X. Berlin
Seit Ostern 1897

[243] Wenn ich die gesunde und behagliche Existenz in Göttingen aufgeben sollte, so wollte ich wenigstens im Freien wohnen und meinen Kindern das Leben in frischer Luft unter Bäumen erhalten. Es gelang, in Westend ein Grundstück mit Garten zu erwerben, auf dem aus dem alten Waldbestande noch eine Kiefer steht, deren Dryas an Stelle der freilich schöneren Göttinger Fichte den Schutz des Hauses übernahm. Der Hausbau begann während wir noch in Göttingen wohnten, zwang aber, das erste Semester in einer unbehaglichen Stadtwohnung zuzubringen, was die trübe Stimmung verstärkte. Westend aber hat die Erwartungen voll erfüllt. Es waren damals kaum fünf Minuten bis zum Walde, Sonntagsspaziergänge der ganzen Familie bis an die Havel oder den Tegeler See ließen sich gut durchführen. Ich lernte Radfahren, fuhr damit auch einige Jahre in die Universität, bis es der steigende Verkehr verbot, aber es sollte auch mir Erfrischung und Bewegung im Grunewald gewähren, den ich bald bis an den Wannsee als mein Revier betrachtete, in dem ich alle Waldwege kannte. Men schen begegnete man da kaum, um so öfter dem Damwild und den Rehen. Auf schmalen Pfaden mußte man klingeln, damit ein äsender Damhirsch Platz machte. Auch in der Jungfernheide, wo jetzt die Siemensstadt sich ausdehnt, war noch Wald. Über die Spree führte nur der Kahn eines oft betrunkenen und verschlafenen Fergen; in solchen Fällen war der Verkehr nur auf weitem Umwege über den Luisenplatz und den Bahnhof Jungfernheide möglich. Die ganze Anhöhe über der Quelle (nun Bahnstation) Fürstenbrunn, jetzt bedeckt von üppigen Schrebergärten, lag wüst; hie und da wuchsen ein paar Katzenpfötchen; benutzt ward sie nur zum Pferdemarkt. Rings um Altwestend hat sich in einem Menschenalter alles geändert, aber dieses hat seinen ländlichen Charakter im wesentlichen bewahrt: an die Riesenstadt gemahnt nachts nur am Osthimmel ein dunstiger Lichtschein, und die Stille wird nur ab und zu von dem Gerassel eines Autos gestört. Kuhgebrüll bei Tage ist nur Stadtkindern eine Störung. Solange die gute Stadtverwaltung Charlottenburgs nicht unter das Mißregiment des Berliner Stadtparlamentes gezwungen war, durfte man sich auch nach der Seite der Verwaltung etwas auf den Gegensatz zu Berlin zugute tun.[244]

Dies Wohnen in einem Vorort zuerst ohne benachbarte Kollegen, dann nur mit Roethe, der ähnlich dachte und ähnlich lebte, erzwang von selbst ein zurückgezogenes Leben, zu dem ich entschlossen war, um die wissenschaftliche Arbeit nicht preiszugeben. Von Mommsens Hause war die Entfernung nicht zu groß, so daß meine Frau den Verkehr mit den Ihren und noch einer weiteren Verwandtschaft pflegen konnte, Mommsen sich der Feier seines achtzigsten Geburtstages entzog und dafür die Glückwünsche seiner Enkel in Empfang nahm. Er war nun vom Sekretariat der Akademie zurückgetreten, vollendete eben erst sein Strafrecht und wollte noch seinen Willen in vielen Dingen durchsetzen, über anderes seine absprechenden Urteile abgeben. Er war gewohnt, daß die meisten demütig gehorchten oder wenigstens so taten. Zu politischen Orakeln ließ er sich nicht schwer bestimmen und bemerkte nicht, daß gewisse Leute darauf spekulierten. Gerade darin und in einiger Empfänglichkeit für geschickte Augendienerei zeigte sich das Alter. Da ich ihn viel zu hoch hielt, um ihm zu schmeicheln, und in der Wissenschaft kein Ansehen der Person kenne, habe ich seine Erwartungen enttäuscht. Zwanzig Jahre vorher würde er gerade diese Selbständigkeit freudig begrüßt haben.

Ich selbst hätte manche verwandtschaftlichen Beziehungen pflegen können, aber ich vermied es; der Heimat näher zu sein, war freilich willkommen. Im Kreise der Kollegen gab es natürlich nicht wenige, mit denen ein anregender, aber kein naher Verkehr entstand. Diels hatte seine festen Lebensgewohnheiten, sehr verschieden von den meinen, was auf unseren Verkehr einwirkte. Er nahm in der »Graeca« eine führende Stellung ein, der auch Mommsen angehörte, nahm auch an der »Mittwochsgesellschaft« teil, aber in diese Kreise paßte ich nicht. Von alten Freunden fand ich meinen Kriegskameraden G. Reimarus und C. Bardt als Direktor des Joachimsthalschen Gymnasiums vor, in das ich meine Söhne schickte. Ebenda wirkte O. Schroeder, den ich aufsuchte, da wir schon über Pindar korrespondiert hatten. Auch P. Wendland suchte ich auf und lernte in ihm auch den Menschen in seiner schlichten Vornehmheit schätzen, mußte leider sehen, wie er seine Kräfte in unheimlicher Arbeitsamkeit verzehrte. Viel zu spät kam er an die Universität und mußte als Nachfolger Kaibels mitten aus einer Forschertätigkeit scheiden, die zum Höchsten zu führen schien. In Westend wohnten die Eltern und andere Verwandte von Frau Leo, was nachbarlichen Verkehr mit sich brachte und zu nahen Beziehungen führte, die wir dauernd mit ihrer Schwester Frau du Bois Reymond und deren Gatten gepflegt haben; ich werde diesen ausgezeichneten Mann noch als Gefährten auf zwei griechischen Reisen einführen.[245]

Theaterbesuch hat mich wenig gereizt, selten befriedigt, verbot sich auch durch die Zeitverschwendung; dagegen den Genuß der bildenden Künste wie der aufnehmen zu können, war ein Vorteil Berlins, und das habe ich nicht versäumt.

Ein gewisser Ersatz für die sonstige Zurückgezogenheit ergab sich durch die Einrichtung eines offenen Abends, denn zu diesen Mittwochen kamen bekannte jüngere Familien, junge Kollegen, ausgewählte Studenten, manch Durchreisender, nicht wenige Ausländer der verschiedensten Nationen oft und gern, bis der Krieg allem ein Ende machte.

Alles entwickelte sich langsam; das Eingewöhnen war schwer, manches verstimmte, körperliche und seelische Depression blieb nicht aus. Daß das Proseminar sofort in guten Gang kam, die Vorlesungen, zumal die öffentlichen, Erfolg hatten, war nicht mehr als ich zu erwarten berechtigt war. Die Privatvorlesung hielt ich aus Rücksicht auf die älteren Kollegen nachmittags, was nicht nur den Besuch beeinträchtigte. Zwei Stunden hintereinander war mir wie den Studenten eine überstarke Anstrengung. Vorträge vor den Damen des Victoria-Lizeums traten bald hinzu, wirkten und befriedigten wie die ähnlichen in Göttingen. Formal war ich an die Stelle von Ernst Curtius getreten, der die Professur der Eloquenz so lange innegehabt hatte, daß sie nun abgeschafft ward, aber sein Nachfolger mußte doch gleich 1898 zu Kaisersgeburtstag und dann zur Jahrhundertwende (verfrüht 1900) reden1 und gewann damit seine Stellung unter den Kollegen ganz wie in Greifswald und Göttingen. Die Rede über Volk, Staat und Sprache erhielt von Seiner Majestät einen Dank für ihren patriotischen Schluß; die Ablehnung der herrschenden Politik gegen Polen und Dänen beachteten wenige; das Wort eines Neulings hatte kein Gewicht. Althoff verstand und würdigte es.

Er hatte meine Berufung nach Berlin betrieben, weil er mich bei der Schulkonferenz verwenden wollte, die er plante und 1900 ins Werk setzte; das hat mich in den nächstfolgenden Jahren durch andere Aufträge, vor allem durch meinen Entschluß, ein Lesebuch für die Schule zu machen, schwer belastet. Auch kleine Dienste mußte ich ihm leisten, wie ein griechisches Gratulationsgedicht für den Finanzminister Miquel. Er hoffte wohl auch, daß ich zum[246] Kaiser Beziehungen aufnehmen und dadurch nützlich wirken könnte, worin er sich täuschte. Ich war zum Höfling verdorben und am allerwenigsten geneigt, meine Zeit und meine Unabhängigkeit zu opfern. Zunächst aber schickte mich Althoff schon in den Osterferien 1898 nach Italien mit einem offiziellen Auftrage, der eigentlich von Mommsen stammte. Ich schien geeignet, weil ich Mitglied der Zentraldirektion des archäologischen Institutes geworden war. Mitgewirkt wird aber die freundliche Absicht haben, mir eine Auffrischung zu verschaffen, weil ich die erzwungene Verpflanzung nach Berlin schlecht vertrug. Ein Baum, der Wurzel geschlagen hat, kränkelt immer, wenn man ihn in ein anderes Erdreich versetzt. Dann hat er mich wieder im Frühjahr 1903 zum Historikerkongreß nach Rom geschickt. Mein Interesse für das archäologische Institut war immer lebhaft, ward so verstärkt und ist gestiegen bis auf den heutigen Tag.

Ganz früh trat ich auch in die Kommission für die Ausgabe der vornicänischen Kirchenväter, die Harnack leitete; die Überwachung mehrerer Bände derselben verlangte nicht geringe Arbeit. Als ich 1900 in die Akademie eintrat, deren Korrespondent ich seit einigen Jahren war, bekam ich bald die Leitung der griechischen Inschriften in die Hand, die von Grund aus reorganisiert werden mußten und in den ersten Jahren die Aufbietung aller Kräfte beanspruchten. Wenig später führte die Erwerbung besonders wertvoller Papyrusrollen durch die Königlichen Museen zu der Gründung einer Papyruskommission, in welche Diels und ich eintraten. Da fiel uns auch die Ausgabe wichtiger und schwerer Texte zu. So lag in dem ersten Jahrzehnte des neuen Jahrhunderts eine Fülle von neuen schweren Verpflichtungen auf mir, denen ich die Fortsetzung der selbstgewählten Arbeiten opfern mußte. Die sehr weit geförderte Ausgabe der griechischen Lyriker habe ich abbrechen, die der Tragikerfragmente, einen sehr teuren Wunsch, ganz aufgeben müssen, zumal ich mich verleiten ließ, für die Kultur der Gegenwart eine Skizze der griechischen Literaturgeschichte zu schreiben, weil sich das ohne viele Mühe und besondere Forschung rasch schreiben ließ. Etwas zog mich auch die Aufführung der Orestie des Aischylos in meiner Übersetzung ab, an die sich Ähnliches schloß. Das erfuhr ich freilich, daß es erfrischen kann, wenn man mehrere Arbeiten zugleich zu betreiben gezwungen ist; diese Erfrischung bieten ja Studentenarbeiten und die Vorlesungen auch, diese besonders, wenn man immer neue Gegenstände wählt. Aber ich atmete doch auf, als die Geschäfte allmählich weniger drückten, und Vortragsreisen nach England, Holland, Skandinavien wirkten nun ebenso belehrend und anfrischend, wie es zwei griechische[247] Reisen 1903 und 1905 getan hatten. Aber erst 1913 konnte ich damit beginnen, eigene Bücher erscheinen zu lassen, die nicht aus äußerem Anstoß entstanden waren, was ich seitdem fortgesetzt habe, zumal durch den Krieg und seine Folgen die amtlichen Verpflichtungen teils fortfielen, teils stark eingeschränkt wurden. Ich habe diese Übersicht vorausgeschickt, weil nun die einzelnen Gebiete der Tätigkeit hintereinander soweit behandelt werden sollen, wie es mir rätlich erscheint.

Zuerst also das, wozu Althoff mich bestimmte, und ich bin es seinem Andenken schuldig, Zeugnis abzulegen. Es ist ein Buch über ihn erschienen, das auf dem reichsten Aktenmateriale beruht; so etwas fehlt mir ganz, aber ich habe ihn in seinem Wesen und Wirken genügend kennengelernt, da darf wohl auch lautwerden, was aus einem warmen Herzen kommt.

So wie er war, mußte er sich Feinde machen und mußte ihm das ganz gleichgültig sein. So gleich in der Bureaukratie, denn er war wie Bismarck kein bequemer Vorgesetzter, ein gefügiger Untergebener auch nicht. Aber die Minister hat er so zu behandeln gewußt, daß er für sein Ressort, die Universitäten, tatsächlich die Entscheidung in der Hand hatte, außer für die Theologie, wo er die Verantwortung entschieden ablehnte, aber Harnack doch mit List nach Berlin gebracht hat. Benachbarte Gebiete, z.B. Museen einzubeziehen, war sein Wunsch, was bedauerliche Folgen hatte. Was sie geworden sind, hat. R. Schoene auch gegen ihn erreicht. Die Bureaukratie an sich war ihm so unbequem wie dem Reichskanzler; er mag den regelmäßigen Geschäftsgang und Instanzenzug nicht selten verletzt haben. Auch vielen Professoren hat er Veranlassung zu persönlichen Klagen gegeben, berechtigten und noch mehr unberechtigten, denn es lag ihm ganz fern, die Menschen alle gleichmäßig zu behandeln, und der Professor als solcher imponierte ihm durchaus nicht. Er war eine Herrschernatur und dabei frei von jedem persönlichen Ehrgeiz. Er warf seine ganze Person in den Kampf für die Sache, welche er vertrat, aber für seine Person verlangte er nichts als die Freiheit für seine Sache zu wirken. Gemäß seinen Erfahrungen achtete er die Menschen, je länger er sie kannte, desto weniger. Alle Herrschernaturen haben das getan. Und wo er Eitelkeit und Eigennutz traf, versagte er die Achtung, faßte aber die Menschen an diesen Schwächen, wenn er sie brauchen konnte. Gebrauchen muß ein Herrscher auch minderwertige Leute, solche »mit einem reinen, aber weiten Gewissen«, wie er sich euphemistisch ausdrückte. Vor jedem Manne, der aufrecht und redlich für seine Sache eintrat und auch ihm gegenüber Mann blieb, hatte er die volle Achtung, und an Urteil über die Charaktere fehlte es ihm nicht. Gerade wer ihm zeigte, daß er sich nicht[248] zu allem bequemte und sich nicht alles gefallen ließ, erwarb sich sein Vertrauen; es war allerdings wohl für beide Teile nötig, daß sie solche Erfahrung machten2. Schwerlich kann man sagen, daß er sein großes Talent als Leiter und Organisator gerade in der Stellung des Referenten im Kultusministerium und gerade für die Universitäten zu verwerten besonders berufen war. Wohin er auch gestellt ward, würde er sich in die besonderen Bedingungen hineingefunden haben. Nun stand er hier, wo es sich um die richtige Verwertung von Menschen und um den Ausbau der Anstalten handelte, die dem Hochschulunterricht und zugleich der Wissenschaft dienten. Für das erstere brachte er die Begabung mit, das andere hat er bald besser als jeder andere begriffen. Sein Verdienst ist es, daß die Universitätsinstitute für Medizin und Naturwissenschaften so begründet und ausgestattet wurden, daß sie für die Welt vorbildlich sind; es genügt, auf diese eine Tatsache hinzuweisen. Dabei war es vielleicht günstig, daß er ein persönliches Verhältnis zu keiner Wissenschaft hatte. Es war sehr überflüssig, wenn ihm Professoren und solche, die es werden wollten, ihre Bücher schenkten, die er doch nicht las, und hätte er es getan, so würde er nur danach gefragt haben, ob das Buch in seinem Verfasser einen tüchtigen Kerl erkennen ließe. Aber daß sich ihm ein junger Gelehrter persönlich vorstellte, wünschte er, denn darauf gründete er sein Urteil. In den Universitäten und Fakultäten standen ihm Selbstverwaltungskörper gegenüber. Das verbreitete Gerede, daß er die Selbstverwaltung mißachtet hätte, ist grundfalsch. Unter Falk-Göppert war das Oktroyieren viel stärker; dafür sorgte schon die Berlinokratie, der sich Althoff sofort entzog, was ihm natürlich gleich von tonangebenden Leuten verdacht ward. In den 131/2 Jahren, die ich in Göttingen war, ist nur einmal ein Professor ernannt, der nicht vorgeschlagen war, und da hatte die Fakultät keinen Sachverständigen gehabt und war mit der Entscheidung sehr zufrieden, sobald der neue Kollege kam. Als ich Prorektor war, schickte Althoff aus dem Ministerium die jetzige Exzellenz Schmidt-Ott, damals einen jungen Mann, als Vertreter des beurlaubten Kurators und sagte mir unter anderem: »er hat bisher nur die Luft des Ministeriums geatmet, sorgen Sie dafür, daß er die frische Luft einer Universität kennenlernt«. Häufig sind eingehende vertrauliche Vorbesprechungen mit den nächstbeteiligten Fakultätsmitgliedern vorhergegangen: das ist nur nützlich,[249] solange auf beiden Seiten der gute Wille vorausgesetzt werden kann, wie es in Göttingen der Fall war. Sein sanguinisches Temperament hat ihn keineswegs nur zu Heftigkeiten verführt, die verletzten; er hatte ein gütiges Herz, und gerade diesem folgte er nicht selten zu rasch, sagte zu, was er nicht erfüllen konnte und mußte dann irgendwie einen Ausgleich suchen, was nicht immer gelang. Das trug nur den Schein der Unzuverlässigkeit. Wer erlebt hat, wie er sich Lagarde gegenüber benommen hat, wie rührend er für den unglücklichen Paul von Winterfeld gesorgt hat3, wie er Mommsen, der es ihm zuletzt nicht leicht machte, in Dankbarkeit und Verehrung im Leben und im Tode (gleich durch die Errichtung seiner Statue4) die Treue gehalten hat (andere hielten nicht länger aus, als der berühmte Mann ihnen Relief gab), der weiß, was der Mensch Althoff war. Sein Werk steht da. Er brauchte die um Recht und Billigkeit unbekümmerte Tyrannis nicht zur Folie, die nach ihm gekommen ist. Aber wer an sein stilles Grab in dem botanischen Garten tritt, der soll auch wissen, daß da ein Mann ruht, der nicht nur Großes und Bleibendes wie eben diesen Garten geschaffen hat, sondern der ein redlicher und treuer Mensch war.

In seinen letzten Jahren, als er Ministerialdirektor geworden war und seine Hände auch in vielen Dingen hatte, die außerhalb seines Ressorts lagen, wurden unsere Berührungen seltener und seltener. Mit einigen seiner letzten Pläne, wie dem Professorenaustausch mit Amerika und der Gründung der Posener Akademie, war ich, wie er wußte, durchaus nicht einverstanden. Das hat natürlich meine herzliche Verehrung nicht beeinträchtigt und unser inneres Verhältnis auch nicht, wie sich zu meiner Freude zeigte, wenn ich ihn nach seinem Rücktritt besuchte.

Die Schulkonferenz ist in erster Linie berufen worden, um den Abiturienten der Oberrealschule die Universität zu eröffnen, was notwendig war, vorausgesetzt, daß die Vorbildung auf mathematisch-naturwissenschaftlicher Grundlage jene allgemeine geistige Ausbildung verleiht, die das Gymnasium immer noch gab, so daß auch heute noch sehr viele Lehrer der Naturwissenschaft und der Technik die Gymnasialabiturienten für auf die Dauer leistungsfähiger halten. Daneben war schon in den wenigen Jahren an den Tag gekommen,[250] daß die Abschaffung der Grammatik eine große Torheit war. Althoff hatte gegen die Beschlüsse der früheren Konferenz sofort Verwahrung eingelegt und wollte sie revidieren. Dadurch ward die Frage nach der allgemeinen Gestaltung des Lehrplanes aufgerollt, und das Gymnasium geriet in Gefahr, denn der Gedanke, Gymnasium und Realgymnasium so zu vereinen, daß in den höheren Klassen entweder Griechisch oder Englisch gelehrt würde, hatte einflußreiche Vertreter, obwohl etwas Dümmeres nicht leicht auszudenken ist. Man könnte mit gleicher Berechtigung Mathematik und Zeichnen oder Singen in dieser Weise wechseln lassen. Englisch soll am besten jeder auf jeder höheren (besser schon jeder mittleren) Schule lernen, jedenfalls jeder Gymnasiast. Es sind gerade Diels und ich gewesen, auf deren Antrag unsere Fakultät diese Forderung erhoben hat. Die Weltsprache muß man eben lesen können (auf das Lesen kommt es an, nicht auf das Plappern), für den Deutschen ist sie leicht, und gerade neben dem Griechischen wird sie wegen der Verkümmerung von Flexion und doch ganz unbeschränkter Ausdrucksfähigkeit die grammatisch-logische Schulung des Geistes erst recht fördern. Ohne Griechisch aber ist die deutsche Bildung, der nicht nur wir den geistigen Aufschwung des 19. Jahrhunderts verdanken, preisgegeben5. Es wird zutreffen, daß Harnack und ich damals das Griechische gerettet haben, vor der Konferenz natürlich, durch Verhandlung mit dem Ministerium, denn solche Redeschlacht einer zahlreichen Versammlung pflegt nur ornamentalen Wert zu haben.

Meine Beteiligung an der Konferenz hatte zur Folge, daß ich mancherlei zu schreiben aufbekam, darunter aus den Akten der Unterrichtsverwaltung eine kurze geschichtliche Darstellung des griechischen Unterrichtes6, die interessante Tatsachen an das Licht zog. Auch in England, Holland und Italien kümmerte man sich um unsere Behandlung des Griechischen, was manche Korrespondenz ergab, zumal als ich mein griechisches Lesebuch herausgab, bei dem ich vielleicht zu sehr an die Pförtner Privatlektüre gedacht[251] habe. Wer der Meinung ist, daß nur künstlerisch vollendete Werke gelesen werden sollen, verurteilt für das Griechische, was das Latein gerade jetzt eifrig anstrebt. Homer und die athenischen Klassiker in Vers und Prosa (was den Thukydides ausschließt) zeigen nur einen engen Ausschnitt des Hellenentums; wie sich damit das Lesen des Neuen Testamentes verträgt, das ein Vorzug des Gymnasiums sein muß, wird dabei nicht bedacht. Griechisch als Weltsprache lehrt erst, daß jede Wissenschaft aus Hellas stammt, Mathematik und Technik, Grammatik und Medizin, jede Philosophie und die Bibel samt den ältesten Dokumenten des Christentums. Das zeigt mein Lesebuch. Seine Wirkung steht zu der Arbeitsleistung, die rasch geschehen mußte, in keinem Verhältnis. Es galt, Einleitung und Erläuterung zu so verschiedenen Stücken zu liefern wie Hippokrates und Clemens, Heron und Maximus Tyrius, und das wenigste war jemals kommentiert. Dafür kam von einem angesehenen Gymnasiallehrer eine Kritik ins Ministerium: »flüchtige Arbeit; es ist eine Konjektur von mir nicht berücksichtigt«. Und die einen sagten: »hier wünsche ich mehr, dafür könnte jenes fortbleiben.« Die andern drehten das um. Hätte man sie alle gehört, so wäre entweder nichts geblieben oder ein Wälzer daraus geworden. Natürlich gibt der erste Wurf nicht Vollkommenes; aber die Lust zur Verbesserung verging mir rasch. Es ließ sich auch die Geschichte des Stiles an den reichlichen Proben sehr gut in einer Vorlesung lehren, was sonst praktisch undurchführbar ist. Aber die Herren Kollegen waren nicht geneigt, sich zu einem Schulbuche herabzulassen. Ein Mißerfolg, aber es reut mich nicht, ihn gemacht zu haben.

