noch eine Rolle. Jeden Winter wurden »im Junkerhof« von der vereinigten Studentenschaft mehrere Bälle gegeben, die von der besten Gesellschaft besucht waren, und zu denen die Spitzen der Behörden von den in offenen Kutschen vorfahrenden Entrepreneuren in studentischem Wichs eingeladen wurden. Es galt den jungen Damen als eine besondere Ehre, diese Bälle zu eröffnen. Am Schluss stellten sich im Ballsaal die Chargierten in einen Kreis und sangen das Gaudeamus igitur unter Zusammenschlagen der Schläger. Auch waren studentische Aufzüge in Equipagen, die von den Besitzern gern hergeliehen wurden, mit Vorreitern an der Spitze, nicht selten. Alle Studenten, nicht nur die in derselben Verbindung, duzten sich; der silberne Albertus an der Mütze war das Erkennungszeichen.

An alledem hat sich bald darauf schon viel geändert. Die Eisenbahn, welche Königsberg mit Berlin verbinden sollte, war bereits im Bau begriffen, die Festungswerke wuchsen rund um die Stadt, ein prächtiges Universitätsgebäude, zu welchem der Grundstein 1844 von König Friedrich Wilhelm IV. gelegt war, erstand auf dem früheren Königsgarten, während für ein neues Kneiphöfisches Gymnasium der Platz auf dem alten Universitätshofe freigelegt wurde, die Zahl der Studenten verdoppelte sich, aber die frühere Einmütigkeit war hin. Mit steigendem Wohlstand der Provinz wurde auch viel auswärts studiert und das nur sich selbst nicht lächerliche närrische Unwesen von dort eingeführt. Ich freue mich, das alte herzhafte Studentenleben noch kennen gelernt zu haben.

Von der Stadt Königsberg, wie sie einst war, hatte ich noch genug gesehen, um sie lange Zeit später in meinem Roman »Der Grosse Kurfürst in Preussen« anschaulich schildern zu können.

Fußnoten

1 In der Verbindung waren (unter Anderen, mit denen ich über die Studentenzeit hinaus in Beziehung nicht geblieben bin), Amtsgerichtsrat Bartisius, Professor Dr. Heinrich Bohn, Reichsgerichtsrat Calame, Justizrat Robert Ellendt, Ministerpräsident Graf Botho zu Eulenburg, Oberrealschuldirektor Friedländer, Rittergutsbesitzer Heinrich v. Groddeck, Geh. Rat Professor Dr. Heydenreich, Griechischer Gesandter Graf Keyserling, Oberlandsgerichtspräsident Korsch, Rittergutsbesitzer Richard v. Lenski, Dr. Hans Matern, Oberlandesgerichtsrat Professor Dr. Medem, Gymnasialdirektor Dr. Müller, Landrath Erhard v. Queis, Forstrat Reichert, Schriftsteller Dr. Hugo Senftleben, Wirk. Geh. Oberregierungsrat Dr. Singelmann, Landgerichtsrat Steiner, Oberlandesgerichtspräsident Werner, viele davon bereits verstorben.


Quelle:
Wichert, Ernst: Richter und Dichter. Ein Lebensausweis, Berlin und Leipzig 1899, S. 65.
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