Ich hatte mir bei meiner Berufung ausbedungen, nicht mehr in die Prüfüngskommision zu kommen und habe gern auf Zuhörer verzichtet, die sich dadurch bestimmen lassen. Dennoch habe ich ihr kurze Zeit angehört, lange genug, um ihre rein schematische Praxis kennenzulernen, die wohl unvermeidlich ist, aber auch nicht vermeidet, daß die Kanditaten auf die Auswahl ihrer Prüfer Einfluß gewinnen. Das erreichen sie aber auch beim Doktorexamen, wenigstens habe ich da fast ausschließlich solche geprüft, die mich kannten und daher nicht fürchteten. Ich kannte meinen Ruf »bei dem weiß man nie, was er fragen wird; da lohnt es sich nicht, die Fragen aus früheren Examina zu sammeln.« Gleich nach der Revolution ist zum Prüfer ein Gymnasiallehrer bestellt worden, der notorisch die erforderten Sprachkenntnisse nicht besitzt. Als nach der Konferenz die Forderungen an die Kanditaten neu formuliert wurden, bin ich herangezogen und habe mich bemüht, sie etwas näher an das Erreichbare herabzustimmen, denn geredet war so, als sollten die Kandidaten mehr wissen als viele der Examinatoren,[252] z.B. in der Metrik. Mein Versuch mißlang, die Schüler von den Akzentregeln zu befreien, deren lange Kunstwörter gleich die Vorstellung erwecken, die Sprache wäre entsetzlich schwer. In der Metrik ist es ebenso. Fragt man, was ein Hexameter ist, so springen gleich Hephthemimeres und Trithemimeres aus dem Munde, aber wie ein Vers beschaffen sein muß, pflegt ebenso unbekannt zu sein wie die Bedeutung der ganz entbehrlichen Kunstwörter. Bescheid um die Akzente wußten die Studenten auch nicht. Ich habe die Mitglieder des Proseminars einen von mir hektographierten Text mit den fehlenden Akzenten versehen lassen und die schauerlichen Ergebnisse dem Ministerium eingesandt; Antwort kam nicht. Viele haben mich mißverstanden und geglaubt, ich wollte auch die gedruckten Texte ohne diese Lesezeichen lassen. Das lag mir fern, denn wenn sie für die erwachsenen Leser nötig sind, wird sie niemand den Schülern fern halten. Soviel ich weiß, sollen sie nun nicht mehr gelehrt werden. Über unsere byzantinische Mode bin ich allerdings nun zu einem ziemlich radikalen Urteil gekommen, weil ich fortwährend mit Inschriften und antiken Büchern zu tun hatte. Vielleicht finde ich noch eine Gelegenheit, mich zu dieser Sache zu äußern. Diels warf einmal im Ärger über die Mühseligkeit der Korrektur hin, die Dinger müßten ganz beseitigt werden; so weit will ich doch nicht gehen. Aber auch die antike Zeichensetzung ist Erfindung der Grammatiker, unserer hochgeschätzten Kollegen, an deren Entscheidung sich unsere Praxis ebensowenig zu binden braucht, wie es unsere Grammatik tut.

Meine Übersetzungen griechischer Tragödien erschienen und ein studentischer Kreis beschloß die Orestie des Aischylos aufzuführen, gewann hervorragende Schauspieler für die Hauptrollen und in Dr. Oberländer einen geschickten Regisseur. An dem Einstudieren habe ich keinen Anteil gehabt, aber er verhandelte mit mir, ich nahm Streichungen an dem Texte vor und besprach vielerlei, die Auffassung der Charaktere, die Bühnenbilder, die Chöre, die er zumeist so einzustudieren verstand, daß sämtliche Choreuten zusammen sprachen und doch die Worte verstanden wurden. Diese letzte Forderung hatte ich erhoben. Der Erfolg war gewaltig: sechsmal war das Theater des Westens ausverkauft. Ich lernte mancherlei, freute mich an vielem; die Chöre werden den, der sie auswendig weiß, niemals befriedigen. Aber wenn moderne Musik die Worte verschlingt, läßt man sie besser fort, verzichtet also auf Aischylos. Als ich später einmal in Wien war, gab Schlenther mir zu Ehren die Orestie so, wie er sie teils zu naturalistisch, teils mit zu üppiger Aufmachung zurechtgeschnitten hatte. Das bestätigte mir das Urteil, daß die Eumeniden trotz dem auch auf dem Theater überaus wirksamen[253] ersten Teile nicht aufführbar sind. Die Gerichtszene und die Lösung des Konfliktes sind für unser Gefühl unbefriedigend; die von dem Dichter mit Bedacht ganz anders abgetönte Stilisierung muß erkältend wirken. Man soll die beiden ersten Dramen jedes für sich aufführen. Ich bin an ähnlichen Aufführungen des Ödipus, Hippolytos, der Medea beteiligt gewesen, niemals ohne Förderung im Verständnis der Originale, niemals kam der Erfolg dem der Orestie gleich, weil bei ihr die frische Wirkung eines unbekannten großen Kunstwerkes in Darstellern und Zuschauern eine geradezu andächtige Stimmung erzeugte. Aischylos war wirklich so gut wie unbekannt, auch von den Philologen keineswegs nach Gebühr studiert und gewürdigt. Meinem Herzen hat er, seit ich ihn als Schüler las und kümmerlich verstand, am nächsten gestanden und ist mir nun, wo ich die Tragiker der Weltliteratur alle zu schätzen glaube, der Unübertreffliche geblieben, und ich bin stolz, daß ich ihn recht vielen in meinem Volke nahe gebracht habe, natürlich auch solchen, die überlegen reden dürfen, weil sie seine archaische Gebundenheit, sein Griechisch und sein frommes Athenertum nicht verstehen. Daß die Medea durchfiel, war zum Teil meine Schuld. Um der schon dem Aristoteles fatalen Aigeusszene zu entgehen, hatte ich das Drama in zwei Akte geteilt und das Unumgängliche irgendwie kurz zusammengefaßt. Das verdarb. Medeas Monologe, auf denen die Wirkung beruht, müssen so, wie sie der Dichter hingestellt hat, schnell aufeinanderfolgen, damit der Hörer in steigender Spannung bleibt. Aber auch die hochbegabte Darstellerin der Medea verdarb. Die Sonnentochter darf sich nicht im Affekt auf dem Boden herumwälzen. Dabei erlaubte die Tragödin sich, Versreihen in dem Hauptmonologe umzustellen, weil sie mit Fortissimo eingesetzt hatte und das wiederholte Umspringen von Mordlust zu Weichheit nicht mehr herauszubringen vermochte. Umgekehrt hatte ich in den Visionen Kassandras eine Strophe gestrichen und die Schauspielerin hatte geklagt, daß ihr ein Übergang fehlte, was sich noch abstellen ließ. Die Bühne hatte ich aber, allerdings gegen Euripides, für uns passend angeordnet, so daß der Königspalast und das ärmliche Haus Medeas beide sichtbar waren.

Diese Beschäftigung mit dramatischen Aufführungen wird veranlaßt haben, daß ich in die Schillerkommission berufen ward und ihr bis zum Kriege angehörte. Erich Schmidt, der früher in ihr den Ton angegeben hatte, war verärgert ausgetreten, weil die Wahlen von dem Könige nicht bestätigt wurden, wie es von dem Stifter, Wilhelm I., immer geschehen war. Jetzt machte ein Vertreter des Kultusministeriums den Versuch, die Statuten so auszulegen, daß die Kommission den König nur zu beraten hätte, aber seine Entscheidung[254] frei wäre. Diese flagrante Mißdeutung fand kräftige Zurückweisung, und wir schlugen den mißliebigen Gerhart Hauptmann von neuem vor, diesmal für die versunkene Glocke und Hannele. Mir kam es schwer an, denn der Dichter wird mir unausstehlich, wenn er sich Erhabenheit und Tiefsinn abrenommieren will; aber da die Weber und der Biberpelz den Preis unbedingt verdienten, stimmte ich zu. Es war vergeblich. Wir haben später, als Roethe die tatsächliche Führung übernommen hatte, erreicht, daß die Erzeugnisse einer längeren Zeitspanne beurteilt werden durften, und wenigstens Schönherr (Glaube und Heimat) und Hart (Tantris) mit Erfolg gekrönt wurden; aber das vorzüglichste Drama, das überhaupt vor uns kam, Burtes Katte, schlugen wir vergeblich zur Krönung vor.

Hier mögen ähnliche Erfahrungen im Kapitel des Ordens pour le mérite Platz finden, der seine Mitglieder kooptiert, so daß der König sich nur die Verleihung vorbehalten hatte. Bei den Wahlen der Klasse für Wissenschaft ging das immer glatt, aber bei den Malern unterblieb die Verleihung längere Jahre, ist aber während des Krieges noch erfolgt. Es ist ein großes Verdienst des Kanzlers A.v. Harnack, daß er den Fortbestand und die Kooptationsfreiheit des Kapitels durchgesetzt hat. Es war auch nur in der Ordnung, daß Liebermann nun endlich gewählt ward; es war nur in Voraussicht des Mißerfolges unterblieben. Aber daß wider alles Herkommen, wider den Geist der Statuten, plötzlich unter die Künstler ein Dichter mit geringer, aber doch mit Majorität gewählt ward, ist ein Beweis, daß der Mut, der sich vor dem Könige nicht fürchtete, vor den Tyrannen der Ochlokratie versagte: ihr großer Mann, der Verfasser des unwürdigen Festspiels von 1913, Gerhart Hauptmann, mußte den Orden tragen. Als die vorbereitende Sitzung und dann die Wahl erfolgte, war ich in Schweden abwesend. Ich würde alles getan haben, die Wahl jedes Dichters, vollends eine Wahl zu verhindern, die gar nicht dem Dichter, sondern durch den Tendenzdichter den neuen Herren huldigen wollte.

Zur Bildung einer ständigen Kommission für die Herausgabe ihrer Papyri schritt die Museumsverwaltung, als sie antike Buchrollen, nicht nur Aktenstücke erworben hatte. In der Papyrusabteilung arbeitete in Hugo Ibscher ein Mann, der sich einen Weltruf erworben hat. Der als Buchbinderlehrling angefangen hatte, ist Ehrendoktor, vom Papste dekoriert und nach Rom, London, Stockholm für besonders schwere und wichtige Aufgaben berufen. Niemand kommt ihm gleich in den Künsten, Papyri und Pergamene zu glätten, lesbar zu machen, Fetzen zusammenzustücken, das Ganze zu erhalten. Ich kann bezeugen, daß er mir die Abschrift eines Komikerbruchstückes geschickt[255] hat, und nur ein Buchstabe war zweifelhaft. Um die aramäischen Elephantinepapyri hat er viel größere Verdienste, als die Ausgabe erkennen läßt. Die Photographie des Korinnapapyrus läßt die Mühe des Zusammenstückens erkennen. Die Lesung der literarischen Papyri ist so gut wie ganz das Verdienst von W. Schubart, selbst wenn es den Herausgebern einzeln gelungen ist, hier und da weiterzukommen. Alle anderen Gattungen der Schriften gewöhnt selbst herauszugeben und zu erläutern, überwies er die Buchreste den Philologen; die Kommission, in der Diels und ich einen Platz erhielten, hatte auch andere Geschäfte. Diels ist ausgeschieden, nachdem er den Didymos, den Platonkommentar und die laterculi Alexandrini ediert hatte; an den beiden ersten habe ich mich auch geplagt, immer die Photographien vor Augen. Mir fielen die Dichter zu, darunter der älteste griechische Papyrus, die verstümmelte und gegen Ende ganz verschriebene Abschrift der Perser des Timotheos aus Alexanders Zeit. Ich würde diese Aufgabe nicht gelöst haben, wenn ich nicht die ältere Lyrik und die Monodieen der späten Tragödie seit Jahrzehnten unter den Händen gehabt hätte. Bei manchen, die nachher an dem Texte viel geändert haben, ist fühlbar, daß sie nicht in diesem Falle waren, nicht minder, daß sie nicht aus dem Papyrus oder seiner Photographie, sondern aus der Abschrift des Textes heraus konjizierten. Diese Erfahrung machte es mir peinlich, daß ich bei der Mitarbeit an einigen Bänden der Oxyrrhynchospapyri nur auf die Abschriften von A. Hunt angewiesen war; Photographien habe ich nicht erhalten; unsere Museen sind gewohnt, sie jedem Bearbeiter zur Verfügung zu stellen. Im anderen Falle kann man nur Bedenken gegen die Lesung, höchstens Vermutungen äußern; sie haben sich manchmal bewahrheitet.

Der Fund des Timotheospapyrus war etwas so Seltenes, daß er dem Kaiser vorgelegt werden sollte. Ich fuhr daher nach Potsdam und hielt einen kurzen Vortrag, der Kaiser mit seiner raschen Auffassungsgabe war voll Interesse und sagte, »das muß meine Frau auch sehen«; die Kaiserin kam, und ich ward zum Frühstück gezogen. Auf dem Wege durch die Vorzimmer wies er auf einen weiblichen Kopf und stellte die Frage, aus welcher Zeit er wäre, offenbar wollte er den Philologen sich blamieren lassen. Der moderne Stil war nicht zu verkennen; aber es wäre ihm lieber gewesen, wenn er nicht hätte sagen müssen: »ja, es ist Begas«. Dies war meine erste persönliche Begegnung mit den Majestäten. Die Kaiserin in ihrer schlichten weiblichen und mütterlichen Güte ist mir immer gnädig gewesen; man konnte sie nur lieb gewinnen. Dem Kaiser war ich zu verschieden von der Art seiner Umgebung; die Unterwürfigkeit, auf die er zu treffen gewohnt war, ließ ihm als Plumpheit[256] erscheinen, wenn ich rundweg sagte, daß Itheka Itheka ist, und auf eine wegwerfende Replik aussprach, daß die Wissenschaft zu entscheiden hat. Einmal habe ich mir doch in einer Eingabe den herkömmlichen Ton abgerungen, als es sich darum handelte, für Schultens Ausgrabung von Numantia eine Unterstützung aus dem allerhöchsten Dispositionsfonds zu erlangen, wozu dies der von Geh.-Rat Schmidt vorsorglich angegebene Weg war. Der Erfolg des Unternehmens wird mich entlasten. Das darf niemals vergessen werden, daß der Kaiser mit ganzem Herzen und wirklichem Interesse die Wissenschaft gefördert hat, wie es keiner seiner Vorgänger auf dem Throne oder irgendein anderer Fürst getan hat.

Die große Cour hatte gegen die frühere Zeit eine ganz andere Form erhalten. Der alte Kaiser war zu seinen Gästen gekommen und hatte außer den neu Vorgestellten einzelne angesprochen; das Souper folgte. Jetzt war es nur ein Vorbeimarsch vor den Majestäten, die unter einem Thronhimmel standen, für die Geladenen ein langes Warten auf den einen Augenblick der huldigenden Verbeugung, für die Kaiserin eine schwere Anstrengung. Als ich das erstemal teilnehmen mußte, war ich im Senat der Universität, stand also ganz weit hinten öde lange durstige Stunden. Der einzige Spaß war zuzusehen, wie die jungen Damen in einem Nebenzimmer die tiefe révérence übten und mit der Courschleppe, die hier erst angeknöpft ward, zu gehen versuchten. Aber sie kamen frühe daran. Später, als ich regelmäßig eingeladen ward, konnte ich mich der Teilnahme oft entziehen, kam auch dem Range gemäß ganz früh daran, machte aber in dem quälend heißen Talar des Professors unter den glänzenden Uniformen eine Figur wie ein Rabe unter Pfauen, denn von dem Rechte, mir für schweres Geld auch solche Pracht zuzulegen, hatte ich keinen Gebrauch gemacht. Die beiden Präsidenten der Kaiser Wilhelms-Gesellschaft, A. von Harnack und Emil Fischer, trugen ein neu erfundenes Kostüm; respektlose Generale verglichen es mit dem Gefieder eines Zeisigs. Nun war ich schon zum Abendbrot wieder zu Hause und hatte sogar ein Glas Sekt bekommen. Denn Kollege v. Harnack, der bei Hofe Bescheid wußte, war so freundlich mir den Weg zu einem Zimmer neben der Treppe zu weisen, wo für die Wissenden die Sektquelle strömte.

Eindrucksvoll war die Hochzeit der Prinzessin Viktoria mit dem Herzog von Cumberland, 1913, wo die zum Verwechseln ähnlichen Vettern, der Zar und der König von England, mit ihren Frauen, der alte Herzog von Cumberland, bis dahin ein grimmiger Preußenfeind mit einem Nußknackergesicht, von Geringeren zu schweigen, unsere Verbeugungen sich etwas gelangweilt[257] gefallen ließen. Der Fackeltanz der Minister war abgeschafft, die Verteilung des bräutlichen Strumpfbandes zur Überreichung eines Stückchens Seidenband mit irgendwelchem Namenszuge geworden. Aller Pomp konnte nicht verhindern, daß die Stimmung schwül war. Soweit die hohen Herrschaften noch leben, haben sie sich damals zum letzten Male gesehen, und die Schloßkapelle ist verödet.

Nach dieser Abschweifung zurück zu den Papyri. Wir beschlossen die Herausgabe der »Berliner Klassikertexte«, und als wir über die Ausstattung berieten, warf zuerst Diels die Frage auf, ob man angesichts der schönen griechischen Buchschrift, die sich in 1000 Jahren so wenig verändert hat, daß sie immer gleich lesbar geblieben ist, die byzantinische ausgeartete Minuskel beibehalten sollte, wie sie die modernen Druckereien darboten7. Ich stimmte freudig zu, daß eine neue Schrift im Anschluß an die antike Buchschrift erfunden werden müßte, denn für die Inschriften galt dasselbe. Diels zeichnete also selbst die Buchstaben, die Reichsdruckerei goß die Typen, die Akademie beschloß die Einführung. Daß die liebe Gewohnheit aufbegehren würde, hatten wir erwartet. Nun waren aber die Striche zu fein ausgefallen, das Lesen zuerst also wirklich unbequemer. So ist die Akademie selbst gleich nach Diels Tode zu den alten Typen zurückgekehrt, und wenn jetzt gerade in England neue Typen geschnitten werden (sie waren in Oxford immer besser als bei uns), so ist der Schritt von den Byzantinern zu den Hellenen doch nicht getan. Aber wenigstens die Inschriften dürfen bei uns die neuen Typen behalten.

Noch ein berechtigter Vorwurf ist der neuen Schrift gemacht, die Lesezeichen sind zu groß und doch nicht klar, und nehmen sich über den Buchstaben störend aus, die doch zunächst an Inschriften erinnern. Das führte zu der Frage, ob wir diese Zutaten nicht beschränken könnten, was den Druck sehr viel billiger machen und auch den Schülern manche Erleichterung schaffen würde. Manches ist geradezu schädlich8, und Dialektinschriften,[258] deren Betonung wir nicht kennen, nach der Schulregel des gemeinen Griechisch zu betonen, wird dem Herausgeber recht bedenklich. Die Gewohnheit ist ja des Menschen Amme, aber der wissenschaftliche Mensch sollte sich füglich selbst entwöhnen.

Von den Inschriften, bei denen sich mir dies besonders aufdrängte, und den Kirchenvätern rede ich passender bei der Akademie und wende mich nun zu den Reisen, zunächst denen, welche ich im staatlichen Auftrage unternahm. Die erste im Auftrage des preußischen Ministeriums 1898, über die Erfolge der s.g. Geisterkarawane zu berichten. Es wurden nämlich alljährlich eine Anzahl Gymnasiallehrer nach Italien geschickt, und das römische Institut klagte über eine Belästigung; die an sich löbliche Sache war in der Tat verkehrt angefangen. Das sollte untersucht werden; die Anregung hatte Mommsen gegeben, dessen Brief an Althoff mir vorliegt. Es stellte sich heraus, daß wirklich manche ganz unvorbereitete Lehrer eine so große Vergünstigung erhielten und der Nutzen der Führungen, allerdings nicht nur durch die Schuld der Reisenden, gering war. Solche Reisen sind unter der dauernden Führung eines sachkundigen und praktischen Gelehrten nicht selten mit bestem Erfolge unternommen. Noch besser ist freilich, wenn einzelne aus sich heraus interessierte Lehrer die Mittel zu längerem Aufenthalte in den klassischen Ländern erhalten. Anschluß und Anleitung wird ihnen in unseren Instituten nicht mehr fehlen, nicht nur bei den Sekretären, sondern bei der niemals ganz fehlenden Jugend. Mir war es sehr wichtig, mich von den Zuständen bei dem römischen Institute zu überzeugen, da ich der Zentraldirektion angehörte; darüber werde ich später im Zusammenhange mit der weiteren Entwicklung dieser Behörde handeln. An dieser Stelle beschränke ich mich auf einen Reisebericht und schließe meine weiteren Reisen in den Süden an.

Ein kurzer Besuch in Florenz war gleich die wirksamste Auffrischung, denn er führte in die mir immer besonders wohltuende Gesellschaft der italienischen Fachgenossen, und das italienische Volksleben war mir nun einmal vertraut und lieb, alles so ganz unberlinisch. In Vitellis gastlichem Hause fand ich einen Kreis angeregter Männer, die so nah und so ungezwungen verkehrten, wie es selbst in Göttingen nur selten der Fall war. Ich suchte mich auch über die Wandlungen in der italienischen Poesie zu[259] unterrichten, d'Annunzio kam zur Sprache, von dem ich mancherlei gelesen hatte, selbst die Vergini delle rocce; aber das erregte Kopfschütteln: sie könnten das nicht leisten. Natürlich ließ ich es mir gesagt sein, las aber den Marzocco. Im Hause von Milani traf ich in seiner Gattin eine imponierende, ebenso kluge wie liebenswürdige Frau, die Tochter Comparettis, und habe so auch einmal eine bedeutende Dichterin kennengelernt, damals noch ohne ihre Werke in die Hand zu bekommen. Milani zeigte mir seine Schöpfung, das museo Etrusco; über diese großartige Leistung darf man seine phantastischen Deutungen vergessen: das Museum hat jetzt eine unvergleichliche Anschaulichkeit und Fülle gewonnen. Das Problem des etruskischen Volkstums und seiner Kultur drängte sich auf; W. Schulzes Werk über die lateinischen Eigennamen war erschienen und hatte festgestellt, daß die Etrusker keinesfalls im achten Jahrhundert eingewandert sein können, da ihre Sprache Spuren bis tief nach Mittelitalien hinein hinterlassen hat. Als ich dann in Rom durch besondere Vergünstigung alle Schätze der Villa di Papa Giulio betrachtete und Boni mir seine Entdeckungen auf dem Forum zeigte, verstärkte sich die Überzeugung, daß die älteste Geschichte Roms und Italiens nur durch den Spaten aufgehellt werden kann; nur die Sprachforschung kann sonst noch Hilfe leisten. Rom selbst ist ja eigentlich eine etruskische Gründung des sechsten Jahrhunderts, und unser Ziel muß sein, nicht römische, sondern italische Geschichte zu treiben, die in der Herrschaft der Römer gipfelt, erst über Italien, dann über die Welt. Das jetzt von den Italienern als eine nationale Sache behandelte etruskische Problem ist ein Teil dieses historischen Forschungsgebietes. In diesem Sinne habe ich 1924 in Florenz vor italienischem Publikum geredet; 1898 waren mir freilich nur die ersten zweifelnden Gedanken aufgestiegen, und das Ganze lag außerhalb des Kreises meiner eigenen Arbeit.

In Rom fand ich alles seit 1878 ganz verändert. Ich wohnte nun in unserem neuen Institutshause, das der Diener Giuseppe freilich nicht sehr viel sauberer hielt als einst Mariuccia mein Immondezaio. Bei den Sekretären fand ich entgegenkommende Aufnahme und freute mich, daß in einer Adunanz überwiegend italienisch gesprochen ward. Zu Helbigs stieg ich auf das Janiculum und suchte die alten freundschaftlichen Beziehungen fortzusetzen, ließ mich durch seine Angriffe auf die Zentraldirektion, der ich angehörte, und auf die Leitung des römischen Institutes nicht stören, sondern suchte auch daraus Anhaltspunkte zu unparteiischem Urteile zu gewinnen. Piccolominis herzliche Gastfreiheit genoß ich ebenso dankbar wie die Florentinische. In der vatikanischen Bibliothek war die Veränderung gegen[260] die Zeiten Martinuccis am stärksten. Ich hätte mich am liebsten zum Kollationieren festgesetzt. Nicht nur, daß alle denkbaren Vergünstigungen gern gewährt wurden, die Beamten sprangen selbst hilfreich ein. Als ich eine Theokrithandschrift9 nicht bekam, holte sie Padre Ehrle selbst aus dem Lazaret, wie er es nannte. Ihre Blätter waren in Gefahr, sich aufzulösen; bekanntlich hat Ehrle sich um solche Schäden und die Möglichkeit ihrer Heilung besonders bemüht und sogar einen internationalen Kongreß dafür zusammengerufen.

Da ich in amtlichem Auftrage in Rom war, mußte bei den Gesandten Besuch gemacht werden. Eines Abends bei Herrn von Bülow, dem Gesandten am päpstlichen Hofe, waren mehrere Herren vom Vatikan anwesend, darunter Monsignore Hilpert, der mir andeutete, es wäre irgend etwas peinliches in der Luft; der Gesandte ahnte nichts. Anderen Tages zeigte sich, daß den Österreichern Archiv und Bibliothek gesperrt waren. Auf dem deutschen Historikertage war von einem von ihnen eine verletzende Äußerung gefallen, die damit prompt beantwortet war. Ehrle nahm mich beiseite, unterrichtete mich und warnte; die Deutschen hätte er noch zugelassen, aber wenn von Deutschland nichts geschähe, würden sie auch ausgeschlossen werden. Ich hütete mich, zu den Diplomaten zu gehen, schrieb einen Privatbrief an Althoff; in wenigen Tagen war die Sache erledigt ohne Staub aufzuwirbeln.

Es gab so viele gesellschaftliche Verpflichtungen, daß der Besuch der neuen Entdeckungen und Sammlungen (das Museum in den Diocletiansthermen war mir ja neu) und der alten lieben Stätten nur flüchtig sein konnte. Auch deutsche Bekannte und Verwandte waren anwesend, und ich wollte doch wenigstens Pompei besuchen. Die Fahrt nach Neapel machte ich mit meinem ältesten Bruder, zunächst mit der Bahn bis Terracina, wo das alte Anxur und ein sehnsüchtiger Blick zu dem Vorgebirge der Kirke hinüber wieder soviel Geschichte lehrte, wie ein kurzer Besuch im Vei getan hatte. Da versteht man sofort, wie Camillus nach dem Gallierbrande auf den Gedanken kommen konnte, Rom nach Vei zu verlegen (oder die Sage es ihm zuschreibt). Denn die Sümpfe zwischen Palatin, Capitol und Quirinal hat wahrlich nicht die Natur zu einer Reichshauptstadt geschaffen, sondern[261] der eiserne Wille des Römervolkes, das gleich damit seine weltbezwingende Kraft betätigte. Von Terracina ging es auf Goethes Spuren mit dem Vetturin nach Capua. Nachher blieb ich allein ein wenig in Pompei, das mir noch ganz vertraut war. Ich ahnte nicht, daß während dieser Tage in Neapel Unruhen ausgebrochen waren, fand aber gleich bei der Ankunft das Straßenpflaster aufgerissen, sah eingeschlagene Fensterscheiben, aber ernst war es nicht. Die Demonstrierenden hatten gerufen a basso il parlamento, vogliamo il re assoluto; das war einst der Ruf der Bourbonenpartei gewesen. Der Anlaß war vornehmlich die Teuerung des Brotes, aber eine Gärung war im Lande unverkennbar. Ich traf auf dem Dampfer, mit dem ich nach Genua fuhr, einen interessanten italienischen Kaufmann aus Alexandrien, der, wie so oft die Patrioten im Auslande, die Gefahren des Vaterlandes ernsthafter ansah, als die Parteien zu Hause. Sehr bitter sagte er: l'Italia si disfá da se. Er handele am liebsten mit klerikalen Firmen, weil sie die solidesten wären. Als ich nach Mailand hinein wollte, gab es Weiterungen; nur als Ausländer erhielt ich Zutritt, und der Zustand der Straßen, die Erregung des Volkes bewiesen, daß hier noch keine wirkliche Ruhe war. Ich ging auf die Ambrosiana, die zum Glück offen war, und traf meinen alten Gönner Ceriani, trotzdem er die Achtzig überschritten hatte, in alter Rüstigkeit und mit altem jovialem Humor. Als ich ihm dazu Glück wünschte, erwiderte er: »was wollen Sie, mein Großvater ist 94 geworden, mein Vater 90, ich denke es auch so hoch zu bringen«. Daß die Zahlen genau sein könnten, wird man nicht verlangen. Leider hat er doch nicht solange ausgehalten. Noch sprach er geringschätzig davon, daß die jungen Leute Heizung für die Bibliotheksräume verlangten: er hätte das Bedürfnis nie gefühlt. Er gab mir aber auch sehr wertvolle Erklärungen über die Revolte, die auch auf dem Lande, in der Lombardei und den Marken stattfand, und belehrte mich über die agrarischen Zustände, die wirklich unhaltbar wären. Die Kirche hatte die Sache der Bauern vertreten; die Presse griff den Erzbischof von Mailand heftig an. Da verstand ich, was mir ein Bauer gestanden hatte, mit dem ich einmal in den Bergen über Gargnano am Gardasee ins Gespräch gekommen war. Er wies über die nahe österreichische Grenze mit den bitteren Worten: »was haben wir nun davon, daß wir zum regno gehören: denen da drüben geht es viel besser.« Eine scharfe Beleuchtung der Italia irredenta. 1905 bei der Rückkehr von Athen fand ich in Brindisi Eisenbahnerstreik, der recht unbehaglich war. Es kostete viele Zeit und die entschlossene Benutzung jeder Möglichkeit, etappenweise vorwärts zu kommen und endlich Verona zu erreichen. In[262] Rom hatte ich aus italienischem Munde gehört, daß eine Erfahrung, die ich 1890 gemacht hatte, durchaus nicht vereinzelt war. Mir war ein falscher 20-Lire-Schein in Bologna am Bahnhofschalter beim Wechseln herausgegeben. Wie sehr freut sich ein Freund Italiens, daß so etwas nicht mehr möglich ist und l'Italia fá da se.

Im Frühjahr 1903 beschied mich plötzlich Althoff zu sich und eröffnete mir, ich müßte in wenigen Tagen als Vertreter der Regierung mit unserm Rektor Gierke und Harnack nach Rom zum congresso delle scienze storiche. Ich erreichte, daß Bücheler noch zu uns trat, denn der erste lebende Latinist war vor allen dazu berufen, Deutschland in Rom zu vertreten. Das hat mir die unvergeßliche Freude eingebracht, daß ich sehen durfte, wie er es genoß, auf diesem Boden zu wandeln, der ihm fremd und doch so heilig war. Ich sparte einen Nachmittag aus und führte ihn über den Aventin zum Monte testaccio, wies ihm die historischen Örtlichkeiten, soweit sie das Auge erreichte. Jede begrüßte er mit Entzücken, und als ich ihm gar das schöne Stück der Serviusmauer unter S. Saba zeigte, streichelte er gerührt die Steine und murmelte »das sind sie, sind sie wirklich«. Die philologische Sektion wählte ihn in der ersten Sitzung zum Vorsitzenden und er sprach lateinisch, was zuerst befremdete. Am nächsten Tage trat ich an seine Stelle und folgte seinem Beispiel, Italiener schlossen sich an, erfreut, ihre Beherrschung der Sprache zu zeigen; es gefällt ihnen immer, wenn es ein Ausländer dazu bringt; ein Engländer bleibt freilich unverständlich und seine Aussprache erscheint barbarisch. Der Kongreß verlief ungestört; nur die Eröffnungssitzung war so langweilig, wie die endlose Wiederholung derselben Allgemeinheiten zu sein pflegt, und der Minister, der die italienische Regierung vertrat, machte cattiva figura, obwohl der Ausländer noch nicht wußte, wie es um den Herrn Nasi stünde; er ist bald mit üblem Geruche verschwunden.

Es war mir recht wertvoll, daß ich bei den Italienern nirgend auf nationalistische, den fremden Instituten feindliche Gesinnung stieß, die sich doch manchmal geregt hatte, sondern der gute Wille zur Zusammenarbeit geflissentlich betont ward. Von unserem Institute vermieden sie aber auch nur ein Wort zu sagen, was ich mit anderen Beobachtungen als bedeutsam vermerkte. Traurig waren die Eindrücke, die ich bei einem Besuche der Villa Lante empfing, nicht nur von Helbig, sondern auch von der Principessa. Sie war leidend, durch freiwilligen Dienst in einem Krankenhause übermüdet, der Welt, in der wir zusammen froh gewesen waren, entfremdet. Von ihnen beiden wollen wir nur das Bild ihrer Jugend festhalten. Der König gab im[263] Quirinal ein großes Festmahl; bei den endlosen Vorstellungen war er ersichtlich erleichtert, mit mir italienisch sprechen zu können, die imponierend schöne Königin sprach mich gleich in echt wienerischem Deutsch an; die montenegrinische Prinzessin war dort erzogen. Bei Tisch kam ich neben Herrn Dérembourg von der Pariser Akademie zu sitzen, der gleich von seinem Vetter Dernburg sprach, dem hervorragenden Juristen und Vertreter der Berliner Universität im Herrenhause, und unverblümt zu erkennen gab, er wünschte Korrespondent der Berliner Akademie zu werden; ich sollte es auch in Paris werden, wo ich schon einmal bei der Wahl durchgefallen wäre. Ich enttäuschte ihn schon dadurch, daß ich durchaus nicht verstehen wollte, was er meinte. Wir sind an solchen Kuhhandel nicht gewöhnt.

Nach Florenz bin ich noch einmal 1911 zum Kollationieren gleich nach Semesterschluß ohne Aufenthalt gefahren. Es war der heißeste Sommer und auf der Höhe des Apennin entlud sich ein Gewitter, ohne die Glühhitze zu mildern. In den Reisenden hatten sich alle Bande der Dezenz gelöst; in einem Kupee lag ein Mann so ziemlich im Badekostüm, selbst eine ältliche Engländerin zeigte sich im Deshabillé; als ein wenig Regen kam, streckte sie ein Taschentuch hinaus, um das laue Naß daraus zu saugen. Ich war von der ununterbrochenen Fahrt auch arg mitgenommen, aber das Wiedersehen der geliebten Stadt belebte. Ich ging nach der Ankunft sofort in das Battistero, wo etliche Kinderchen recht geschäftsmäßig getauft wurden, und in die Kühle des Domes. Da hielt ein Geistlicher hinter dem Altar eine Ansprache über die Verkehrtheiten der modernen Erziehung vor zahlreichem, offenbar sehr gewähltem, meist weiblichem Hörerkreise. Die beredte Rede, die sehr gesunde Gedanken in der schönen Sprache nicht ohne Leidenschaft vortrug, fesselte mich; der Redner ging, wie man es oft findet, auf einer Estrade hin und her, mußte aber Pausen machen, um sich den Schweiß abzutrocknen. Ich fand auf halber Höhe unter Fiesole ein Unterkommen mit erträglicher Hitze; die Erde im Garten war unter der Sonnenglut vielfach geborsten, aber der Gärtner war mit dem Wetter ganz zufrieden. In dem stickigen Arbeitsraume der Laurentiana hielt ich nicht so gut aus wie 1873, sondern mußte eine Pause machen und mich an Chianti und Schinken mit Feigen auf Eis wieder leistungsfähig machen. H. Wegehaupt arbeitete durch und verdarb sich seine Augen an dem Palimpseste von Plutarchs Moralia, den bisher alle vermieden hatten; das pralle Sonnenlicht war für die Entzifferung günstig, aber für die Augen kaum erträglich. Ich habe die erfolgreiche Kollation nachher der Akademie vorgelegt. Der treffliche und allgemein geliebte Mann, mir ein besonders werter Schüler, hat 1914 sein Leben in tapferstem Kampfe für das Vaterland[264] hingegeben. Von Bekannten war Florenz leer, aber Bauten und Bilder waren ja auch gute Freunde, und von Büchern nahm ich in Sem Benellis Cena delle beffe ein packendes Drama mit, das von dem Leben des großen Florenz ein wahreres Bild gibt als Gobineaus Renaissance. Von meiner Fahrt nach Kyrene im Jahre 1927 schweige ich hier.

Nun die griechischen Reisen. 1903 wollte ich meiner Frau zur silbernen Hochzeit Athen zeigen und selbst ein Vierteljahr zu weiterer Umschau, namentlich auch in Kleinasien, verwenden: es war das erstemal, daß ich die Ferien so lange ausdehnen wollte. Wir fuhren gegen Ende September auf der Therapia, einem Schiffe der Levantelinie, aus Hamburg ab, was neben dem Genusse der Seefahrt (Sturm im Busen von Biscaya, Vollmond in der Straße von Gibraltar) einen kurzen Besuch von Lissabon, Algier, Tunis, Malta gewährte. Lissabon entspricht dem Rufe, zu den schönsten Städten der Erde zu gehören, durchaus nicht; schon das breite Gewässer verbietet die Vergleichung mit Neapel, Konstantinopel und Stockholm. In Algier widerte die Verkommenheit der Araber an, um so stärker wirkte das Nationale in Tunis, aber da war auch das Museum des Bardo mit seinen Mosaiken, darunter dem Porträt Vergils, das noch, wie die republikanischen Porträts, einen Römer ganz ohne die Verfeinerung, Vergriechung des Klassizismus zeigt, obgleich der Dichter ein Hauptführer dieses Klassizismus war. Und erst Karthago. Das muß man sehen, dann springt in die Augen, daß hier eine Stadt liegen mußte, die um die Herrschaft des Meeres ringen durfte, ganz anders als Rom und auch Athen von der Natur für die geschichtliche Rolle geschaffen. Aber im Museum zeigt sich die Abhängigkeit von Ägypten und Hellas, die geistige Impotenz der Phönikier. Wie anders hatten die Etrusker und Italiker das Fremde aufgenommen, um das Nationale zu steigern. Nur die europäische Herrschaft der Römer hat auf einige Menschenalter in Afrika eine eigenartige Kultur erzeugt, auch in Apuleius, Cyprian und Augustin, die noch unter den Vandalen fortlebte.

Die Therapia war voll von Vergnügungsreisenden, von denen wir uns fernhielten, allein ein Kostümfest, das der lebenslustige Kapitän auf der langen Fahrt hinter Malta veranstaltete, wirbelte die ganze Gesellschaft durcheinander. Die Mehrzahl war gegen alles, was Kunst oder Geschichte ist, blasiert, es fiel auch die Kritik, in Athen wäre nichts los, da bliebe man am besten an Bord, wo es kühles Bier gäbe; erst in Konstantinopel wären die Hotels auf der Höhe. Aber es fehlte nicht an einzelnen, die mit echter Begeisterung für Hellas reisten, namentlich ein Kaufmann aus Elberfeld,[265] empfand ganz wie wir. Ich widmete ihm zur Erinnerung einige Verse, die hier ein bescheidenes Plätzchen finden mögen:


Die Blätter weiß von Kalkstaub, die der Nord

nicht abriß und der Hundstern nicht verbrannte.

Die Myrte müde, Asphodill verdorrt,

der Lorbeer durstig, Stoppeln die Akanthe,

so liegt das Land Athens an Sommers Neige;

lohnt es der Müh', daß ich vom Schiffe steige?


So fragt der Wandrer, und der Rezinat

wird ihn nicht trösten noch die Oktopoden.

Rasch ist das Urteil fertig »ich betrat

doch bei den Griechen nur Barbarenboden,

und wenn die Speisekarte schofel is,

was kof' ich mir für die Akropolis«.


Jawohl, mein wertester Kulturnomade,

du hast ganz recht, wenn dir Athen nicht paßt.

An Komfort fehlt's, es riecht nicht nach Pomade,

kein Badezimmer und kein Bierpalast.

Und was als Altertum sich dicke tut,

ist merschtendels ganz jämmerlich kaput.


Nur wer die Andacht kennt vor Tod und Schweigen,

wer an die Freiheit glaubt, an Gott und Wahrheit,

dem lohnt es, zur Akropolis zu steigen,

der schaut Athena in der lichten Klarheit.

Andächtig spricht er dann mit Jakobs Wort:

gewißlich ist der Herr an diesem Ort.


In Athen fanden wir die liebenswürdigste Aufnahme bei dem Sekretär, Prof. Schrader; sonst war nur Adolf Wilhelm anwesend, der uns von Göttingen her gut bekannt war, später auch nach Delos mitkam. Griechische Kollegen suchte ich nicht auf, denn zunächst sollte meine Frau Athen genießen, den Blick von Tatoi mit seinem schönen Walde, den ein teuflischer Mordanschlag auf den König nun verbrannt hat, und die Burg im Mondschein. Nach einigen Tagen geleitete ich sie bis Patras, von wo sie allein nach Hause fuhr, während ich mich in Akrata, einer Station halbwegs auf Korinth zu, mit zwei Reisegefährten treffen wollte, Hiller von Gaertringen als Reisemarschall und Alard du Bois Reymond10. Er war ein ausgezeichneter Mann,[266] im Leben Patentanwalt, aber im Herzen ein echter Naturforscher, also für Wissenschaft, auch wo sie ihm neu war, voll empfänglich. Es war mir wenigstens ebenso erfreulich wie förderlich, wie ein ganz modern eingestellter Mensch die Eindrücke der Natur aufnahm und das Leben der Gegenwart beobachtete, das unsereinem in Griechenland nur ein Hemmnis auf dem Wege zu dem Hellas ist, das wir suchen. Es liegt nicht nur daran, daß Italien seine eigene große Kunst hat, während in Griechenland eine lange Reihe leerer Jahrhunderte zwischen uns und dem Altertum liegt. Das orientalische Christentum hat den Griechen allein die Kraft verliehen, ihre Nationalität zu bewahren, aber es hat dafür den Zusammenhang mit dem alten Hellenischen so gut wie ganz zerrissen. Es fehlt auch die ungezwungene laute Fröhlichkeit des italienischen Volkes. Geblieben aber ist die Natur in Land und See, Quellen und durstigen Fluren; sie lehrt die Geschichte der Hellenen erst verstehen, die Bedingungen ihres Lebens, in vielem auch ihres Seelenlebens. In Akrata fiel mir auf, daß der ansehnliche Bach, der hier mündet, das stille Meer weithin rot färbte, und ich erinnerte mich, daß Euripides einmal dem Krathis nachrühmt, er färbe blonde Haare rot; aber er sagt es von dem Krathis in Unteritalien, der nur seinen Namen von dem Flüßchen Achaias hat, an dem ich stand. Die Tradition im Gedächtnis, die Augen offen: dann lohnt ein Augenblick Stunden ärgerlichen Wartens. Die wurden lang, denn als die beiden Gefährten kamen, war weder in Akrata noch in Aigion-Vostizza ein Boot zu haben; zurück also nach Patras, aber auch da verspätete sich der Dampfer lange und war mit Men schen, Ziegen und Hunden so überfüllt, daß die Nachtfahrt kein Vergnügen war, in der Kajüte ein unerträglicher Menschendunst, auf Deck blies ein frostiger Nordost.

Aber es ging ja nach Delphi; schon die uns aufgezwungene Wagenfahrt (wir wollten natürlich reiten) hinauf war herrlich, und wie anders stellte sich nun das Heiligtum dar. Das Dorf Kastri war verlegt, das Heiligtum aufgedeckt, die reiche Beute an Skulpturen in einem Museum geschmackvoll aufgestellt; um die Inschriften kümmerten wir uns nicht. Mein Interesse fesselte vor allem die sog. Marmariá, wo ich mit Recht das älteste Delphi ansetzte, das von Apollon noch nichts gewußt hatte. Sein Tempel ist in Wahrheit gar keiner, sondern umhegt den Orakelraum, wie er auch in der alten Zeit genannt wird; ein Bild hat er nie gehabt. Der Platz wird der Inkubation schon gedient haben, ehe der fremde Gott die hellenische Erdgöttin und ihren Gatten Poseidon verdrängte. Der Leiter der französischen Ausgrabungen, Th. Homolle mit seinem Stabe, war[267] anwesend, äußerst höflich, und lud uns zu einem üppigen Mahle, bei dem oft eine befremdende Stille herrschte. Denn sein Gefolge benahm sich wie Fähnriche an einer Galatafel im Kasino, aß schweigend, wenn nicht einer von dem hohen Vorgesetzten angerufen ward. Unterdessen unterhielt sich Homolle halblaut mit mir; wegwerfende Urteile fielen über griechische Gelehrte, selbst den von mir wie von allen, die sich um die Sprache kümmern, hochverehrten Hatzidakis. Der Gegensatz dieser militaristischen Subordination zu der fröhlichen Freiheit bei uns ist mir nicht nur hier aufgefallen. Als ich Manuskripte der Inschriftenausgabe von der französischen Akademie unter die Hände bekam, staunte ich, wie die strengsten Forderungen an Abgeschlossenheit der Ausarbeitung und Lesbarkeit der Schrift erfüllt waren. Da regte sich freilich der Wunsch, daß die deutschen Bearbeiter wenigstens einigermaßen ähnliche Manuskripte einlieferten.

Von Delphi ging es diesmal zu Schiff nach Korinth, wieder mit ärgerlicher Verspätung, weil Ochsen eingeladen wurden, so daß der Aufenthalt verkürzt werden mußte, denn wir strebten nach Athen zur Inselreise. Da fügte es sich, daß die Fahrt von Syra, diesmal nach Mykonos, wieder auf einem kleinen Boote und wieder mit Windstille und Seekrankheit, bei einigen wirkliche Krankheit, lang und peinlich war. In dem Museum war der Reichtum stark gewachsen; die besonders wichtigen Funde der bei der Reinigung der Insel im Jahre 424 nach Rheneia überführten Gräber führte uns ihr Finder Stavropulos vor; sie sind immer noch nicht veröffentlicht. Delos war nun ganz verändert. Mr. Combert, der französische Architekt und seine Frau, eine Griechin, nahmen uns mit größter Liebenswürdigkeit auf; in einem Nebenhause gab es Unterkunft, die meinen Ansprüchen durchaus genügte, das Souper war prächtig; sowohl in dem Tischgespräche wie in den nun ganz sauberen Ausgrabungen war viel zu lernen. Verblüffend war die Frage: »haben Sie auch ein Krokodil gesehen?« Ich wußte wohl von der seltsamen antiken Fabel, daß der kleine heilige Bach Inopos Nilwasser führen sollte, aber das mit dem Krokodil hielt ich für einen Spaß. Das war es nicht. Es gibt auf der Insel eine Art Eidechsen, die über einen Fuß lang werden und Krokodile heißen. Das erklärt die alte Fabel; der Glaube an Flüsse, die nach einem unterirdischen Laufe wieder hervortreten, war verbreitet und beruhte auf einigen richtigen Beobachtungen. Der Name Krokodil ist also griechisch oder vielmehr von den Griechen aus einer älteren Sprache übernommen und auf das ägyptische Tier übertragen.

Von Delos fuhren wir drei auf einem tüchtigen Segelboote nach Paros; du Bois entsetzte sich über die veralteten und unpraktischen Segel; er war[268] Fachmann und pflegte auf eigenem Boote die Ostsee nach allen Richtungen zu durchkreuzen, hat schließlich mit seinem jüngsten Sohne in tragischer Weise auf diesem Meere den Tod gefunden. In Paros sind die Reste des Altertums zahlreich, aber unansehnlich. Eine Grabung unseres Institutes, die tief in die vorgriechische Inselkultur geführt hatte, macht davon keine Ausnahme. Zu den Ruinen gehörte eine Eisenbahn zu den Marmorbrüchen, deren Schienen verrostet auf dem zerfallenden Unterbau herumlagen. Solche halbvollendete oder preisgegebene Anlagen sind gar nicht selten.

Ein Dampfer führte über Naxos an Ios vorbei nach Thera, unserem eigentlichen Ziele. Hiller hatte auf eigene Kosten in mehreren Kampagnen die alte Stadt ausgegraben und die Ergebnisse in einem großen Werke veröffentlicht. Dies alte Thera sollte besichtigt werden; ich wollte mir auch ein Urteil bilden, ob eine Fortsetzung der Grabung aussichtsreich wäre. Die Möglichkeit weiterzugehen ist ja immer vorhanden, aber hier schien es richtig, Schluß zu machen und die Inschriften in einem Ergänzungshefte zu vereinen, welche seit dem Bande der Inselinschriften entdeckt waren, den Hiller wenige Jahre vorher vollendet hatte. Er hatte schon seit 10 Jahren in Wahrheit für dieses Unternehmen seine Arbeit und seine eigenen Mittel eingesetzt. In Thera war er, wie er es verdiente, ein Wohltäter, den die Honoratioren ebenso wie seine Arbeiter verehrten, was bei diesen in wirklich rührender Weise hervortrat, bei den anderen manche Eifersüchteleien hervorrief, die für uns nicht immer erfreulich waren. Die moderne Stadt, hoch auf dem Rande des Kraters gelegen, dessen Tiefe den sicheren Hafen bildet, samt den anderen an sich merkwürdigen vulkanischen Erscheinungen durfte uns nicht aufhalten; nur du Bois fuhr später zu den »verbrannten Inseln«. Wir ritten nach dem alten Thera an den Ostrand der Insel. Denn die Griechen hatten dem vulkanischen Boden, den eine Bimsteinschicht deckte, nicht getraut, sondern einen Berg gewählt, dessen Kalkstein den anderen Inseln entspricht, obgleich die nächste ergiebige Quelle weit entfernt liegt. Auf einem noch höheren Gipfel haben die Christen ihr Kloster gegründet. Zu dem ging zunächst unser Ritt über die Felder, die ganz mit den nun abgewelkten Rebstöcken bestanden waren, deren Trauben den schweren Santorinwein liefern; jetzt glühten Tomaten zwischen den nackten Stöcken. Dem Abt mußte gehuldigt werden, denn er lieferte die Matratzen und anderes Hausgerät für den hellenischen Grabbau, in dem früher Hiller mit seinen Helfern gewohnt hatte und wir nun die beste Unterkunft fanden. Schon von hier war die Aussicht bezaubernd, Sonnenaufgang und der Blick über das Ostmeer mit seinen Inseln. An einem hellen Tage unterschieden wir eine Linie am Horizonte,[269] die nach der Karte nichts anderes sein konnte als das knidische Vorgebirge der asiatischen Küste. Man sieht so weit, wie die Krümmung der Erdkugel gestattet. In der Abendsonne schien die nahe Insel Anaphe Feuer zu fangen; danach heißt sie. Von der Burghöhe zeigen sich dem Blicke auch die kretischen Berge. Es gab in der Stadt und der Gräberstadt viel zu sehen, auch an den uralten Inschriften nachzuprüfen, die von den Theräern in den nackten Fels gegraben sind, und die Luchsaugen der Griechen entdeckten hoch an Felswänden neue Namen; man sieht keinen praktischen Grund, weshalb sie da in ältesten Zeiten eingegraben sind. Auch in die weitere Umgegend wußte Hiller manchen lohnenden Weg zu führen, auch hinab an das Meer zu lauem Bade, trotzdem es Novemberanfang war. Einmal begann es zu regnen, als wir noch auf den Matratzen lagen, da sprangen wir auf, hinaus in die erfrischende, himmlische Dusche, aber zum Entsetzen des griechischen Dieners, denn der Orient mit seiner sehr unhellenischen Prüderie hat den Griechen die natürliche Nacktheit anstößig gemacht. Unser Aufenthalt war durch den Abgang des nächsten Schiffes vorher bestimmt, so daß sich nichts ändern ließ, als ein trotz der griechischen Sprache verstümmeltes Telegramm uns auf dem Berge erreichte; Schrader war so freundlich gewesen, den Text umzuschreiben, der mir aus Berlin Mommsens Tod meldete. Ich entschied mich zur Heimkehr, die freilich viele Tage in Anspruch nahm. So kam es, daß ich statt nach Weihnachten Mitte November die Vorlesungen aufnahm.

Den so versäumten Besuch Kleinasiens konnte ich zwei Jahre später nachholen, da ich als Vertreter Deutschlands und zugleich unserer Akademie zu einem archäologischen Kongresse nach Athen gehen sollte und die Osterferien Raum boten, vorher Konstantinopel und Asien wenigstens flüchtig kennenzulernen. Hiller war wieder von der Partie, und in Konstantinopel schloß sich auch du Bois an. Nach der langen Eisenbahnfahrt in Constanza dicht an den hellerleuchteten Dampfer zu fahren und in diesem ein in Wahrheit deutsches Schiff zu betreten, war eine erfreuliche Überraschung; das Tomi des Ovid blieb freilich unangeschaut. Nach der Nacht war ich zum Glück früh genug auf Deck, die Inselchen vor der Einfahrt in den Bosporus zu sehen: sie liegen so, daß sie den Glauben an die Symplegaden nicht erzeugt haben können. Ihn hat die Phantasie der Schiffer geschaffen, die ein Eindringen in den Pontos für unmöglich hielten; deshalb konnte nur göttlicher Beistand einem Schiffe der größten Helden einmal hindurchgeholfen haben. Erst als vielen Schiffen auch die Rückfahrt gelungen war, hatte die Argo das Tor für immer geöffnet. Die »blauen« Inseln holte schließlich rationalistische Erklärung heran.[270]

In Konstantinopel gab ich mich ganz in die schützenden Hände von Theodor Wiegand und war geborgen. Sein schönes Haus in Arnautkiöi am oberen Bosporus nahm uns auf, er wußte die Wunder von Konstantinopel zu zeigen, Belehrung aller Art über die Monumente, die Türken und den Sultan zu geben, und übernahm weiter die Führung, gleich sicher und vorbildlich in der Behandlung von Türken, Armeniern und Griechen; die Mittel waren je nach Bedarf sanft oder auch sehr kräftig, durchschlagend nicht nur in metaphorischem Sinne. Die Stadt wird nun bald auch modernisiert ihren Charakter und ihren Zauber verlieren; schon daß die Hunde mit ihrer Selbstverwaltung umgebracht sind, ist ein unersetzlicher Schade. Es war gerade Gelegenheit, die persische Trauerfeier für die Söhne Alis zu sehen, bei der sich unter aufreizender Musik und Klagegeheul die Gläubigen mit kurzen Schwertern an Haupt und Brust und Armen schneiden, so daß immer mehr Blut fließt, ein widerlicher Anblick, dem wir uns bald entzogen, denn sie tun es ziemlich geschäftsmäßig, schauspielerhaft. Aber zur Veranschaulichung antiker Klageprozessionen ist es gut, so etwas gesehen zu haben.

Eine nächtliche Dampferfahrt brachte uns nach den Dardanellen. Der Ritt von dort nach Hissarlik führte über die überschwemmte Niederung, den Kampfplatz der Ilias. Die Burg, die das zweite Jahrtausend über ein mächtiger Herrensitz gewesen ist, hat mit dem Meere nichts zu schaffen gehabt, sondern schützte ihr Hinterland und das obere Skamandertal. Als der Seehandel einen Platz am Meere forderte, ist Alexandreia Troas erbaut und hat einen künstlichen Hafen erhalten: es wird noch einmal ein vornehmer Ausgrabungsplatz werden; wir durchritten die Ruinen, als wir von Hissarlik zum Ritte nach Assos aufgebrochen waren. In Ilion war ich bemüht gewesen, die Lage und die Bauten unbeirrt durch Homer zu betrachten, probierte aber, wie man, vielmehr daß man nicht um den Mauerring laufen kann, wie es Hektor bei Homer tat, machte auch einen Abstecher nach dem Orte, wo Demetrios von Skepsis sein Ilion etwa hinverlegt hat; gerade weil die Hypothese toll ist, hätte man die Stätte auf- und untersuchen sollen. Bunarbaschi besuchten wir nicht; einst verlegte man dorthin ein Ilios, das zu Homer stimmen sollte. Das geht nicht mehr; dafür dekretiert man, daß die Erde sich geändert hat oder die Griechen sich alle geirrt haben, wenn sie das Schiffslager an den Hellespont, das Grab des Protesilaos nach Elaius verlegten. Der Homer der Kypria und der der kleinen Ilias haben also den Homer der großen Ilias nicht mehr verstanden, aber unsereiner begeht ein Verbrechen an dem Dichter, wenn er seine Poesie als Poesie nimmt, wie es einst seine Hörer taten.[271]

Der Ritt über den Kamm des Ida war schön, aber kalt. Ein Nachtquartier bei einem türkischen Bey war gut, aber der Wirt saß, wenn auch abseits, bei uns noch lange, nachdem das Mahl zu Ende war und wir gern geschlafen hätten. Wiegand mußte Konversation machen, und da Schnaps kein Wein, also vom Propheten nicht verboten ist, stieg die Laune des Türken. Am andern Morgen erschien er nicht zum Abschied, und unsere Leute hatten erfahren, daß seine Frau ihn mit einer gehörigen Gardinenpredigt im Harem empfangen und weiteren Verkehr mit den Giaurs untersagt hatte.

Assos hat der amerikanischen Ausgrabung viel gebracht, aber vollendet ist sie durchaus nicht und die Ruinen versprechen noch Gutes. Es war kein Handelsplatz, sondern Ackerbaukolonie, denn die Reede tief unten ist ein kümmerlicher Anlegeplatz. Es glückte uns aber, einen Kaik zu finden, der oben mit trocknem Schafmist vollgeladen war, auf dem man sich weich und warm lagern konnte, um nach Molivos-Methymna überzusetzen. Dort wollten wir nicht bleiben, sondern das nahe blühende Griechendorf Petra aufsuchen. Unterwegs kam ein Grieche in europäischer Tracht auf Hiller zu, ein Bekannter aus Rhodos, türkischer Beamter, der nannte uns einen wohlhabenden Herrn für Petra, der uns mit Begeisterung aufnahm. Es war bei ihm für unsere Toilette etwas zu europäisch; zumal ich hatte mir die Hose an einem Nagel des Sattels arg zerrissen, und gerade mich rekognoszierte er aus einer griechischen illustrierten Zeitung, in der mein Bild stand. Zur Fahrt nach Mytilene versprach er einen Wagen und rühmte, wie sich zeigte, mit vollem Rechte die Chaussee, die von den Anliegern, Türken und Griechen, gemeinsam erbaut war. Die beiden Rassen und Konfessionen vertrugen sich also hier: es ist ein Verhängnis für beide, daß ihre Staaten diese Politik nicht zu befolgen verstanden haben; die eigentliche Schuld liegt freilich an den Großmächten, denn diese haben aus eigensüchtigen Beweggründen immer zum Hasse und zum Kriege geschürt.

Die Fahrt nach Mytilene ging durch wohlangebautes Land oder durch Wald; nur hingen ganze Klumpen von Raupen an den Zweigen der Strandkiefer, die man gewähren läßt. Wiegand untersuchte die Stätte von Pyrrha, ob sie eine Ausgrabung lohnen würde, aber sie war ganz mit Ölbäumen bestanden, deren Ankauf zu kostbar sein würde. Es dunkelte, als wir uns Mytilene näherten, so daß wir die schönen Haine und Gärten von Lesbos nur eben ahnten, durch die der Weg geht. Die Stadt mit ihren zwei Häfen und ihre unveränderte Natur und Besiedelung war am andern Tage bald besichtigt; der Dampfer führte nach dem damals blühenden, halb europäisch, halb griechischen Smyrna, dann ging es weiter nach Ephesos, Priene, Milet, Didyma.[272] Dies Ionien kennenzulernen ist eine Offenbarung, schon durch den Gegensatz der Weiträumigkeit zu der Enge des Mutterlandes. Dazu der Reichtum der architektonischen Funde, die der flüchtig Reisende nur dank einer so kundigen Führung etwas begreift, wie sie Josef Keil in Ephesos, Wiegand in seinem Reiche allein gewähren können. Priene mit seinem einzigen, aber riesigen Gotteshause gemahnt an kleine mittelalterliche Städte, die sich doch einen prächtigen Dom gebaut haben. Hier waren die Bewohner Ackerbürger, die sich mit winzigen Häuschen begnügten, aber sie hatten Wasserleitung und Kanalisation und ein stattliches Gymnasium; darin sind diese Hellenen den Europäern ziemlich bis in unsere Tage weit voraus gewesen. Oben über der Stadt haben die Frauen ihr besonderes Heiligtum, das uns die vielen ähnlichen vertreten kann, die es in solcher Lage vor vielen Städten gegeben hat. Auch die Verehrung wird nicht viel anders gewesen sein, gerade weil die Terrakotten der Baubo Mysterienschwärmern anstößig sind.

Das Frühlingswasser des Mäander hatte das ganze Delta in einen See verwandelt, so daß wir in einem Boote an der Theaterbucht Milets landeten und Lade wieder eine Insel war. Auf ihr war ein Zigeunerdorf, und auf der westlichen Höhe lag eine griechische Kapelle, ganz einsam. Wir fanden sie offen, und auf einem Zinnteller lagen Wachslichtchen, von denen der Besucher den Heiligen zu Ehren eins ansteckt und eine Kupfermünze dafür hinlegt. Einige lagen hier: die Menschen verschiedenen Glaubens achteten auch die fremden Götter. Auch in dem Dorfe Balat auf dem Boden Milets lebten Griechen und Türken friedlich durcheinander. Die Türkenhäuser trugen Storchnester, denn der Türke verehrt im Storche den Vogel, der zum Grabe des Propheten pilgert; der Christ brät ihn sich. Jetzt sind die Griechen ausgemordet oder vertrieben; Äcker liegen weithin öde. Es ist nicht mehr Religion, sondern Politik, die solche Scheußlichkeiten hervorruft. Sind sie im Grunde scheußlicher, als daß ein englischer Gelehrter ein Flugzeug nach Didyma dirigierte und eine Bombe in das verlassene deutsche Haus werfen ließ? Es konnte gar keinen anderen Zweck haben, als die deutsche Wissenschaft zu schädigen. Den Hunnen galt es: diese Hunnen retteten gleichzeitig die Papiere der amerikanischen Expedition in Sardes. Die Franzosen zerschossen das leere Johanniterschloß von Budrun. Wozu?

Das deutsche Haus in Akkiöi über Milet, in dem wir herrliche Tage verlebten, ist jetzt auch vernichtet. Wie zauberhaft stieg die Mondscheibe über den zackigen Grat des Latmos empor: Selene küßte den Endymion, dessen Grotte in dem Granit des Latmos liegt. Wie schweifte ein sehnsuchtsvoller Blick von Didyma hinüber nach den südlicheren Inseln, Kos zumal, die unerreichbar[273] blieben. Der Ritt auf flinken kleinen Pferden, Wiegand auf einem mutigen Araberhengste, war noch ein letztes frisches Aufatmen in Freiheit und Natur. Dann mußten wir uns eilen, zum Archäologenkongresse nach Athen zu kommen, in Kultur, Menschengewühl und Politik.

Der Kongreß verlief, soweit man sehen konnte, zu allgemeiner Befriedigung; die Griechen hatten alles geschickt vorbereitet, die letzten Anordnungen aber in die Hände eines Komitees gelegt, in das die Vertreter der wichtigsten Staaten berufen wurden. Es galt, gleich am Vorabend der feierlichen Eröffnungssitzung für diese die Ordnung der Redner zu bestimmen, und es drohte jene entsetzliche Langeweile, die durch die endlosen Begrüßungsreden entsteht, wenn immer wieder ein Gratulant aufsteht und in einer eigenen Rede oder einer langatmigen Adresse, die er verliest, immer wieder dasselbe sagt. Da machte ich den Vorschlag, es sollte einer für alle Akademien, einer für alle Universitäten sprechen, das erste gebühre der Pariser Akademie, das zweite Oxford um ihres Alters willen. Das schlug durch, denn wenn Deutschland verzichtete, waren andere Ansprüche nicht wohl möglich. Der Erfolg war äußerst günstig, denn die zwei Reden sagten alles, und Percy Gardner fesselte durch die Kunst des Vortrages auch diejenigen, welche die Sprache nicht verstanden. Es klingt eben eine jede Sprache schön, wenn sie ein Meister des Wortes spricht. Hier war dem Redner der Auftrag erst am Abend vorher geworden; da ich das wußte, bewunderte ich doppelt, wie glänzend alles was zu sagen war in kurzen Worten dargeboten ward11. Daß die geistlichen Fürsten, der Papst und der ökumenische Patriarch durch ihre Abgesandten noch zu Worte kamen, war unvermeidlich. Für die auswärtigen Institute und einige andere, die sich hören lassen wollten, war später auf der Burg noch eine Gelegenheit. Da war viel Volks aus der Stadt versammelt und ein alter Fustanellaträger hat am Ende ein treffendes Urteil über die Reden abgegeben, die er alle nicht verstand: der Franzose und der Deutsche könnten allein sprechen. Dörpfelds ungekünstelt aus warmem Herzen quellende Beredsamkeit und M. Holleaux' oratorischer Schwung waren stilistische Gegensätze, die sich ergänzten. Die wissenschaftlichen Vorträge wurden natürlich in den Sektionen gehalten; ich mußte hier zur Epigraphik gehen, in die école Française, denn die französische Forschung auf diesem Gebiete verdiente die Huldigung, und ich ging um so lieber hin, da M. Holleaux die nächste Beziehung zu unserem Institute pflegte. Man sagte sich viele Artigkeiten; die Rede des Kaisers in Tanger und die Marokkokrise störten das Einvernehmen noch nicht.[274]

Nach Griechenland bin ich nicht mehr gekommen, aber 1917 hat mich die Heeresleitung nach Makedonien geschickt, um für die Akademiker der dortigen Heeresteile Vorträge zu halten. Diese wurden auf acht Tage aus ihren Verbänden herausgehoben, um in Prilep nur noch Akademiker zu sein; auf den militärischen Rang kam nichts an. Zum Schlusse ward im Vorhofe der Moschee, in der die Vorträge stattfanden, ein Kommers veranstaltet, dem die Offiziere taktvoll fernblieben, obwohl sie, der General an der Spitze, zu den Vorträgen kamen. Es waren für den Kommers primitive Töpfchen als Seidel gebrannt, Bier beschafft und sogar ein kleines Kommersbuch gedruckt. Auch so etwas ist eine der Blüten des deutschen Militarismus, den die Fremden nie begriffen haben, die Deutschen, soweit sie für die Ehre des Waffendienstes moralisch untauglich waren, auch nicht. Unter den Rednern war Roethe, was dem Ganzen und mir persönlich den Wert der Unternehmung erhöhte. Man war auch mit uns zufrieden und wir durften auf Autos bis Ochrida fahren, obgleich der Weg auf einer Strecke von den Franzosen beschossen ward. Erst an dem See wird Landschaft und Färbung südlich. Die Nacht dort ward aufregend; der Ort war nur mit einem Zuge deutscher Husaren belegt, die Österreicher hatten sich wieder einmal schlagen lassen, Verstärkung konnte erst in der Nacht eintreffen, brennende Dörfer sah man im Süden. Ein Besuch bei den kirchlichen Oberhäuptern war beschwerlich, da sich zuerst keine Sprache fand, die auf beiden Seiten verstanden ward; endlich gestand ein Pope, daß er Griechisch spräche. Ebenso ging es mir mit den Wirten in meinem Quartier: ein Beweis von dem Terrorismus, den die Bulgaren ausübten, vorher die Serben ausgeübt hatten, deren Wüten gegen die Türken, ihre Heiligtümer und Friedhöfe ziemlich in gleichem Stile fortgesetzt ward. Unser Eindruck, daß die Bevölkerung von den Serben nichts wissen will, scheint nach den späteren Erfahrungen richtig zu sein. Unsere Leute hoben aber nachdrücklich hervor, daß ihnen die Serben in ihrem Lande gefielen, und ihre schmucken Dörfer, die man auf der Fahrt durch das Tal der Morawa sah, standen in vorteilhaftem Gegensatze zu den makedonischen. Übrigens hielt uns ein bulgarischer Gelehrter einen sehr gehaltvollen, keineswegs chauvinistischen Vortrag über sein Volk, das er als ein reines Bauernvolk bezeichnete; das Bewußtsein seiner selbst sei ihm durch die Geistlichkeit gekommen, also im Gegensatze zu dem griechischen Klerus und dem ökumenischen Patriarchen. Alles aber komme darauf an, daß sich aus dem Bauernvolke eine höhere, von der kirchlichen Bevormundung, aber auch von fremden Einflüssen (Rußland, katholische Propaganda) freie Oberschicht bilde. Haß gegen die Deutschen bestand auch bei[275] den Serben nicht, sondern nur gegen die Schwob, die Österreicher, und gegen die Ungarn, was sich bei einem Versuche, das wichtige Nisch zu überfallen, sehr deutlich gezeigt hat. Die Landschaft und das tückische Sommerklima kennenzulernen, war auch für das Altertum belehrend, denn in diesen Talkesseln, zwischen mächtigen Gebirgszügen mit beschwerlichen Pässen, haben die Stämme gesessen, aus denen die Hellenen durch ihre Züge nach Osten, das Tal des Axios hinab, und nach Süden gebildet haben. Die Goldmasken von Trebenischte bei Ochrida (ein Fund, der nach unserem Besuche gemacht worden ist) bezeugen, daß sich hier noch jahrhundertelang die Sitte erhalten hat, welche die Fürsten von Mykene dorthin mitgenommen haben. Wie Prilep im Altertum geheißen hat, scheint noch unbekannt; aber in der Römerzeit ist dort eine Stadt gewesen. Reste der Architektur fehlen nicht, und neben einer Kirche lag eine griechische Inschrift guter Zeit, mit der Weihung eines »Veteranen des Prätoriums an den hier verehrten Gott Drakon«; die Schlange war abgebildet. Ob die Eingeborenen urhellenischen oder illyrischen Blutes waren, kann niemand sagen. Über Prilep liegen die ausgedehnten Ruinen einer Burg, die nach dem Heros Marko heißt, etwas weiter im Gebirge ein altes heiliges Kloster, zu dem uns die Bulgaren einluden, ein ebenso belehrender Besuch wie der bei dem freundlichen Oberhaupte der türkischen Geistlichkeit in Prilep, der der deutsche Schutz eine kurze Zeit Sicherheit gewährte. In Usküb-Skoplie hielten wir auch noch ein paar Vorträge: das liegt imponierend am Axios, offenbar eine makedonische Gründung, wie der Name sagt eine »Ausschau«, vorgeschobener Wachposten gegen die Illyrier. Der Niedergang des türkischen, wirtschaftlich und wohl nicht nur wirtschaftlich höchststehenden Elementes der Bevölkerung, war auch hier unverkennbar. Die kurze Anwesenheit der Deutschen wird bei allen Teilen der Bevölkerung nicht leicht vergessen werden, mögen auch die von uns angelegten Autostraßen über die Gebirge verfallen. Und es ist ohne Zweifel ein gutes Gedächtnis, in dem wir stehen werden.


Endlich kann ich mich den wichtigsten Seiten meiner Berliner Tätigkeit zuwenden, zunächst dem archäologischen Institute. Da hat ein Mitglied der Zentraldirektion zwar kaum etwas Nennenswertes zu tun, aber an dem Gedeihen des Institutes habe ich immer lebhaften Anteil genommen, an der athenischen Zweiganstalt seit ihrer Gründung, und immer mehr ist mir klar geworden, daß das Heil der Altertumstudien daran hängt, wie das Institut geführt und ausgebaut wird. Da es ein Jahrzehnt preußisch gewesen, dann bald, 1871, in der ersten Freude auf das Reich übergegangen war, während sonst die Kulturaufgaben[276] den Einzelstaaten überlassen blieben, ergab sich ein gewisser Streit der Ressorts. Das preußische Kultusministerium sah scheel auf die Reichsanstalt, Althoff zumal, der mit Michaelis von Straßburg her in Feindschaft lebte und daher auch die Archäologie an den Universitäten unbillig zurücksetzte. Die Gründung eines preußischen historischen Institutes war ein wenig freundlicher Akt, und es regte sich Begehrlichkeit nach unserer Bibliothek, deren Reichtum an italienischer Lokalliteratur die Historiker reizen konnte. Das Reich zeigte nur wenig Interesse; die Botschafter und Gesandten haben sich in Rom immer, in Athen meistens höchst kühl verhalten. Wir wählten Mitglieder des Bundesrates in die Zentraldirektion, zuerst den hanseatischen Gesandten Klügmann, dann den bayrischen Gesandten Grafen Lerchenfeld, und dieser ist auch in manchen finanziellen Dingen hilfreich gewesen. Aber tieferes Interesse konnte man von dem liebenswürdigen Grandseigneur nicht erwarten, der seit der Gründung des Reiches ein patriotischer Vermittler zwischen Bayern und Preußen war, also sehr viel wußte, aber nur vorsichtig in vertrautem Gespräche einiges davon mitteilte. Mommsen hatte lange großen Einfluß gehabt, war nun aber mit dem Laufe der Dinge nicht einverstanden. Er hatte sich das große Verdienst erworben, die Erforschung des römisch-germanischen Limes in Gang gebracht zu haben, aber die Bodenforschung, die hier allmählich ihre Methode lernte, lag ihm fern und ging ihm zu langsam, und der Anschluß der Römisch-germanischen Zweiganstalt an das Institut lief seinen Ansichten entgegen. Der Erfolg hat ihm in beiden Stücken nicht Recht gegeben, aber zunächst hemmte seine Stellungnahme. Ganz besonders bedauerlich war die offene Feindschaft zwischen Kekule und Furtwängler, dessen Übergehung bei den Wahlen in die Zentraldirektion sich schlechthin nicht rechtfertigen ließ. Immer wieder habe ich mich bemüht, seine Wahl zu erreichen; als es recht spät noch gelang, konnte er sich leider zur Annahme nicht überwinden. Da blieb es nicht aus, daß sich Widerwille gegen das Prinzip der Kooptation und gegen die Berliner regte, die tatsächlich ein Übergewicht hatten. Schon in den 70er Jahren hatte ich Henzens leise, Helbigs überlaute Klagen über die Olympier gehört: 1898 hörte ich sie wieder. Eine in vielem unvermeidliche Umgestaltung hatte den Charakter einer Revolution angenommen, Henzen, Helbig und Mau zugunsten von neuen Männern beiseite geschoben, die sich den Beifall der jüngeren Archäologen zum überwiegenden Teile nicht erwarben. Auch ich hatte meine Mißbilligung der Revolution offen geäußert und war mit einiger Oppositionsstimmung in die Zentraldirektion getreten. Die Mißstimmung richtete sich vornehmlich gegen den Generalsekretär[277] Conze, wegen der Redaktion der Berliner Publikationen wohl nicht ganz ohne Grund. Auch läßt sich nicht leugnen, daß die Form seiner Verwaltung manchmal mehr bureaukratisch war oder schien, als sich selbständige Gelehrte gern gefallen lassen. Conze regierte nach den Prinzipien, die er sich gebildet hatte, mit unentwegter Konsequenz und glaubte wohl, daß gerade der Gelehrte die Strenge des Verwaltungsbeamten anwenden müßte. Bis zuletzt rühmte er sich, in Dörpfeld einen Architekten zum ersten Sekretär gemacht zu haben, auch als die meisten meinten, daß dieser dadurch den Aufgaben entfremdet worden sei, zu denen ihn Begabung und Vorbildung unvergleichlich befähigten. Conze dachte sogar, ihn zu seinem Nachfolger zu machen. Seine persönliche Autorität war so groß, daß Schoene ihm zu folgen pflegte und nur in geschäftlichen Dingen seinen wertvollen Rat gab. Auch Kekule pflegte mitzugehen. Das war auch begreiflich, denn wer Conze in der Zentraldirektion kennenlernte, mußte seine unbeugsame Rechtlichkeit, seine Hingebung an die Sache und die vornehme Haltung gegenüber oft giftigen Anfeindungen anerkennen und bald zu aufrichtiger Verehrung des aufrechten Mannes gelangen. Aber der Tag kam doch, wo er seines Amtes müde ward. So konnte er sich zuletzt ganz seinem geliebten Pergamon widmen. Seine Mitarbeiter berichteten bewundernd, wie er in Mysien wieder jung ward, als leidenschaftlicher Reiter sein Pferd tummelte und sich die vorbildliche Bedürfnislosigkeit seiner Jugendreisen bewahrt hatte. So war der Lebensabend des lauteren, viel verkannten Mannes schön. Mit herzlichem Gefühle habe ich ihm in der Akademie die Gedächtnisrede gehalten, zugleich für Georg Löschcke, dessen belebendes Feuer, das ihm über viel Schweres im Leben hinweggeholfen hatte, das wir daher durch seine Berufung nach Berlin neu anfachen wollten, doch allzufrüh verglomm. Bald durfte ich auch Richard Schoene wenigstens im Tode als unserem Ehrenmitgliede den Nachruf halten; er konnte nur darum nicht ordentliches Mitglied werden, weil er im Ministerium eine hohe Verwaltungsstelle einnahm.

Das athenische Institut erfreute sich im ganzen einer friedlichen und immer reicheren Blüte. Aber in Rom ging es anders, nicht nur weil die Überfülle neuer Entdeckungen nach Griechenland zog. 1898 kam ich auf den Palatin und traf drei deutsche Gymnasiallehrer ziemlich ratlos herumirrend. So wenig ich selbst Bescheid wußte, übernahm ich die Führung. Sie erklärten, daß sie auf eine Berücksichtigung ihrer Wünsche durch die Herren des Institutes doch nicht rechnen dürften. 1903 versuchte ich vergeblich, den Botschafter dem Institute geneigter zu machen; Mommsens pessimistische Haltung, der ich ebenso vergeblich entgegenzuwirken suchte, machte sich[278] fühlbar. Kühle der Italiener gegenüber dem Institute herrschte allgemein und kontrastierte mit der Aufnahme, die wir Delegierte fanden, und die Beteiligung des Institutes an den Veranstaltungen des Kongresses bestand darin, daß der erste Sekretär eine Gesellschaft gab, vor der Eröffnung, so daß die deutschen Delegierten noch gar nicht anwesend sein konnten, und daß eine Adunanz ausfiel. Nicht einmal Führungen für die zahlreichen deutschen Teilnehmer waren vorgesehen, und mit Mühe erwirkte ich wenigstens für Bücheler und einige wenige eine Führung über das Forum, zu den Vestalinnen und Maria antiqua. So etwas war unerträglich, wenn auch Michaelis, der bei seinem Schwager Petersen gewohnt hatte, von oben herab erklärte, alles wäre in schönster Ordnung gewesen; er war nicht selten eine Art von Mitregent neben Conze. Mehrfache Personenwechsel traten ein; es verbietet sich noch, Näheres zu sagen. Im ganzen ward es nicht besser, die Stimmung der Italiener verschärfte sich; die Expropriierung unseres Besitzes auf dem Kapitol erfolgte noch vor der Kriegserklärung unter dem fadenscheinigen Vorwande von Ausgrabungsplänen. Unsere Häuser stehen noch12.

Zu Conzes Nachfolger ward O. Puchstein mit einer Stimme Majorität gewählt. Ein Vertreter des auswärtigen Amtes gehörte damals der Zentraldirektion noch nicht an (eine Einrichtung, die sich votrefflich bewährt), aber mir hat der damalige Referent später gesagt, daß sie eine Wahl mit diesem Stimmenverhältnis nicht bestätigt haben würden. Das wäre Puchstein zu gönnen gewesen und würde vielleicht auch das kostbare Leben des ausgezeichneten Gelehrten länger erhalten haben. Denn das Amt war ihm eine Last, die er unmutig trug, und er entwickelte, skeptisch veranlagt, nach keiner Seite die entschiedene Initiative, auf die es ankam. Und wenn die scharfen Reibungen auch durch ihn und noch mehr durch die ausgleichende Gewandtheit seines Nachfolgers ziemlich beseitigt wurden, von einem Aufschwunge des Institutes ließ sich nichts erkennen, und die Gründung immer neuer Parallelinstitute anderer Länder und ihre rege Ausgrabetätigkeit erforderte doch stärkere Anspannung. Es waren die Jahre, in denen die Berliner Museen ihre großartigen Grabungen, nicht um Museumstücke zu erwerben, sondern im reinen Dienste der geschichtlichen Wissenschaft durchführten. Preußen tat mehr als das Reich.[279]

Der Krieg bedrohte unsere Zweiganstalten mit dem Untergange. Aus Athen vertrieb ein roher Gewaltstreich der Franzosen unseren Sekretär; aber die mitvergewaltigten Griechen blieben treu, und die englische und amerikanische Schule hielten die wissenschaftliche Kameradschaft aufrecht, so daß die Herstellung der alten Verhältnisse bald gelang. In Rom war es schwerer, aber Walther Amelung hat es erreicht. Die Zentraldirektion erhielt einen Vorsitzenden, der den gesteigerten Anforderungen des Amtes gewachsen ist, unverkennbar ist der Aufschwung. Darum hat die tatkräftige Einsicht des Auswärtigen Amtes ganz besonders hohe Verdienste: es war ein Segen, daß das Institut dem Reiche gehört und unter dem Auswärtigen Amte steht. Denn die Macht unserer wissenschaftlichen Stellung, die zu erschüttern sich einige Siegerstaaten vergeblich bemühten, also ihre Bedeutung für die Weltgeltung Deutschlands kam der Reichsregierung zum Bewußtsein. Wenn kein allgemeiner politischer Rückschlag erfolgt, kann die Erweiterung des Institutes durch neue Zweiganstalten nicht ausbleiben, denn Ägypten und der nähere Orient (der ganz tief nach Asien hineinreicht) läßt sich nicht mehr von Athen und Rom fernhalten, noch weniger den dortigen Instituten zuweisen. Eine Selbständigkeit, wie sie die Frankfurter Anstalt besitzt, ist mit der losen Überordnung der Zentraldirektion zu vereinigen, die als Beirat des Präsidenten ihren Zweck erfüllt, einen Beirat, wie die selbständigen künftigen Anstalten ihn auch, freilich nicht so vielköpfig wie in Frankfurt, erhalten müssen. Eine Umgestaltung der Zentraldirektion ist auch unvermeidlich, nicht nur weil die christliche Archäologie und die Prähistorie Berücksichtigung verlangen: die nach langen Verhandlungen und vielen Kompromissen zustande gekommene Zusammensetzung hat zwar zu keinen Krisen geführt, aber es ist ein Widersinn, daß die Staaten vertreten sind, welche eine Universität besitzen, Preußen mit schreiender Ungerechtigkeit behandelt ist und nur Ernennungen durch den preußischen Minister und den Reichskanzler, zum Teil auf Vorschlag der Zentraldirektion, die schlimmsten Ungerechtigkeiten ausgleichen können. Zur Zeit ist es fast nur die Berliner Akademie, die statt ihrer früheren Überzahl noch drei Vertreter wählt, durch die vermieden wird, daß die Zentraldirektion ein Parlament von Professoren der Archäologie wird. Es kommt aber doch vor, daß die Kunstgeschichte so bevorzugt wird, wie sie es gegenüber dem, was die Erforschung der monumentalen Überlieferung heute ist, so wenig beanspruchen kann wie die Philologie Bentleys oder Gottfried Hermanns innerhalb der Erforschung der schriftlichen Überlieferung. Und in der Geschichte, selbst in der Epigraphik läßt sich eine Trennung der beiden Überlieferungen gar nicht[280] durchführen. Es ist eine sehr bedenkliche Tatsache, daß sich fast nur noch archäologische Kunstspezialisten bewerben, Philologen es kaum noch versuchen, und es hat schon dazu geführt, daß Stipendien an Bewerber gegeben sind, die überhaupt gar kein Griechisch verstehen oder nur über die kläglichen Schulreminiszenzen verfügen. Wenn wir die monumentale Philologie, wie es praktisch und gebräuchlich ist, Archäologie nennen, so wird sie in der Altertumswissenschaft die Führung haben; wir sehen, wie belebend sie in Amerika und Schweden wirkt. Aber dann muß man sich auch danach richten, was die Archäologie jetzt ist. Ein ganz auf die Skulptur beschränkter Forscher, wie es Amelung war, wird unter den anders gerichteten seinen Platz haben, einer, dessen Interesse an der Keramik aufhört, wo die wirklich griechische mit dem geometrischen Stile anfängt, meinetwegen auch: aber das bleiben Spezialisten, und das Institut muß auf das Ganze sehen und für alles sorgen. Die Akademien, nicht bloß die Berliner, sind am besten geeignet, Vertreter in die Zentraldirektion zu senden, sollen sich freilich deswegen nicht auf ihre ordentlichen Mitglieder beschränken. Daneben wird die mit Unrecht angefeindete Kooptation in einer oder der andern Form am besten für die nötige Ergänzung sorgen.

Nur mit einem Worte sei ausgesprochen, daß ein entsprechend organisiertes germanisches Institut eigentlich eine unabweisbare Notwendigkeit ist und daß Althoff daran gedacht hat. Ein preußisches konnte es freilich nicht werden.


Das Schwergewicht meiner Lehrtätigkeit lag in dem neu gegründeten Institute für Altertumskunde, und die Zusammenarbeit mit Diels war die Vorbedingung des Erfolges. Arbeitsräume und die Verbindung mit den Historikern vermittelte er leicht, weil er seine Übungen schon in ihren Räumen gehalten hatte. Die Verbindung blieb lose, der Vorsitz wechselte zwischen den vier Direktoren, bis Norden hinzutrat, in dessen Hände dann die Geschäftsführung gelegt ward, denn der Wechsel ist schädlich. Die Verhandlungen mit Althoff wurden schon vor meiner Übersiedlung durch Diels und mich geführt. Sachlich gingen sie leicht, es folgte aber ein charakteristisches Nachspiel. Diels ging etwas früher fort, da rief Althoff: »nun habe ich ihn schon immer Geheimrat angeredet, das muß schleunigst in Ordnung gebracht werden.« So geschah es, und Diels erhielt dann in rascher Folge die Orden, um auch nach dieser Richtung nicht zurückzustehen. Daran merkte ich erst ganz, daß seine Bedeutung bisher nicht voll gewürdigt war und er an der Universität geradezu Zurücksetzung erfahren hatte. Die Akademie hatte dagegen begriffen, was sie an ihm hatte, und er würde sich nach der Wahl[281] zum Sekretär durch das Gewicht seiner Persönlichkeit schon allgemein durchgesetzt haben, aber ich hatte doch die Freude, daß ich dazu den Anstoß gab und mit dem nächsten Kollegen in voller Harmonie zusammen arbeiten konnte. Des war ich sicher. Wir waren seit der Studentenzeit in Fühlung geblieben, und so verschiedene Menschen wir waren, auch vom Leben verschieden geführt und in der Wissenschaft nicht nur in dem was wir trieben, sondern auch wie wir es trieben, verschieden (darauf gerade beruhte unsere einander ergänzende Wirkung auf die Schüler): im Grunde waren wir doch dieselben, die in Bonn ihre Freundschaft begründet hatten. Durch die Verschiedenheit unserer Lebensgewohnheiten ergab es sich, daß wir uns nicht sehr viel sahen und die eigenen Arbeiten, abgesehen von den Papyri, kaum je besprachen, aber jeder von uns fühlte sich im Hause des andern besonders wohl, wozu unsere Frauen nicht wenig beitrugen. Ich muß Frau Diels einige Worte widmen, weil sie in den reichen Mitteilungen von O. Kern über Diels zu kurz gekommen ist. Es ist ganz gleichgültig, daß sie sich in die Äußerlichkeiten des Berliner Lebens niemals ganz hineinfand, sie besaß dafür eine hervorragende weibliche Klugheit und ein unbestechliches Urteil über Echt und Unecht. Als Mutter hat sie mindestens soviel wie der Vater dazu getan, daß die drei Söhne den Eltern soviel Freude und Ehre machten, und dem Urteil der Frau vertraute der Gatte so unbedingt, daß er ihr jeden wichtigen Brief zeigte, ehe er ihn abschickte. Humor hatten beide; in manchen seiner akademischen Reden kommt er prächtig heraus. Die Gemessenheit und Würde, die nun in seiner Haltung herrschte und zu dem Bonner Studenten im Gegensatz stand, war anerzogen. Er hatte sich damit gegen die bitteren Zurücksetzungen gewappnet, die er in Hamburg am Johanneum erfahren hatte. Unter ihr barg sich ein zuweilen sehr heißes Empfinden, gegen Niedrigkeit der Gesinnung ein flammender Zorn, der ebenso plötzlich hervorbrechen konnte wie eine tiefe Rührung, ἀγαϑοὶ δ᾽ ἀριδάκρυες ἄνδρες, was wir für uns Nordländer auf einen Mann abtönen mögen, der die Träne nicht immer verhalten kann. Das schloß nicht aus, daß er in eigener Sache empfindlich sein konnte und nicht leicht vergaß. Eine Behauptung zurückzunehmen, überhaupt das Umlernen ward ihm schwer. Es ist hier nicht der Ort, den Gelehrten zu charakterisieren, denn der Weg von den Doxographen zu den Aristoteleskommentaren (Simplikios) und den Vorsokratikern ist zwar gerade und leicht zu überschauen, aber es gab andere Gebiete, die ihn nicht weniger anzogen. Als ich in der Akademie kurz nach seinem Tode auf den letzten Genossen meiner Jugend sprach, würde ich die Ruhe dazu nicht gehabt haben, gesetzt, die kurz zugemessene Zeit hätte es gestattet.[282]

Da Kirchhoff und Vahlen sich der Zusammenarbeit mit uns versagten, mochten sie ihr Seminar in ihrer Weise weitertreiben; wir nannten das unsere Proseminar, und da für die Anfänger bisher nicht gesorgt war, kamen sie sofort in großer Zahl, aber nicht nur Anfänger, sondern aus allen Semestern, so daß es schwer war, allen etwas zu bieten. Natürlich führten wir gegen die alte Berliner Sitte sofort ein, daß die Mitglieder bei beiden Direktoren gleichmäßig arbeiten mußten. Für die Bibliothek und überhaupt zu unserer Unterstützung hatten wir einen Assistenten, an den sich auch die Studenten mit ihren kleinen Anfragen wenden sollten, namentlich um die richtigen Bücher zu erhalten. Der Assistent hatte auch stilistische Übungen abzuhalten, die durch die sinkenden Leistungen der Gymnasien nötig wurden, vor allem im Lateinischen. Mehrfach fiel auf, daß das Frankfurter Reformgymnasium zwar im Griechischen eher mehr als die alte Schulform erreichte, aber im Latein nur ein klägliches Wissen mitgab. Zu diesen Übungen sind oft Gymnasiallehrer herangezogen; eine Weile bewies Ewald Bruhn, als er Provinzialschulrat war, auch hier sein besonderes Lehrtalent. Der erste Assistent war R. Helm, habilitierte sich bald und nahm dann auch am wissenschaftlichen Unterrichte teil. Da er zum Glück mehrere Jahre bei uns blieb, hat er sich um das Institut höchst verdient gemacht, wofür ich ihm warme Dankbarkeit bewahre. Seine Nachfolger wurden nur zu rasch fortberufen, obgleich wir erreichten, daß die Stelle zu einem Extraordinariat werden konnte, was allein richtig und daher von neuem anzustreben ist.

Mein Göttinger Schüler G. Wentzel fühlte sich von der nicht geringen Belastung als Assistent so bedrückt, daß er sie abwarf. Er war ein so vielseitig interessierter Mensch, befähigt Vorzügliches zu leisten, daß er zuviel anfing und am Ende zu nichts kam. Seine wertvolle Dissertation zeichnet sich dadurch aus, daß ihre Teile gesonderte Seitenzahlen tragen. Er hatte nämlich den Druck, der zu bestimmtem Termine vollendet sein mußte, so vertrödelt, daß die Teile nebeneinander gesetzt und abgezogen werden mußten, was er bei der Druckerei erreichte, weil er Referent für Musik und Theater bei einer im selben Verlag erscheinenden Zeitung war. Er löste dann eine Preisaufgabe der Berliner Akademie so, daß er im Grunde ihre Unlösbarkeit nachwies. Diels hatte geglaubt, die biographische Überlieferung ließe sich so behandeln wie seine Doxographen. Sie steckt aber zum Teil in der Lexikographie, und so geriet Wentzel, durch eine Vorlesung von mir eingeführt, an diese, und ging zuerst mit Feuereifer an die große und dringende Aufgabe, die griechischen Lexikographen zu sammeln, fand auch an Fräulein Vogel für die Vergleichung der Handschriften eine hingebende Helferin, die erste Dame, welche in der[283] Vaticana Zutritt fand; ich habe sie im Vorzimmer des Klosters Grotta Ferrata bei der Arbeit besucht; zu dem Wohnen in einem Nonnenkloster des Dorfes gehörte nicht geringe Selbstverleugnung. Fertig geworden ist nichts, weil Wentzel ein Fanatiker der Akribie war. Zum Glück hat die dänische Akademie unter der Führung von Drachmann sich der Sache angenommen, und sie ist nun in sicherem Fahrwasser, so daß die Vorarbeiten doch noch einmal Verwendung finden werden. Wentzel folgte eine Weile seiner Leidenschaft für die Musik, geriet dann auf den humanistischen Spätling Simon Lemnius und damit in die Kulturgeschichte von Graubünden; vor dem versprochenen Abschluß ist er gestorben.

Wir sahen uns bald genötigt, in unserem sog. Proseminar Neuerungen einzuführen, die ich zu verantworten habe, denn Diels schloß sich gern an, da er die Erfahrungen an kleineren Universitäten nicht gemacht hatte. Das erste war die Schaffung einer Oberstufe, in die eine Prüfung hineinführte. Sie bestand aus einer Übersetzung aus dem Lateinischen und Griechischen, was zuerst als zu leicht beanstandet ward, sich aber durchaus bewährte. Die Gefahr, daß zu viele sie bestünden, war durchaus nicht vorhanden, obgleich ich wenigstens nur leichte Texte wählte. Ovidische Disticha z.B. waren den meisten etwas ganz fremdes. Die Einrichtung hat sich bewährt und an vielen Universitäten Nachfolge gefunden. Ihre rechte Bedeutung erhielt sie erst, als Vahlen nach Kirchhoffs Tode wohl oder übel sein Seminar mit unserem Institute verbinden mußte, wo er die lateinische Interpretation sich vorbehielt. Er wird immer noch mit heilsamer Wirkung die Studenten in seine Strenge der sprachlichen Interpretation des überlieferten Wortlautes eingeführt haben, aber mit Sauppe war sein Alter nicht zu vergleichen; er hatte schon lange aufgehört zuzulernen. Nun ließ sich durchführen oder doch als Prinzip aufstellen, daß in das Seminar nur solche eintreten sollten, welche in die Wissenschaft mit eigener Arbeit einzudringen befähigt und gewillt waren. Das Lateinsprechen und Schreiben hielten wir für das Seminar nach Möglichkeit fest; manche Dinge vertragen es nicht, aber es hat schon den einen großen Vorteil, daß das leere Gerede im Stile der deutschen Schulaufsätze unterbleibt. Die Oberstufe blieb beim Deutschen, soweit nicht einzelne freiwillig lateinisch schrieben, sollte aber denen genügende Ausbildung geben, welche nur dem Examen und dem praktischen Lehrberufe zustreben. Es ist nicht leicht, aber lohnend, sich als Lehrer danach einzustellen. Schließlich geriet ich auf eine Übung, die Diels zwar mitmachte, aber ohne viel Freude, weil er das nicht mochte, worauf es mir ankam; sie ist daher abgekommen. Aber mich hat die Erwartung nicht getrogen, daß die Studenten[284] besonders gern kommen würden, nicht bloß die Unterstufe, die dazu angehalten war. Ich nahm die verschiedensten Dinge vor, Geographie von Griechenland, die Landschaften Italiens, griechische Syntax im Anschluß an ein paar Seiten von Platons Euthyphron, athenische Verfassung mit Aristoteles, griechische Götter oder Heroen. Fragen stellten die Unwissenheit fest und ich gab die Erklärung, beantwortete auch Fragen, welcher Art sie auch waren. Jeder Abschweifung ging ich nach, in welche Gebiete des antiken Lebens sie auch führte, Hinweise auf gute Bücher und Aufsätze, auf eine Statue oder ein Vasenbild, die sie sich ansehen sollten, eine Inschrift oder ein bilderreiches Buch wurden gegeben, Warnungen vor Handbüchern und wertlosem Zeuge fehlten nicht. Unwissenheit ward nicht gescholten, sondern vorausgesetzt, der gute Wille zu lernen ebenso. Ich kann es nicht warm genug empfehlen.

Ein Mangel war, daß die Archäologie nicht mit vertreten war, nur weil es sich in den engen Räumen nicht machen ließ, denn Kekule war durchaus geneigt. Erst nach dem Umzug in den Westflügel des Universitätsgebäudes, als auch Löschcke kam, ist der Archäologe zu den Direktoren hinzugetreten und gehört eine Stunde bei ihm zu den obligatorischen Übungen des Proseminars. Daß die beiden Bibliotheken getrennt sind, braucht nicht zu schaden, denn sie liegen auf demselben Flur, die schöne Gipssammlung eine Treppe höher. Diese Vereinigung aller Zweige der Altertumswissenschaft räumlich und im Lehrplan darf wohl als vollkommen gelten, in gewissem Sinne vorbildlich. Mit der Geschichte ist die Verbindung lose; obligatorische Beteiligung an bestimmten Übungen wird von keiner Seite gewünscht; die Mitglieder des Institutes dürfen nicht überlastet werden; aber erwünscht wäre es, wenn die Historiker in öffentlichen Vorlesungen Übersichten der alten Geschichte geben wollten: die Studenten würden gern kommen. Jedes Mitglied des Institutes war berechtigt, den Übungen als Hörer beizuwohnen, auch wenn es nicht Mitglied von Seminar oder Proseminar war, formell mit Zustimmung des Dozenten. Bei mir war sie nicht nötig: ich habe gerade im Seminar die Anwesenheit von Hörern immer gewünscht, und sie sollten nicht nur Hörer sein, sondern die Redefreiheit war unbeschränkt und die Anwesenheit von Älteren oder Studenten benachbarter Disziplinen, z.B. der Sprachwissenschaft hat sich oft sehr förderlich erwiesen. Mir war es sehr recht, wenn ich auch einmal belehrt ward, wie ich im Kolleg besonders gern von eigenen Irrtümern erzählt habe.

Unser philologischer Betrieb war erst ganz was er sein sollte, als Norden hinzutrat, denn drei gleichstehende Direktoren sind nötig, zwei für Seminar[285] und Arbeiten (wo jeder in beiden Sprachen herankommen muß) und einer für die Oberstufe. Bei den Übungen hatte ich auch im Auge, daß die Anfänger mit uns Alten in Berührung kämen und wir mit ihnen. So war vorgesorgt, daß die Studenten nicht einseitig würden und die Professoren nicht nur Spezialschüler zögen. Erst dadurch, daß die Studenten gehalten sind, unter mehreren Lehrern zu arbeiten, entsteht ein wirkliches Seminar. Die meisten nennen sich so, sind aber Privatissima der einzelnen Dozenten; nur der Raum und die Handbibliothek sind gemeinsam, im übrigen wird einspännig gefahren. Wir waren sieben ordentliche Professoren am selben Institut. Die Philologie hat allen anderen Disziplinen das Seminar, also die Ergänzung des Lehrvortrages durch Rede und Gegenrede, vorgemacht. Die Ausgestaltung in unserm Institute verdient auch die Übertragung auf andere Disziplinen.

Der Krieg hat uns schwere Störung gebracht. Die Mitglieder unseres letzten Seminars alle und mancher der Älteren, von dem wir vieles erhofften, sind auf dem Felde der Ehre gefallen. Auch die nächsten Jahre waren schwer; aber die Ordnung ist hergestellt und es ist eine Freude, wie gut es der selbsttätige Fleiß fertig bringt, die von der Schule mitgebrachte Vorbildung zu ergänzen. Allerdings haben die Direktoren dafür neue Einrichtungen geschaffen. So wird der Wandel in den äußeren Bedingungen und die Individualität der Dozenten immer wieder umgestalten, aber hoffentlich wird wahr, was mir in Upsala ein schwedischer Kollege gesagt hat, als ich ihm den Ausbau unseres Institutes beschrieb: »damit habt ihr für die Altertumswissenschaft in der ganzen Welt gesorgt.« Tatsächlich haben wir die Freude, daß nicht selten Gelehrte anderer Völker nach Berlin kommen, um in unserem Institute und der Bibliothek bequem zu arbeiten.

Was auch immer jemand bei den Griechen und Römern suchen will, es gibt für ihn keinen anderen Weg als durch die Sprache. Und wenn er auch nur den Faltenwurf der Statuen untersuchen will, so ist die Tracht eine Erscheinungsform des Lebens, bestimmt für Menschen einer Zeit und einer Sitte, der Unterschied zwischen der bleibenden Funktion und der wechselnden Mode, die Grenzen der künstlerischen Freiheit verlangen Beachtung. Gewußt muß werden, was der Künstler gewollt und gedacht hat: wer kann das wissen, ohne die Menschen und die Zeiten zu kennen. Dazu ist zwar nicht nötig, das Werden der Sprache geschichtlich zu lernen, wie es ja nur der Indogermanist lehren kann, aber wohl die lebendigen beiden Sprachen. Dazu sollen die Seminarübungen vor allem helfen, die Interpretationen sollen zeigen, wie einer versteht, der die Sprache kann. Aber ohne eifriges unermüdliches Lesen lernt es keiner, bewahrt sich auch keiner die Fähigkeit des Verstehens. Dazu[286] aber vermag der Unterricht nicht zu zwingen: das Lesen müssen die Studenten selbst besorgen; gemeinschaftliches Lesen ist besonders fruchtbar. Leider muß ich beklagen, daß die Neigung und die Energie der Studenten nach dieser Seite am schwächsten ist, und nicht nur der Studenten. Vollends seit die Intuition als eine höhere und bequemere Methode aufgekommen ist, erlebt man die schauerlichsten Proben der anmaßlichen unwissentlichen, aber auch wissentlichen Verleugnung des sprachlichen Verständnisses, ganz zu schweigen von kaum verhüllter Abhängigkeit von Übersetzungen. Vorsokratiker versteht man nicht aus den Übersetzungen von Diels, philosophische Gedanken überhaupt nicht anders als indem man griechisch denkt, vom Rechte gilt dasselbe. Aber bei den Poeten, auch bei Thukydides, ist es kaum anders. Die Halbwisser des intuitiven Verständnisses kann man nur auf Serlos Worte verweisen: »ich habe keine schlimmere Anmaßung gefunden, als wenn jemand Ansprüche auf Geist macht, solange ihm der Buchstabe nicht deutlich und geläufig ist.«

Der Student, der das Seminar in allen Stufen durchmacht, wird an sehr verschiedenen Objekten praktisch gelernt haben, wie man zum Verständnisse der Texte gelangt, und die Weite der Philologie, wie sie sich jetzt ausgestaltet hat, muß ihm auch bewußt geworden sein, denn die archäologischen Übungen werden ihn auch zum Besuche der Gipssammlung und der Museen angetrieben, historische Vorlesungen wird er auch besucht haben. Und doch fehlt noch etwas: Zusammenfassung, Bilder von dem Ganzen, das auch in den Privatvorlesungen nur stück- und strichweise zur Erläuterung des Einzelnen herangezogen wird. Diese Ergänzung sollen öffentliche Vorlesungen liefern; sie sollen zugleich auch anderen Hörern die Ergebnisse der Einzelwissenschaft nahe bringen. Kultur- und Geistesgeschichte aus verschiedenen Epochen, nicht in Abstraktionen, sondern in möglichst konkreter Anschaulichkeit, bedeutende Erscheinungen der Literatur, auch wohl einzelne Personen oder Werke, Philosophie, religionsgeschichtliche Skizzen, Schilderung wichtiger Örtlichkeiten, Städte, Heiligtümer – der Stoff ist unendlich, und der Redner findet einen dankbaren Hörerkreis. Althoff hatte mich für diese Vorlesungen besonders berufen, und ich hatte mit ihnen in Göttingen den Anfang gemacht. Ich sah die schwere Belastung voraus und wollte mich selbst binden, auch die Verwandlung in eine Privatvorlesung unmöglich machen, zu der die Aussicht auf beträchtliche Einnahmen leicht verlocken konnte. Daher habe ich selbst darum gebeten, daß die ausdrückliche Verpflichtung in meine Berufung gesetzt ward. Nach einer längeren Reihe von Jahren bat ich, mich auf eine Stunde beschränken zu dürfen. Dann machte[287] der Krieg ein Ende, und später hatten die Studenten wohl keine Zeit mehr übrig. Es ist sehr bedauerlich, daß solche öffentlichen Vorträge ganz selten geworden sind; sie sollten aus sehr verschiedenen Gebieten gehalten werden, denn jetzt steht es so, daß sehr viele Studenten weder die Zeit noch das Geld haben, Privatvorlesungen über andere als ihre speziellen Studiengebiete zu hören, und die allgemeine wissenschaftliche Bildung leidet. Eine zusammenhängende Reihe muß es schon sein, wenn mehr als eine flüchtige Anregung gegeben werden soll, und am besten ist es, daß derselbe Lehrer, der die strenge Wissenschaft in den großen Vorlesungen und im Seminar lehrt, in solchen Bildern eine Vorstellung von dem gibt, was bei all den Sachen herauskommt: das alte Leben in allen seinen bedeutenden Erscheinungen muß lebendig werden. Gewiß ist es daneben sehr schön, wenn ein tüchtiger Mann von außen zu einer Reihe von Vorträgen herüberkommt, wie es in München auf Anregung der Studentenschaft geschieht, wo auch ich mit besonderer Freude gesprochen habe. Was jetzt mit Vorträgen, auch von Ausländern, unternommen wird, kann ich nicht beurteilen. Dem Professorenaustausch mit Amerika habe ich ablehnend gegenübergestanden. Als ich von Harvard gewünscht ward, fragte das Ministerium daher nur telephonisch in einer Form an, der ich entnahm, man rechnete auf keine Zusage. Diels mußte sich dauernd mit der Sache befassen, weil sie unter seinem Rektorat eingeführt war, selbst ging er nicht hinüber und war enttäuscht, denn wenn auch einzelne treffliche Leute kamen, war doch der Erfolg, daß die amerikanischen Studenten meinten, sie könnten zu Hause alles ebensogut lernen, und daher ihre Zahl bei uns ab nahm. Als der Professor Shorey bei uns über Platon lesen wollte, bedeuteten wir ihm, daß dafür hinreichend gesorgt wäre. Das hat ihn mächtig verschnupft, und er hat sich durch die Versicherung gerächt, ich ließe jetzt meine alten Hefte drucken und in meiner hellenistischen Dichtung stünde nichts. Er muß es ja wissen.

Die vierstündigen Vorlesungen können nicht mehr, als an einzelnen Beispielen zeigen, wie die Wissenschaft zu dem vollkommenen Verständnis des betreffenden Objektes gelangt. Das wird gewiß erzielt werden können, wenn der Professor einen kleinen Turnus von Vorlesungen mit aller Sorgfalt ausarbeitet und mit jeder Wiederholung vervollkommnet; er hat ein schönes Heft, und der Student kann auch eins bekommen. Aber wenn dann die öffentlichen Vorlesungen fehlen, bleibt es doch Stückwerk, ganze Gebiete bleiben unberührt, und der Eindruck entsteht, daß sie minder wichtig wären. Ich bin außerstande gewesen, solche schönen Vorlesungen zu halten; wenn ich es versuchte, mißlang es, nachher habe ich es auch nicht gewollt. Es gab bei[288] mir keine schönen Hefte, und wenn mir einer sagte, ich habe Ihre Homervorlesung gehört, so mußte ich lachen, denn es war immer eine neue Vorlesung oder vielmehr ein neuer Vortrag, auch wenn das Thema im Kataloge ebenso hieß. Nur wenn ich frisch mit einer neuen Aufgabe kämpfte, war mir ganz wohl dabei. Darum sehe ich in der Interpretation das Beste, was wir geben können; man kann auch einen Menschen so gut wie ein Werk interpretieren, etwa den Euripides, indem man nicht eine ganze Tragödie vornimmt, sondern den Wandel des Stiles, der Kunst, der inneren Haltung an bezeichnenden Proben vorführt. Man kann mit Heranziehung schwerer Gelehrsamkeit zeigen, wie die Wissenschaft allmählich zum Verständnis durchgedrungen ist, kann sich bemühen, ein Werk möglichst unmittelbar ohne viel Drum-und-Dran lebendig zu machen, mag dann, wie Gottfried Hermann, nur mit dem Texte bewaffnet aufs Katheder gehen. Das ist sehr wenig systematisch, und systematische Vorlesungen dürfen freilich auch nicht fehlen, vornehmlich in der Grammatik, aber selbst da kann es nicht schöner geschehen als es Wackernagels Vorlesungen über Syntax zeigen: vor ihn möchte ich mich auch heute auf die Bank setzen. Bloßen Wissensstoff zu übermitteln, dazu sind die Bücher da: die Vorlesung soll zum Denken anregen und in das Forschen einführen. Absolut verbindliche Regeln gibt es nicht, man muß nur immer seine ganze individuelle Kraft für das einsetzen, was man als Ziel vor sich hat, und immer sein Bestes geben. Als ich in Greifswald unter der Vorbereitung für eine Vorlesung fast erlahmte, ward mir von wohlmeinender und erfahrener Seite gesagt: »wozu das? das beste, was du wissen kannst, darfst du den Buben doch nicht sagen.« Da traf ich die rechte Antwort: »das hat der Teufel gesagt, und ich werde mich den Teufel darum scheren.« Wieviel man auch von einer Vorlesung haben kann, die man nicht versteht, hatte ich bei Otto Jahn erfahren, und Goethes Spruch ist nicht falsch: »eigentlich lernen wir nur aus Büchern, die wir nicht verstehen.« Im Alter bin ich freilich immer mehr dazu gekommen, die schwere Gelehrsamkeit zurückzustellen und, wie mich einst Wellhausen mahnte, »nur gleich das Richtige zu sagen«. Eigene Überlegenheit durch fortgesetzte Polemik zu zeigen, wie es Lachmann im Lukrezkommentar, Madvig zu de finibus schriftlich, Haupt im Kolleg taten, ist mir immer unausstehlich gewesen.

Ich glaube, man wird zugeben müssen, daß wir uns in den Übungen unseres Institutes und den Vorlesungen bemüht haben, den Unterricht den Bedürfnissen der Studenten anzupassen und darauf Rücksicht zu nehmen, daß wir nicht nur Mitarbeiter an unserer Wissenschaft heranzubilden hatten. Was Wissenschaft ist, sollten freilich alle begreifen: erst das verleiht das[289] Ethos, das den Gymnasiallehrer macht, das ihn adelt. Ich habe in meiner Widmung an meine lieben Lehrer ausgesprochen, wie hoch ich von diesem Berufe denke. Aber auch wir Universitätslehrer wollen nicht nur διδασκαλία, sondern ψυχαγωγία treiben, und wenn wir das wollen, werden wir auch dem Seelenzustande und der Fassungskraft unserer Hörer Rechnung tragen. Will man das Pädagogik nennen (obgleich der Student kein Kind ist und seine Freiheit haben will), so treiben wir sie je nach unserer Individualität. Auf den Menschen kommt auch im Professor mehr an als auf den Gelehrten. Vorschriften allgemeinverbindlicher Art, papierne Paragraphen einer sog. Hochschulpädagogik werden für einen Professor, der sein Amt und seine Studenten lieb hat, immer Papier bleiben. Lehren ist eine Kunst, dazu muß man geboren werden, lernen läßt sich nur das Handwerk an den Meistern, die es vorgemacht haben, und nicht zum wenigsten an dem Erfolge bei den Studenten. Auch hier gilt, Probieren ist besser als Studieren, und die Erkenntnis der Dummheiten, die man zu begehen doch nie zu alt wird, hilft weiter: wenn man erst mit sich selbst zufrieden ist, sollte man schon vorher aufgehört haben.

Die Studenten der deutschen Universitäten haben mir zu meinem sechzigsten Geburtstage die Vasenbilder von Furtwängler-Reichhold geschenkt (soviel damals von ihnen vorlag) und konnten nichts schenken, was mich mehr erfreut hätte; ich habe dafür sorgen können, daß sich viele an den Herrlichkeiten erfreuten. Und trotz ihrer bitteren Not haben sie mir zum Doktorjubiläum die während des Krieges erschienenen Bände der Oxyrhynchuspapyri geschenkt, weil sie wußten, daß ich sie nicht mehr kaufen konnte. Ich habe ihnen mit Versen gedankt, die auch hier stehen müssen, weil sie aussprechen, wie wir über hundert Semester miteinander gelebt haben und wie hoffentlich auch fürderhin Professoren und Studenten leben werden.


Wo immer auch unsere Wiege stand

und wo wir auch immer geboren,

der Dienst unsrer Göttin macht uns verwandt,

Studenten und Professoren.


Der Wahrheit, der himmlischen, haben wir all

in Freiheit Treue geschworen;

sie hat sich zu ihrer Gefolgschaft stets

die mutigen Sucher erkoren.


Und ob des Professors Scheitel auch weiß

und dem Füchslein feucht noch die Ohren,

der eine weiß wenig, der andere nicht viel,

vor der Göttin sind beide Toren.
[290]

Sie thronet, den sterblichen Augen entrückt,

umtanzt von der Ewigkeit Horen,

doch den Suchenden zeigt sie im Abglanz sich gern,

durch redliche Arbeit beschworen.


Wohl zieht uns das Leben in seinen Bann,

wir frohnden und schwitzen und schmoren,

und manchmal mögen das himmlische Licht

die Nebel des Alltags umfloren.


Doch der Adel der Arbeit um Gottes Lohn

ist immer uns unverloren.

Drum bleiben wir frei und bleiben uns treu,

Studenten und Professoren.


Unser Institut erhielt die schönen und reichlichen Räume und erreichte die Verbindung mit der Archäologie und der Gipssammlung erst durch den wohlgelungenen Anbau an das Universitätsgebäude, das während des Krieges soweit vollendet ward, wie es nun steht. Die Wünsche gingen weiter. Als ich als Rektor den Minister Trott zu Solz herumführte, zeigte er volles Verständnis für das, was noch zu tun bleibt. Er begann gleich damit, daß das Helmholzdenkmal von dem Platze fort müßte, wo es im Wege steht; es schickt sich auch nicht, daß die Naturwissenschaft sich einen Herrschaftsplatz anmaßt. Auch dem stimmte der Minister sogleich zu, daß der Vordergarten im Stile des alten Palais des Prinzen Heinrich gehalten werden müßte, also keine hohen Bäume, die manche Zimmer fast unbenutzbar machen, sondern geschorene Hecken, zwischen denen sich auf Hermen die schönen Büsten verdienter Professoren erheben könnten. Ihre Aufstellung hoch an den Wänden der alten Aula ist einfach barbarisch. Schatten für die sommerlichen Zwischenstunden bietet der Hintergarten genug. Damals plante ich noch den Abschluß desselben durch eine Säulenhalle gegen die Dorotheenstraße, deren Wand die Namen unserer Gefallenen so aufnehmen sollte, daß sie lesbar wären. Das wird auf den abscheulichen vier Pfeilern, die man gedankenlos Pylonen nennt, als ob sie an einem Tore stünden oder stehen könnten, gar nicht möglich sein, und die Namen sind die Hauptsache, wie sie es auf dem athenischen Staatsfriedhofe waren. Mit den dortigen schönen Gedichten kann es aber unsere Inschrift, die wir Reinhold Seeberg verdanken, wohl aufnehmen. Statuen stellten die Athener nicht hin; wenn wir doch unsere auch nicht hätten. In Wilhelmshaven ist die Kapelle zu einem Mausoleum unserer Flotte in unvergleichlicher Schönheit umgeschaffen; da ward mir erzählt, daß alle Sonntag eine Mutter kommt,[291] um vor der Tafel, auf der ihres Sohnes Name steht, zu beten. So sollten Enkel und Urenkel mit Stolz ihren Helden auf dem Denkmale suchen können.

Auch nach der Vollendung der Seitenflügel war für viele Seminare nicht gesorgt, die über benachbarte Häuser verstreut sind. Aber vor dem Kriege konnten wir ziemlich sicher hoffen, daß das Opernhaus, äußerlich in seiner alten Schönheit hergestellt, der Universität zugewiesen würde, sobald der beschlossene Neubau am Königsplatze durchgeführt war. Das ist un möglich geworden; aber die Klagen sind berechtigt, daß die Auditorien selbst nicht mehr zureichen. Es gibt zu viele Studenten, nicht nur in Berlin, sondern überall, und man hatte doch schon früher auf die Gefahren eines gelehrten Proletariates hingewiesen. Wo der Andrang zu groß ist, pflegt man die Barrieren hoch zu machen: heute geschieht das Gegenteil. Die Räume würden schon reichen, wenn nicht immer mehr junge Leute beiderlei Geschlechtes zugelassen würden, die auf die Universität gar nicht gehören, oder sollen die Dozenten das Niveau ihrer Vorlesungen auf die Fassungskraft der ungenügend vorgebildeten Männlein und Weiblein herunterdrücken? Die Studenten sind immer ein Stand gewesen, die gebildete deutsche Jugend, aus der sich die Führer des Volkes rekrutierten. Heute will man sie degradieren. Es tat unsereinem bitter weh, wenn die Armut viele nach dem Kriege zwang, sich neben dem Studium durch ihrer Hände Arbeit den kümmerlichen Lebensunterhalt zu verdienen. Jetzt wird in einer offiziellen Statistik die Abnahme der »Arbeitsstudenten« beklagt, weil sie nicht mehr in den Verkehr mit den Arbeitern kämen. Also denen sollen Studenten, die anderes zu tun haben, die Arbeit wegnehmen, damit der Staat die Arbeitsscheuen durchfüttere. Jetzt wird ein halbgebildetes Proletariat gezüchtet; aber vielleicht ist das eine gewollte Konsequenz der neuen Ziele im Schulunterricht, und diese Halbgebildeten sollen die Führer des Ochlos werden.

Die philosophische Fakultät, in die ich eintrat, war zwar größer als in Göttingen, aber es kannten sich doch alle, und die Geschäfte wurden in Eintracht sachlich und sicher geführt. Dieses ist auch so geblieben, trotz dem unheimlichen Wachsen der Zahl und dem häufigen Wechsel der Mitglieder. Es ist ein Segen, daß die Abtrennung einer naturwissenschaftlichen Fakultät abgewendet werden konnte13; so wird es wohl auch von allen empfunden, die[292] an den Geschäften Anteil nahmen. Nur der Dekan ist überlastet; offenbar muß er eine andere ständige Hilfskraft erhalten als einen Pedellen, und vielleicht könnten die nötigen Mittel beschafft werden, wenn die Bezüge der sechzehn Ältesten allmählich abgeschafft würden, wie wir es in Göttingen erreicht haben. Da ward beschlossen, daß die Neuhinzutretenden kein Anrecht mehr haben sollten, von den Jüngeren verzichteten sehr viele, so daß nur noch eine kurze Zeit die Expektanten zu vollem oder halbem Bezuge einrückten. Allerdings wird in Berlin die Anwesenheit der Ältesten in den Sitzungen gefordert, und das ist nicht bedeutungslos, denn die Fakultät hat auf den Rat ihrer Mitglieder nicht verzichtet, auch wenn ihnen ein Gewaltakt das Stimmrecht genommen hat.

Die Fakultät hatte früher die volle Verantwortung für die Haltung ihrer Privatdozenten. Das war ganz logisch, denn diese waren keine Staatsbeamten, die Fakultät hatte ihnen die Erlaubnis für bestimmte Fächer erteilt und konnte sie zurückziehen, wenn sie dazu Veranlassung gaben, und ihnen Übergriffe und Verstöße contra bonos mores verweisen. Der Staat übte nur sein allgemeines Aufsichtsrecht. Nun zwang das Abgeordnetenhaus die Regierung, die Privatdozenten unter einen Disziplinarhof zu stellen, ließ aber der Fakultät das Gericht in erster Instanz. Es war eine unerfreuliche Maßregel, eine lex in hominem. Der Privatdozent und Assistent L. Arons war Mitglied der Sozialdemokratischen Partei. Die Fakultät war der Ansicht, daß die politische Überzeugung einem jeden freistünde, aber nicht die Agitation gegen den Staat, und da Arons agitatorisch aufgetreten war, hatte sie es ihm verwiesen. Damit war die Majorität des Abgeordnetenhauses nicht zufrieden, die Regierung folgte dem, machte das Gesetz und erhob Anklage. Die Gerichtsverhandlung vor der Fakultät fand statt. Die Anklage führte der eben aus Breslau in das Kultusministerium berufene Geheimrat Elster, die Verteidigung der Rechtsanwalt Heine. Beide bewegten sich in den gewöhnlichen Tiraden, beide machten einen unerfreulichen Eindruck, aber der Angeklagte führte in schlichter Rede aus, daß er seiner Überzeugung entsprechend Mitglied der Partei wäre, aber sich gemäß seinem Versprechen der Agitation enthalten hätte. Die Kollegen, die es übersehen konnten, bestätigten es. Also sprach ihn die Fakultät frei. Daß die Regierung an den Disziplinarhof appellierte und dieser anders entschied, war vorauszusehen. Aber die Fakultät hat sich ihres Privatdozenten nach Kräften angenommen. So ist diese Sache verlaufen. 1914 hat die Fakultät die Rehabilitierung von Arons angeregt, die Regierung stimmte zu, nur über die Form konnte man sich nicht einigen. Herr Elster ward Referent für die Universitäten,[293] hat aber 1916 ganz plötzlich ausscheiden und verschwinden müssen; ich weiß, weshalb.

Jetzt sind die Privatdozenten fast ganz der Aufsicht der Fakultät entzogen, und während die tüchtigsten, die jung sind und rasch weiterkommen, mit den Professoren, die oft ihre Lehrer gewesen sind, sich so gut vertragen wie ehedem, fehlt es nicht an Bestrebungen, sich als Stand zusammenzuschließen und auch der Fakultät gegenüber auf Sonderrechte zu pochen, was das Ministerium aus Abneigung gegen die Selbstverwaltung der Fakultät befördert. Aus den Privatdozenten soll sich die Professorenschaft rekrutieren. Wer sich habilitiert, muß erfahren, ob er das Nötige als Dozent leisten wird, er erhält keine Anwartschaft auf Beförderung, und Mitleid sollte er auf Kosten der Universität nicht finden. Eben darum sieht sich eine Fakultät vor, ehe sie die Venia erteilt, auch aus Rücksicht auf den Bewerber, denn es kommen außer der wissenschaftlichen Leistung noch andere Rücksichten in Betracht. Wo aber solche Bedenken bestehen, ist es wünschenswert, daß es zu einer förmlichen Meldung und Abweisung gar nicht kommt. Streng fernzuhalten sind alle Aspiranten, die den Titel Professor nur für ihre äußere Stellung oder andere Vorteile wünschen, ebenso jeder, den in höherem Alter die Lust anwandelt, seine Weisheit an der Universität zu predigen. Privatdozent soll nur sein, wer Professor werden will. Natürlich kommt es vor, daß ein Privatdozent länger auf einen Ruf warten muß, als er verdient. In solchen Fällen ist ihm früher auf Anregung oder doch mit Zustimmung der Fakultät der Titel Professor verliehen14. Titel sind jetzt von der Reichsverfassung verboten, es soll nur noch Amtsbezeichnungen geben. Gleichwohl ist eine neue Kategorie von Beamten geschaffen, die in ihrem Namen »nichtbeamtete außerordentliche Professoren« die Verletzung der Verfassung zur Schau trägt. Nach diesen Grundsätzen sind die Fakultäten, denen ich angehört habe, im Prinzip verfahren, und Abweichungen haben keine guten Folgen gehabt. Die Habilitation ist nun in Berlin so vorsorglich geordnet, so viele Professoren übernehmen die Verantwortung, daß die Entscheidung so sachkundig und gerecht ausfallen muß, wie nur menschenmöglich ist. Genau so ist es bei den Berufungen, einerlei was aus den salons des refusés verbreitet wird. In meiner langen Praxis ist es mir einmal begegnet, daß ein wegberufener Professor aus persönlichen Motiven die Wahl des weitaus besten Nachfolgers[294] verhindern wollte; er kam aber bei der Kommission übel an. Fehlgriffe sind natürlich nicht ganz zu vermeiden; ich habe oben einen Fall erwähnt, wo die Regierung von den Vorschlägen mit vollem Rechte abwich. Übrigens haben die Professoren ja eine sichere Waffe gegen das Oktroyieren: sie brauchen sich nicht oktroyieren zu lassen.

Immer mehr nehmen die Privatdozenten Assistentenstellungen ein, was ihre Freiheit etwas beschränkt, aber für ihre spätere selbständige Leitung trefflich vorbereitet; es erleichtert ihnen auch ihre materielle Lage. Privatdozentenstipendien sind gleich nach 1871 geschaffen, sollten aber nur auf Antrag oder doch mit Zustimmung der Fakultät verliehen werden. Die Bedenken, welche die Erteilung von besonderen Lehraufträgen erregt, scheint die Fakultät zu unterschätzen. Man gönnt den Privatdozenten jede Einnahme, aber wenn ein Anfänger auf ein enges Spezialgebiet festgelegt wird, so züchtet man Spezialisten, und was für den Unterricht notwendig ist, dafür müssen Professoren sorgen. Wird es vollends in das Belieben des Ministers gestellt, irgendwem einen Lehrauftrag zu erteilen, der dem Lehrkörper gar nicht angehört, so wird die ganze Universitätsordnung untergraben. Ein konkreter Fall wird es beleuchten. Die Fakultät versagt einem Bewerber die venia legendi: darauf erteilt ihm der Minister den Lehrauftrag für dasselbe, durch mehrere Professoren und Privatdozenten vertretene Gebiet genau in den Formen der Bestallung eines ordentlichen Professors. Ein Fußtritt gegen die Selbstverwaltung, aber unter der Herrschaft der belua centiceps, des souveränen Parlamentes, gibt es kein Rechtsmittel gegen die Willkür des Parteiministers.

Die Hauptarbeit der Fakultät besteht in den Doktorprüfungen. In Berlin ist das Prinzip der Prüfung vor der ganzen Fakultät beibehalten. Als ich das Examen machte, traten noch einige Professoren heran und hörten etwas zu. Jetzt ist durch die Masse der Examina ein Zustand eingetreten, den alle beklagen, aber niemand zu ändern weiß. Störend war schon immer für die Kandidaten, daß viele Prüfungen gleichzeitig im selben Zimmer stattfanden, zumal wenn unbeschäftigte Dozenten ab und zugingen. Daß einer ein wenig zuhört, ist eine seltene Ausnahme, und nicht wenige Prüfungen werden von dem Professor in seinem Zimmer unter vier Augen abgehalten. Wenn nachher im Plenum die Abstimmung erfolgt, wird zwar sorgfältig auf Gleichartigkeit der Prädikate gehalten, aber doch nur auf Grund der Protokolle und der Erläuterung durch denselben, der für sein Fach das Prädikat bestimmt hat. Unvermeidlich ist, daß die Skala der Prädikate bei den verschiedenen Professoren verschieden ist, was für die Bewertung der Dissertation ebenso[295] gilt15. Nicht selten fällt ein Kandidat durch, darf aber gleich im nächsten Semester wiederkommen, wo er dann nach einigem unwissenschaftlichen Einpauken den zu Mitleid geneigten Examinatoren zu genügen pflegt. In Göttingen bestimmte der Ausschuß die Zahl der Semester, nach denen die Wiederholung erst gestattet war, was praktisch der definitiven Abweisung gleich kommen konnte. Wie hastig es gehen muß, wenn 40 Prüfungen abgemacht werden müssen, kann sich jeder sagen. Jede Würde und Feierlichkeit ist verschwunden.

Der philosophische Doktor hat aber auch überhaupt durch die Masse, die ihn begehrt und erreicht, seinen Wert verloren. Für Chemiker, künftige Journalisten und alle, die in das praktische Wirtschaftsleben eintreten wollen, wird der Doktorgrad nicht weniger als für die Ärzte gefordert; dagegen ist es immer seltener geworden, daß ihn die Kandidaten des höheren Schulamtes begehren, was vor 50 Jahren die fast ausnahmslose Regel war. Es kommen also sehr viele Kandidaten, denen an wissenschaftlicher Bildung gar nichts liegt, auch nicht an dem Prädikate, denn das kommt nur auf das Diplom. Sie möchten es möglichst leicht haben, und es ist schwer, das Niveau der Dissertation und des Examens auf der Höhe zu halten. In den ersten Jahren nach dem Kriege haben manche Fakultäten eine geradezu sträfliche Nachsicht gezeigt; bei uns ist nur den Kriegsteilnehmern die Rücksicht zuteil geworden, auf die sie Anspruch hatten. Es kommt hinzu, daß der Doktorgrad immer mehr auch von anderen wirklichen oder sogenannten Hochschulen verliehen wird und die Unterschiede in der Praxis verschwinden. Das ist eine Ungerechtigkeit gegen alle, welche sich in der alten strengen Weise den echten doctor philosophiae verdienen. In manchen germanischen Ländern verleiht auch heute noch der Doktortitel die venia legendi. Ich kenne aus Kopenhagen die Feierlichkeit der keineswegs ornamentalen Disputation und die Bedeutung, die ihr ganz allgemein beigelegt wird. Das läßt sich bei uns nicht nachahmen, aber wohl sollten sich durch einen Titel aus der Masse diejenigen herausheben, die aus wissenschaftlichem Streben einen Abschluß der Studien durch eine wissenschaftliche Arbeit und eine Prüfung vor ihren Lehrern wünschen. Die Anforderungen in den meisten Fächern brauchen gar nicht erhöht zu werden, und was durch diese Dissertationen für die Wissenschaft[296] positiv geleistet ist, wird jeder Forscher auf seinem Gebiete dankbar anerkennen. Aber ein unterscheidender Titel für diese docti doctores findet sich schwer, denn Magister war vom Mittelalter her immer weniger als Doktor. Sonst paßte er gut, denn der Student in unserem Seminar ist kein Schüler mehr, sondern unser Geselle, der in der Dissertation sein Meisterstück macht. Mit der Zunft und dem ehrlichen Handwerk werden wir uns gern vergleichen lassen.

Überblickt man die Entwickelung der Hochschulen, wie sie sich auch abgesehen von den einzelnen Willkürakten in den letzten sechzig Jahren vollzogen hat, so fragt man sich nicht nur, ob die deutsche Universität die in das Mittelalter zurückweisenden Formen behalten kann, in denen sie seit 1810 ihren Ruhm begründet und erhalten hat. Die medizinische Fakultät ist bereits eine Hochschule für sich, nur lose mit den anderen verbunden, und es scheint ihr gut zu bekommen. Wenn die Ausbildung der Juristen nur noch für den praktischen Beruf ohne Einführung in die Wissenschaft des Rechtes und seiner Geschichte zugeschnitten wird, und dazu ist der Weg beschritten, so gehört sie nicht an die Universität; so wird es ja in anderen Ländern gehalten. Wenn die Kirchen ganz vom Staate gelöst werden, so ist es wohl denkbar, daß sie die Ausbildung ihrer Diener in die eigene Hand nehmen wollen. So bedauerlich das alles wäre, es würden nur die Fakultäten fortfallen, denn die wissenschaftlichen Disziplinen gehören ganz in die philosophische Fakultät; das Alte und das Neue Testament hatte ihr der Freiherr von Münchhausen bei der Gründung der Universität Göttingen schon zugewiesen. Es lohnt sich nachzulesen, wie sich Schleiermacher vor der Gründung der Berliner Universität geäußert hat; er wollte die alten Formen beibehalten, aber der Geist, der Schule, Universität und Akademie beleben sollte, war ein neuer Geist: den zu erhalten ist das Eine, an dem alles hängt; die Formen sind gewiß nicht ohne Bedeutung, aber sie können wechseln.

Heißt es zu schwarz sehen, wenn uns die Furcht ankommt, die Universitäten könnten auf einen ähnlichen Zustand herabsinken, wie er vor 1810 nur zu oft gewesen ist, so daß sie nur den nötigsten Wissensstoff übermittelten und an ein politisches Credo gebunden würden, schlimmer als einst an ein kirchliches. Die Gründung von 1810 geschah in platonisch-aristotelischem Geiste: droht uns nicht die Geistlosigkeit der spätantiken Rhetorik, neben der nur das im Grunde tote Wissen der sieben freien Künste stand, das den Geist verliert, auch wenn Spezialisten im Einzelnen noch so große praktische Erfolge haben. Es ist geradezu spaßhaft, wenn dieselben Leute über das angebliche[297] Versinken der Wissenschaft in Spezialistentum zetern, und dabei die Schaffung von neuen Spezialdisziplinen, z.B. Geschichte der Sozialdemokratie, betreiben. Die Vermehrung der Professuren namentlich in der philosophischen Fakultät, die gleich mit dem Pairschub von Extraordinarien und der Einführung des »Fallbeils der Emeritierung« einsetzte, ist ein unheimliches Symptom. Man muß um die Wissenschaft wirklich Bescheid wissen, muß selbst kein Spezialist sein, um auch einem solchen gerecht zu werden. Es geschieht denen, welche sich auf ein Spezialgebiet beschränken, schweres Unrecht, wenn sie darum alle Scheuklappen tragen sollen. Die Wissenschaft kann ja die Spezialisten gar nicht entbehren, gebraucht deren vielmehr immer mehr. Wie eng sind nicht manche Aufgaben, für die ein neues Forschungsinstitut der Kaiser-Wilhelm-Institute gegründet wird. Wer seine Kraft auf den einen Punkt konzentriert und eben dadurch die Wissenschaft fördert, weil es nur so geschehen kann, verdient sich für dieses Opfer den wärmsten Dank. Den Blick auf das Ganze wird er nicht verlieren, wenn ihm dafür auf der Universität die Augen geöffnet sind. Damit ist gesagt, daß der Universitätslehrer seinen Unterricht auf das Ganze richten muß, auch wenn er das Forschen immer nur am Einzelobjekte lehren kann. Entbehren kann freilich auch die Universität die Spezialisten nicht; aber sie sind an ihr Extraordinarien und sollten es bleiben. Doch ich will mich nicht in Zukunftspläne verlieren, an deren Durchführung ich selbst nicht glaube.

Nur noch eine bange Frage, die sich bei der Beratung über Berufungen einstellt. Erzeugt unser Volk wirklich so viele Talente, wie für die Besetzung der Lehrstühle an unseren Universitäten erforderlich sind? Daran hat man nicht gedacht, als man drei neue Universitäten schuf. Es ist ein abschüssiger Weg, wenn die Zahl der Studenten immer vermehrt wird, die der Professoren auch. Wenn die Qualität sinkt, wohin soll es führen? Gebe Gott, daß ich ein Schwarzseher bin.


In die Akademie, deren Korrespondent ich seit einigen Jahren war, bin ich nicht sofort, aber früh genug gewählt, um gleich bei meinem Eintritt noch einen Vortrag in dem alten Sitzungszimmer zu halten. Da war es schlicht und heimlich, und man fühlte sich im Geiste mit den großen Männern verbunden, die einst hier gesprochen hatten. Die neuen anspruchsvollen Räume werden solche Gefühle schwerlich wecken, stimmen vielmehr zu den grellen Umschlägen und dem verschwenderischen Satze der jetzigen Akademieschriften, denen ich die alte vornehme Schlichtheit vorziehe. Aber allerdings, die Räume waren zu klein geworden und der Satzspiegel reichte für[298] manche Mitteilungen nicht. Ein Neubau war beschlossen, und es folgte eine Zwischenzeit, während der die Akademie recht unbequem in einem Hause dicht hinter der Potsdamer Brücke unterkam16. Einst nannte man den ganzen Häuserblock zwischen den Linden und der Dorotheenstraße nach der Akademie; über der Tür zeigte eine kostbare Uhr den Berlinern maßgebend die Zeit, über dem Dache nach der Dorotheenstraße zu bestand noch das Türmchen einer Sternwarte, die der Akademie seit alters gehörte, einst ihr Hauptbesitz, denn da wurden die Kalender für Preußen gemacht, und die Einnahme aus ihnen fiel der Akademie zu. Jetzt ward alles anders. Die Königliche Bibliothek nahm den größten Teil des Bauplatzes ein, und es gelang und gelingt ihr, die Akademie als einen geduldeten Einlieger zu behandeln. Ich wünsche, daß der Tag kommt, wo sie ihn ausweist, und dieser Tag ist vielleicht nicht fern. Es ist erreicht, daß die Uhr irgendwo liegt und verrostet. Eine Inschrift, die genau für die Breite der Front abgepaßt war und beide Institute nannte (ich hatte sie entworfen), ist unberücksichtigt geblieben. Die Treppe zu unserm Festsaale geht in einem der Bibliothek gehörigen Flügel steil in die Höhe, ganz unfestlich und unwürdig; ein Aufzug für die Besucher ist nicht vorhanden. Es dürfte jetzt kaum noch bestritten werden, daß der Bau auch für die Bibliothek unpraktisch angelegt ist und in absehbarer Zeit nicht mehr reicht. Althoff war sehr unwillig, daß sie an diesem Platze in die Höhe zu bauen beschlossen ward, als er gerade auf Urlaub war. Denn sie konnte neben dem Bahnhofe Zoologischer Garten auf einem weiten fiskalischen Gelände in die Weite ganz unbegrenzt errichtet werden, was beliebige Erweiterung für die Zukunft gestattete und den Betrieb stark erleichterte. Wer zuckt heute nicht darüber die Achseln, daß sie zu fern von der Universität gelegen haben würde: neben der mußte nur die Universitätsbibliothek bleiben; nun sind beide im selben Hause. Die Akademie hat manche so dunkele Zimmer bekommen, daß sie zu Arbeitsräumen nicht taugen, die Akustik in den Sitzungssälen war so schlecht, daß sofort Änderungen getroffen werden mußten, die Malereien tut man gut, nicht anzusehen, und so weiter. Der Erbauer hat denselben Kunstverstand bewiesen, wie in der finsteren Basilika des Kaiser-Friedrich-Museums, und man fragt sich, wie dieser Herr von Ihne zu diesen Aufträgen daneben auch, wie er zu seinem Adel kommen konnte. Leider wird man zugestehen müssen, daß die Sekretare für die Akademie nicht genügend eingetreten sind. Auwers, der den Ton angab, war vermutlich der ganzen Veränderung gram und mochte sich nicht mit ihr abgeben. Er hielt überhaupt[299] die bestehende Ordnung für unverbesserlich; als ich anzufragen wagte, ob es sich nicht abstellen ließe, daß der Zufall denselben Redner immer wieder den Klassensitzungen zuwiese, erhielt ich nach 14 Tagen den Bescheid, das wäre unmöglich. Man hätte doch nur jedesmal ein paar Namen zu vertauschen gehabt. Eine meiner ersten Erfahrungen in der Akademie ließ befürchten, daß zwischen den Klassen ein Gegensatz bestünde, was sich zum Glück nicht bewahrheitete, denn die Harmonie ist ebenso vollkommen wie in der Fakultät. Aber damals wirbelte es etwas Staub auf, daß für Virchow zum 80. Geburtstag eine Medaille geschlagen werden mußte, weil Mommsen bei derselben Gelegenheit eine bekommen hatte. Er war lange Sekretar gewesen, hatte das Riesenwerk der lateinischen Inschriftsammlung und das kaum geringere der Auctores antiquissimi ganz oder fast ganz zu Ende geführt, Virchow dagegen war nicht lange Akademiker und hatte nur wenige Beiträge geliefert, darunter einen, von dem eine lustige Geschichte folgen soll. Die beiden Medaillen sind so ausgefallen, daß mit Recht keine dritte geschlagen ist. In den Sitzungsberichten 1892, S. 687–96 wird ein Schädel abgebildet und breit behandelt; dabei wird zwar zugegeben, daß die Anatomie nicht beweisen kann, daß es der Schädel des Sophokles wäre, aber sie könnte auch das Gegenteil nicht beweisen, und die Neigung dafür ist unverkennbar. Damit stand es so. Als ich 1890 in Athen war, sagte man mir, ich müßte mich vor dem Königl. Oberinspektor Münter in Tatoi hüten, das wäre zwar ein höchst vortrefflicher, liebenswürdiger Herr, aber er hätte einen Schädel aus einem Grabe, das ungefähr in der Gegend lag, wo Sophokles begraben war, und er suchte nun einen Eideshelfer für seinen Glauben, den Schädel des Sophokles zu besitzen, wie Immermanns Hofschulze für das Schwert Caroli Magni. Münter habe ich nicht gesehen; der Glaube des braven Mannes mochte ihm nicht gestört werden, aber erfreulich war es gewiß nicht, daß er in unseren Akademieschriften ernsthaft behandelt ward.

Das Jubiläum der Akademie mit seinen endlosen Gratulationsreden machte mir keinen großen Eindruck, auch nicht der Festakt im weißen Saale mit seiner seltsamen Aufmachung, aber würdig und ohne jede höfische Phrase sprach Koser über unsern zweiten Stifter, Friedrich den Großen. Und ein Gewinn war die Schaffung neuer Stellen für ordentliche Mitglieder und Harnacks monumentale Geschichte der Akademie. Am Leibnitztage 1901 hielt sie ihre letzte Sitzung in den alten Räumen, von der der Maler Pape mit erheblicher künstlerischer Freiheit ein Bild gefertigt hat. In dieser Sitzung habe ich meine Antrittsworte gesprochen, die auch hier Platz finden müssen.[300]

»Die Sitte der Akademie zwingt mich, an dem ersten Leibniz-Tage, den ich in ihrer Mitte verlebe, von mir selbst zu reden. Da kann ich nicht umhin, des Tages zu gedenken, der mir zuerst von ihrer Existenz Kunde brachte. Das liegt vierzig Jahre und mehr zurück. Der Knabe, aufgewachsen in ländlicher Abgeschiedenheit, in die kaum je ein Hauch von gelehrtem Wesen drang, war einmal in die Hauptstadt mitgenommen und schritt staunend die Linden entlang. Plötzlich blieb sein Begleiter stehen und stellte seine Uhr. Dabei wies er auf die Uhr über unserer Tür und erklärte, diese ginge allein immer richtig, weil sie die gelehrten Leute beaufsichtigten, die allein die wahre Zeit kennten, die Herren von der Akademie. Und da mir das vielleicht ungenügend imponierte, fügte er hinzu: ›unser guter König ist, ehe er so krank ward, oft in dies Haus gegangen, um die gelehrten Leute zu hören.‹ Das war ein unanfechtbares Zeugnis für ihre Würde; aber ein Verlangen, sie zu hören oder gar selbst einer von ihnen zu werden, erweckte es in dem Knaben nicht. Derselbe Gang hatte das neue Museum, wie man damals noch zu sagen berechtigt war, zum Ziele, leider vornehmlich die Gemälde des vielbewunderten Treppenhauses; indessen standen da doch die Dioskuren von Monte Cavallo und in prächtigen Sälen daneben ein Wald von Statuen, Göttern und Helden, nimmer geschaut und doch wohlvertraut dem Knaben. Was er hier erfuhr, das war die Epiphanie lichter Gewalten, denen er sich untertan und zugetan fühlte. So fühlt er sich noch heute. Wie ihn auch das Leben geführt hat, durch Jahre des Lernens und Wanderns in das Lehramt und schließlich in diese Akademie: daran hat sich nichts geändert, daß ihm die Liebe zu der Offenbarung der göttlichen Schönheit im Hellenentume Herz und Sinn beherrscht, Denken und Handeln bestimmt.

Der Knabe darf staunen und anbeten; er sieht Einzelnes, Fertiges. Der Mann will verstehen, er muß das Gewordene aus dem Werden begreifen, ihm stellt sich alles in geschichtlicher Bedingtheit dar. Das Leben ist Eines, und das abgerundetste Kunstwerk, auch die mächtigste Einzelpersönlichkeit, wird wissenschaftlich erst begriffen, wenn sie aus dem Ganzen des Lebens heraus erfaßt wird, in dem sie stand. Darum kann die Wissenschaft vom Hellenentume ihre Grenzen nicht enger ziehen, als sie dem hellenischen Leben gezogen sind. Es ist noch nicht hundert Jahre her, daß diese Wissenschaft in ihrem Leben begriffen ward. Fr. A. Wolf stellte die Forderung auf; A. Boeckh und Fr. G. Welcker begannen den Rahmen, den er leer gelassen hatte, zu füllen. Eine wunderbare Regsamkeit folgte, und mit jedem neuen großen Erfolge hat sich der Rahmen selbst nur erweitert. Es kam auch eine Zeit,[301] wo Gefahr vorhanden war, daß die Einheit verlorenginge, Archäologie, Geschichte, Sprachwissenschaft und viele andere Disziplinen sich abzulösen drohten und Philologie zur Textkritik zusammenzuschrumpfen begann, die also daran das Leben hätte, daß Abschreiber und Philologen die Texte verdorben hätten. Damals erscholl das Lob der philologischen Methode, meist als Selbstlob; hurtig wie nie drehte sich die Mühle der Produktion; es schien aber oft mehr auf das Mahlen anzukommen als auf das Mehl. Diese Zeit ist überwunden, wenigstens in der Wissenschaft; die schädlichen Folgen für das Ansehen der Philologie wirken freilich noch mit bedauerlicher Stärke nach. Allein die Einheit und Unteilbarkeit der Wissenschaft vom antiken Leben ist kaum noch bestritten, und Gefahr liegt heute eher darin, daß über dem Blick ins Weite die notwendige konkrete Einzelforschung zu kurz komme, wo denn die rechte Erbin des reizvollen Spieles der Konjektur und der orthodoxen Archetypus-Diplomatik, die echte Exegese, die Kunst des individuellen Verstehens allein Heil und Rettung bringen kann, eine Kunst, die nimmer und nirgend entbehrlich ist.

Mein Sinn ist immer auf die ganze Wissenschaft vom Hellenentum gerichtet gewesen. Was ich in mündlichen Vorträgen und vollends in der schriftlichen Produktion angegriffen habe, das ist mir fast immer durch äußere Anlässe nahegebracht worden; es hätte ebensogut etwas ganz anderes sein können. Ich weiß am besten, daß ich viel weniger Mangelhaftes hätte produzieren können, wenn ich mich hätte spezialisieren oder doch konzentrieren wollen. Aber ich glaube, ich würde das nicht gekonnt haben, gesetzt, ich hätte es gewollt. Ich wollte es nicht, denn ich empfand meine Wissenschaft immer als dieselbe Einheit, der zustatten käme, was gerade unter meinen Händen war. Daß ich es nicht konnte, lag wohl in meiner Art, und so muß ich es mir gefallen lassen, wenn subjektiv scheint, was ich als objektiv berechtigt übe. Wie dem nun sei: ich kann nicht bestreiten, daß jemand, der also arbeitet, für sich der organisierten akademischen Arbeit kaum bedarf. In der Tat werde ich schwerlich je für mich die Akademie mobil zu machen suchen. Gleichwohl hoffe ich, nicht untätig in ihren Reihen zu stehen, wie ich denn mit besonderer Freude unter Herrn Harnack mit an dem großen Werke Hand angelegt habe, das er zu Nutzen der Wissenschaft und zu Ehren der Akademie, so Gott will, zu Ende führen wird. Denn ich habe allerdings die Überzeugung, daß nur die Organisation wissenschaftlicher Arbeit in der Akademie und weiterhin in der Verbindung der Akademien diesen Körperschaften das Existenzrecht verleiht. Und ich kenne einiges von solcher Tätigkeit, da ich der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften[302] in kritischer Zeit einige Jahre angehört und zum Teil vorgestanden habe. In welchem Sinne ich dort tätig gewesen bin, hier tätig zu sein den guten Willen habe, das läßt sich mit einem Namen sagen, und ich werde es darum nicht unausgesprochen lassen, weil ich zugleich Gott dafür danken muß, daß ich es vor den leiblichen Ohren dessen tun kann, der durch die Tat bewiesen hat, welche Wege zum Ziele führen: im Sinne Theodor Mommsens fasse ich die Aufgabe der Akademie und des Akademikers.«

Wie ich es sagte, bin ich mit eigenen Unternehmungen an die Akademie nicht herangetreten, denn nur weil Diels gerade verreist war, habe ich die Sammlung der griechischen Ärzte beantragt; der Gedanke gehörte ihm und ist ihm bewilligt, weil seine Tatkraft die Sammlung der Aristoteles-Kommentare zur Vollendung gebracht hatte. Der Kommission habe ich unter ihm immer angehört und unsern gemeinsamen Freund Heiberg bestimmt, den durch Diels' Tod verwaisten ersten Band der Hippokrates-Ausgabe zu übernehmen; das sollte Heibergs letzte Arbeit werden. Sonst habe ich nicht eingegriffen, aber schon in Greifswald und so weiterhin nicht nur selbst den Hippokrates gern gelesen, sondern auch in Fredrich und namentlich in Wellmann der Medizin erfolgreiche Bearbeiter geworben. Die Kommission für die Ausgabe der Kirchenväter hatte nicht nur mit der Auswahl der Bearbeiter zu tun, sondern auch den Druck mehrerer Bände zu überwachen. Das war mir bei Clemens Alexandrinus, den ich besonders wertschätze, eine Freude; bei den Sibyllinen kostete es starke Überwindung. Die Beschränkung auf die vornicänischen Väter war praktisch berechtigt, schloß aber gerade die größten christlichen Schriftsteller des 4. Jahrhunderts aus. Daher bestimmte ich die Summe Geldes, die mir zum 60. Geburtstag geschenkt war, für Gregor von Nyssa, und mein Kollege und Freund Norden übernahm die Leitung. Es waren so viele Forschungen in den Bibliotheken und damals noch teure Photographien nötig, daß das Geld nur für den Druck von ganz wenigen Bänden gereicht hat. Zu meiner besonderen Freude ist einer von einem italienischen Gelehrten bearbeitet, denn die Spende kam auch aus dem Auslande. Schon vorher hatte ich der Krakauer Akademie durch einen Schüler die Anregung zur Herausgabe des Gregor von Nazianz gegeben; die Vollendung scheint gesichert, aber erleben werde ich sie nicht.

Einem Plane Mommsens mußte ich entgegentreten, auch wenn sich alle anderen, zum Teil wider ihre bessere Einsicht, seiner Autorität beugten. Der Beschluß ward gefaßt, als mich Kaibels Tod nach Göttingen gerufen hatte, so daß ich nicht gleich abraten konnte; die Ausführung ward in[303] die Hand der Kirchenväterkommission gelegt. Was Mommsen wünschte, war die Fortsetzung der Prosopographia imperii Romani auf die ersten byzantinischen Jahrhunderte, und er dachte an die Staatsbeamten. Da die Würdenträger der Kirche nicht fehlen durften, verband er sich mit Harnack. Aber in der Kirche war die überhaupt schwierige Abgrenzung der notablen Männer undurchführbar, schon um der Mönche willen; so wird mit vielen hundert Johannes zu rechnen sein. Das Unternehmen war auch verfrüht, denn ein großer Teil des Materiales war unveröffentlicht; die großartige Forschung von Eduard Schwartz hat seither eine Menge unbekannter Tatsachen und Männer ans Licht gezogen. So ist der ganze Plan denn auch gescheitert. Gerade der Teil, auf den es Mommsen ankam, ist ganz aufgegeben. Die Christen übernahm Jülicher, und die Bearbeitung durch einen so hervorragenden Gelehrten hat schon sehr schöne Einzelergebnisse gezeitigt, ohne Frage wird es deren mehr geben, und die Vorarbeiten behalten hohen Wert, auch wenn es zum Druck des Ganzen, d.h. dieses christlichen Teiles, nicht kommen sollte. Es war eine täuschende Ausrede, daß die Fonds der Akademie nicht belastet würden, weil die Kosten von der Wentzel-Heckmann-Stiftung getragen würden, die doch auch der Akademie unterstand; jetzt ist deren Vermögen durch die Inflation fast verloren. Wieviel würde heute erreicht sein, wenn die auf ein uferloses Unternehmen verwandten Summen den Kirchenvätern zugute gekommen wären.

Es liegt Größe, aber es liegt auch Tragik darin, daß Mommsen die Zukunft auf Pläne festlegen wollte, bei denen er die Leistungsfähigkeit nicht nur der erreichbaren Geldmittel, sondern auch der verfügbaren Menschen überschätzte. Für seine Ausgabe des Codex Theodosianus konnte die Akademie noch die unverhältnismäßigen Kosten aufbringen, aber die Sammlung der griechischen Münzen, wie er sie plante, war schlechthin undurchführbar, wäre es gewesen, auch wenn London und Paris sich nicht (mit Recht, wie mir scheint) ablehnend verhalten hätten, wovon er sich noch selbst in Paris überzeugen mußte. Vergebens hat er noch eine ihm zur Verfügung gestellte Summe diesem Unternehmen zugewiesen. Die Akademie würde gezwungen gewesen sein, sich auf einige Bände zu beschränken, auch wenn der Zusammenbruch Deutschlands nicht erfolgt wäre. Zum Glück ist durch eine hochherzige Stiftung Imhoof-Blumers eine Stelle für einen Hilfsarbeiter der Akademie geschaffen, der die Numismatik dauernd unabhängig von den Münzsammlungen treiben kann.

Die griechischen Inschriften leitete bis in den Juli 1902 A. Kirchhoff; da übergab er sie mir in der Form, daß er einen Kasten ausschüttete, in dem[304] das ihm für die Sammlung zugewiesene Geld lag, das ich sofort bei der Seehandlung hinterlegte. Schon an Kaibels Band hatte ich mitgearbeitet, und im Anfang der 90er Jahre hatte Mommsen auf meine Anregung in der Kommission, der er zum Glück angehörte, durchgesetzt, daß die Akademie die Inschriften der griechischen Inseln zu sammeln unternahm, und drei Hefte waren bereits erschienen. Den Anstoß hatten die aus eigener Initiative und mit eigenen Mitteln unternommenen Ausgrabungen von Fr. Hiller von Gaertringen, meinem Begleiter auf der Reise des Jahrs 1890, gegeben. Er hatte schon damals seine wissenschaftlichen Pläne mit mir besprochen, dann das Theater von Magnesia ausgegraben, was zunächst dem Museum zugute kam17, dann Rhodos für die Inschriften abgesucht, in Thera seine umfassende Ausgrabung ins Werk gesetzt, die allgemeines Aufsehen erregte. So waren wir beide längst Mitarbeiter der Akademie. Auch daß die lesbischen Inschriften durch W. Paton gesammelt wurden, hatte ich allein vermittelt; daß ich hier die Bogen nicht las, lag an einem Verbote Kirchhoffs, angeblich weil es den Druck aufhalten würde, jetzt, wo ich in Berlin war; in Göttingen hatte es das nicht getan. In Wahrheit war Kirchhoff nun auch wissenschaftlich ganz erstarrt, wie er es für den Unterricht schon länger war. Die Abklatsche hatte er nie aufgehoben, die von Lolling gesandten Inschriften schon in den 80er Jahren ohne jedes Wort der Erläuterung abgedruckt, die schönsten Mitteilungen von A. Wilhelm ungenutzt liegen lassen; manche seiner Briefe lagen uneröffnet in den ungeordneten Papieren. Es mußte also energisch durchgegriffen werden. Statt einer Anzahl verschiedener Corpora mußte alles in eine Sammlung zusammengezogen und die Grenzen, die für sie gelten sollten, bestimmt werden. Ein Vertrag mit einem ungeeigneten Bearbeiter für ein Teilgebiet mußte gelöst werden. In Betreff der delphischen Inschriften, die, ohne an die französischen Pläne zu denken, an H. Pomtow gegeben waren, war (wieder durch Mommsens Vermittlung) abgemacht, daß er nur die vor jenen Ausgrabungen bekannten Steine bearbeiten und diese Bearbeitung dann den Franzosen übergeben sollte. Das war sehr hart für ihn, denn seine Beziehungen zu den französischen Gelehrten waren nicht ohne seine Schuld äußerst gespannt. Aber ich konnte ihm nicht helfen; seine Polemik war auch[305] mit meinem Wunsche unvereinbar, der auf freundschaftliche Zusammenarbeit gerichtet war. Von jener Seite ist sein rastloser Eifer dann mit noch größerer Feindseligkeit angegriffen worden; seine Kontrolle war der französischen Ausgrabung unwillkommen, aber die Wissenschaft hat allen Grund, ihm dankbar zu sein. Über die delischen Inschriften wird später gehandelt. Der unvermeidliche Übergang zur Minuskel ward nur gegen starkes Widerstreben der Spezialisten durchgesetzt, ist aber heute anerkannt; die für die Papyri geschnittenen neuen Typen kamen den Inschriften sehr zugute. Ein falscher Schritt der früheren Kommission ist erst später nicht ohne Opfer zurückgetan. Trotz dem einsichtigen Urteil Ulrich Köhlers, der einen Neudruck seines Teiles der attischen Inschriften verlangte, hatte man ihn gezwungen, nach der mindestens hier nicht maßgebenden Praxis der lateinischen Inschriften einen Ergänzungsband zu machen. Das zwang schließlich doch zu dem, was Köhler verlangt hatte, und zum Glück fand sich in Professor J. Kirchner ein unermüdlicher Bearbeiter. Das für die Zukunft Allerwichtigste war, daß ich dank dem persönlichen Wohlwollen, das ich bei dem Minister v. Studt immer gefunden habe, durch eine Audienz bei dem Finanzminister v. Rheinbaben die Schaffung einer Stelle für einen wissenschaftlichen Hilfsarbeiter durchsetzte. In ihr trat Hiller endlich auch äußerlich in das Verhältnis zur Akademie, das seit langen Jahren tatsächlich bestanden hatte. Da ich in den Rechenschaftsberichten des Friedrichtages 1914 und 1928 über die Unternehmung berichtet, auch von ihrer Entstehung gehandelt und einige Gedanken über die Aufgaben der Zukunft ausgesprochen habe, kann ich hier kurz sein. Es ist fast beängstigend, daß es in Deutschland an Epigraphikern fehlt, weil zwar Sprachwissenschaft, Geschichte und Archäologie sie nicht entbehren können, aber alle sie nur als eine Hilfsdisziplin betrachten; die modernere Papyrologie reizt auch zur Zeit mehr. In Göttingen hatte ich noch erfolgreich epigraphische Übungen halten können, hier war es nicht möglich. Übungen, keine systematischen Vorlesungen, sind nötig, damit Epigraphiker herangebildet werden. Wenn dafür nicht gesorgt wird, fürchte ich für die Zukunft.

An der Akademie hängt mein Herz, und sie hat alle Erschütterungen überstanden ohne Einbuße an ihrer Ehre; sie hat sich auch immer, selbst in den schwersten Zeiten, der staatlichen Fürsorge zu erfreuen gehabt. Es ist ein großer Trost, daß die reine Wissenschaft auch jetzt alle mögliche Förderung findet. Aber sie führt ein Leben ziemlich im Verborgenen; die Berliner und überhaupt die Deutschen nehmen wenig von ihr Notiz. Wie anders in Frankreich, ganz abgesehen von den Immortels der Académie Française, die Daudet[306] und die Goncourts verhöhnt haben. Wir sind zum Glück von einer solchen Akademie verschont geblieben und bedauern die Akademie der Künste, mit der wir lange unter demselben Dache gewohnt haben, daß sie mit einer Abteilung für Dichter verkoppelt ist, die sich schon lächerlich genug gemacht hat und die wirklich bedeutenden Dichter, die wir doch noch haben, ausschließt. Noch mehr als in Frankreich, wo die Stiftung von Preisen, eine wenig nachahmenswerte Einrichtung, bevorzugt wird, sollte Dänemark uns vorbildlich sein. Seine Akademie dankt ihre reichen Mittel den Schenkungen einsichtiger und hochsinniger Bürger, und die Verwaltung kann so liberal sein, daß auch deutsche Gelehrte bedacht werden. An unsere Akademie denkt nicht leicht einer, und doch gibt es so gar viele wissenschaftliche Arbeit, die wir gern unterstützen möchten, so viele Aufgaben, die wir kennen und die nur durch Organisation im großen zu lösen sind. Als 1910 bei dem Universitätsjubiläum die Institute der Kaiser-Wilhelms-Gesellschaft gegründet wurden, konnte ich mich wenig freuen, erstens weil der Kaiser nur den Namen hergab, das Geld in der Hauptsache von der Industrie kam, zweitens weil sie die Universität nichts angingen, endlich weil die Industrie, wenn sie so etwas ins Leben ruft, an praktische Ergebnisse für sich selbst denkt. Das ist ihr nicht zu verdenken, aber es ist sehr amerikanisch. Jetzt haben sich die Institute ins Ungemessene vermehrt; für die sog. Geisteswissenschaften ist dicis causa ein klein wenig begonnen. Es kann einem Freunde der Akademie angst werden, wenn er sich ausmalt, daß sich alle diese reich ausgestatteten und erfolgreichen Institute zu einer naturwissenschaftlichen Vereinigung zusammenschließen könnten, so daß unsere Klasse ganz in den Schatten träte. Dann kann leicht gesagt werden, auf die Vorträge in der Akademie kommt wenig an, auf die Sitzungsberichte erst recht nicht. Wem dagegen an der Einheit der Wissenschaft liegt, wer auch für nötig hält, daß eine Körperschaft das nötige Gewicht behält, um die deutsche Wissenschaft nach außen und innen selbständig zu vertreten, der muß wünschen, daß die Akademie zum mindesten ihre Geltung behält. Sie kann es nur, wenn sie in der Lage bleibt, große Unternehmungen durchzuführen, für andere dauernd zu sorgen, weil sie dauernder Pflege bedürfen. Ein Stab von wissenschaftlichen Beamten ist dazu unerläßlich; ihre Zahl war daher seit der Schaffung solcher Stellen bis zum Kriege in stetem Wachsen. Es ist bitter, zu sehen, wie die Hunderttausende für Bauten und Gehälter bei den Kaiser-Wilhelm-Gesellschaften immer verfügbar sind, aber die paar tausend, um die es sich hier handelt, auch in den dringendsten Fällen versagt werden. Dabei muß es zunächst bleiben, aber nur aus Not, daß fast alle ordentlichen Mitglieder[307] es im Nebenamte sind; eigentlich sollten sehr viel mehr Akademiker im Nebenamt an den Hochschulen lehren.

In etwas kann die Akademie sich selbst stark ausbauen, in der Heranziehung der Korrespondenten zur Teilnahme an der Leitung von akademischen Unternehmungen; der Verkehr ist jetzt so erleichtert, daß sie auch in Sitzungen und Kommissionen auftreten sollten. Man kann sogar daran denken, zu ordentlichen Mitgliedern Gelehrte zu machen, die in einer anderen Stadt ihre amtliche Tätigkeit haben. Lagarde hatte sich schon Göttingen in dieser Weise als das Organ gedacht, in dem die Gelehrten aus ganz Nordwestdeutschland zusammenwirkten. Leipzig pflegt an Jena zu denken, und seit Heidelberg eine Akademie hat, könnte sie Südwestdeutschland umfassen. Die Sitzungen würden danach etwas umzugestalten sein, was sich ohne viel Schaden einrichten ließe. An ihnen, an den Vorträgen, den Publikationen mag manches verbesserungsfähig sein; das ist Nebensache. Endlich wird die Akademie gut tun, nicht zu vornehm zu tun, sondern mehr hervorzutreten, um die Gunst weiterer Kreise zu gewinnen.

Die Akademie ist auch in erster Stelle Trägerin unserer wissenschaftlichen Beziehungen zum Auslande, für welche ja die Association des académies bestand. Damit dabei etwas herauskommt, ist die wichtigste Vorbedingung, daß die Regierungen sich nicht einmischen, wie denn schon vor dem Kriege die französische Regierung die Durchführung von Beschlüssen verhindert hat, denen die französischen Gelehrten zugestimmt hatten. Kongresse, wie die in Rom und Athen, von denen ich berichtet habe, haben im Grunde nur Wert, indem sie die Menschen zusammenführen und in ihnen das Gefühl der kollegialen Zusammengehörigkeit wecken oder stärken. Persönliche Beziehung zum Auslande hatte ich schon nicht wenige. Nun führte mich eine Einladung durch die Studentenschaften zu Vorträgen nach den vier holländischen Universitäten. In Leiden betrat ich nicht ohne Befangenheit das Katheder des großen Scaliger. In Amsterdam war der Gegensatz der großen Stadt zu dem etwas verschlafenen Leiden stark; der mächtige Bürgermeister sagte nach meinem Vortrage: »heute steht Ihr Pindar über pari«, woraus doch folgte, daß der Kurs des Griechischen im allgemeinen tief war. Die Gastlichkeit im Hause K. Kuipers war nicht minder herzlich als in Utrecht bei dem Gefährten der römischen Jugendtage J. Vollgraff und in Groningen bei seinem Sohne, meinem Schüler W. Vollgraff. Ich konnte Naber und Herwerden noch die Hände schütteln; im Gefühle der Zusammengehörigkeit war der Gegensatz zu den Schülern Cobets überwunden, dessen geschichtliche Berechtigung ich in Leiden voll anerkannt hatte. Der wenn auch flüchtige Besuch[308] des Landes erhöhte das Verständnis der holländischen Malerei, auch dadurch, daß ich erst hier die der Gegenwart kennenlernte. Zu Franz Hals bin ich eigens nach Harlem gepilgert. Am Tische von Jan Six fühlte man sich ganz in der Zeit Rembrandts; nur aus seinen blühenden Kindern lachte die Gegenwart.

Auch in die drei skandinavischen Länder bin ich zu Vorträgen geladen worden. In Dänemark hat die Philologie durch Madvig eine so feste Stellung wie nur irgendwo sonst, in Schweden nimmt sie einen Aufschwung, der das Höchste verspricht; Norwegen mit seinem frisch geweckten Selbstgefühl wird nicht zurückbleiben. In Kopenhagen traf ich auf die alten Freunde, war auch einmal mit meiner Frau in einem Seebad am Kattegat gewesen, und wir hatten die Sprache lesen gelernt; bald fühlte ich mich angeheimelt, wenn ich die Statue des alten Bischofs Absalom wiedersah, denn ich habe öfter Vorträge gehalten, durfte auch einmal einer Sitzung der Akademie beiwohnen, angesichts des wunderbaren Gemäldes Kroyers; das ist eine andere, lebensvollere Kunst als in der Predigt Fichtes in der Berliner Aula. Die Akademie hat sich unter der Ägide der Association mit der unsern zur Herausgabe der griechischen Ärzte verbunden, und in dieser nie unterbrochenen Gemeinschaft hat sich gezeigt, daß die Wissenschaft alle politischen Mißstimmungen überwinden kann. Der König von Dänemark kam selbst zu einem meiner Vorträge in die Universität; nur der deutsche Gesandte beliebte meine Anwesenheit zu ignorieren. Das war in Oslo und Stockholm anders, die Aufnahme durch die Kollegen nicht minder herzlich. An beiden Orten kam der Genuß der Natur, der Landschaft hinzu, während in Kopenhagen erst der Mensch das Schöne geschaffen hat. Von Norwegen zeigte das einzige Oslo freilich allzuwenig, aber Schwedens Natur offenbart sich doch einigermaßen, wenn man von einer Universität zur andern fährt, und in Stockholm und Göteborg lernt der Deutsche auch eine echt schwedische Kunst kennen, von der er im allgemeinen viel zu wenig weiß, was von der dänischen ebenso gilt, und es tut sehr gut, gerade das Nationale, vom Deutschen unterschiedene und doch Germanische herauszufühlen. Von Wert war es auch hier wie in Holland, die andere Organisation der Studentenschaft kennenzulernen; den besonderen Bedingungen wird sie entsprechen, aber ich lernte schätzen, ein wie hohes Gut die Freizügigkeit der Studenten bei uns ist, die alle mehrere Universitäten kennenlernen sollten, was nur die bittere Not zu vielen verbietet. An allen schwedischen Universitäten ergaben sich dauernde Freundschaften, und als Hjärne mir einige seiner Schriften schenkte, Kjellberg Rydbergs Gedichte, fing ich an, die Sprache zu lernen, deren melodischer Klang schon ein ganz eigenartiger Genuß war, schon eher als ich die Worte verstand. Ich bin[309] noch wiederholt in das schöne Land gekommen, namentlich nach Lund, das die Vorzüge der kleinen Universitätsstadt hat. Mit welcher großartigen Freigebigkeit mir Schweden Gelder zur Unterstützung unserer Studenten zur Verfügung gestellt haben, ist von mir öfter gerühmt worden; ungern unterdrücke ich die Einzelheiten.

Nach Amerika zu gehen würde die Arbeit zu sehr gestört haben, so verlockend namentlich eine Einladung nach Chicago war. Da die Amerikaner auch zu dem Berliner Kongresse nicht kamen, konnte der Verkehr mit einigen dortigen Kollegen nur brieflich sein. Doch habe ich den ehrwürdigen Gildersleeve, der noch bei Boeckh gehört hatte, sogar in meine Vorlesung führen dürfen, wo die Studenten ihn seiner Würde gemäß begrüßten, und er hat mich wohl nicht so imperious gefunden, wie er mich früher im Gegensatze zu dem imperial Boeckh bezeichnet hatte. Als eine der höchstmöglichen Ehren rechne ich, daß ich in Oxford zwei Vorlesungen halten durfte, die kein geringerer als Gilbert Murray mir übersetzt hatte. Oxford in lachendem Frühling zu sehen, bei dem Vizekanzler, dem Präsidenten von Magdalen College, in den Zimmern zu wohnen, in den Betten zu schlafen, wo einst die Stifter des College, Heinrich VIII. und Anna Boleyn, geschlafen hatten in Queenscollege zu Grenfell und Hunt hinaufzusteigen, um einen Blick auf ihre Papyrusschätze zu werfen (ein Ibscher fehlte allerdings), das war alles in seiner Weise ebenso bezaubernd wie bei Windsor einen langen Gang unter mannshohen blühenden Rhododendren zu durchwandern, in Cambridge einer Regatta beizuwohnen. Überhaupt der Eindruck des Landes, das keinen dreißigjährigen Krieg und keine französischen Raubzüge gekannt hat, wo nun die ganze Landschaft um die Themse von London aufwärts ein Park ist, und das Volk mit seinem selbstbewußten Fühlen und der entsprechenden Haltung, dies alles machte das Viele, was man gelesen hatte, erst ganz lebendig. In Westminster am Pfingsttage fragte mich eine Frau aus dem Volke, weshalb die Kapelle leer wäre, in der Cromwell einst bestattet war, und rief nach der Auskunft entrüstet, never ought to be there. Da mußte ich doch denken, daß dieser Mann in der Geschichte seines Vaterlandes als einer der Begründer von Englands Größe verehrt zu werden verdiente. Nicht nur Bewunderung, sondern aufrichtige Sympathie fühlte ich für dieses England, unbeschadet mancher Kritik, die auch die Universitäten herausfordern. Fremdartig war das Meiste, vieles nachahmenswert; aber ich begriff auch, daß man sich scheut, altererbte Formen aufzugeben; auch Perücken gehören zu dem grandiosen Stil. Die Deutschen kommen sich heute recht fortgeschritten vor, wenn sie alle solche Traditionen zerstören.[310]

Für das nächste Jahr, 1908, war der Kongreß aller historischen Wissenschaften in Berlin angesetzt. Ich hatte in Oxford die englischen Kollegen gebeten, es möchten recht viele zu uns kommen, auch um für Verständigung zwischen unsern Staaten zu demonstrieren. Das ward zugesagt und durchgeführt. Der Kongreß hatte den vollsten Erfolg. Das vorbereitende Komitee, dem ich angehörte, hatte für die öffentlichen Sitzungen Vorsorge dahin getroffen, daß kein Deutscher, sondern nur Gäste redeten, und es war ein seltener Genuß, die vier Hauptsprachen von vollendeten Rednern gesprochen zu hören; ich selbst hatte die besondere Freude, daß es auch bei Tisch in meinem Hause so geschah. Von den Begrüßungen ist die englische von R.W. Macan auch jetzt noch besonders lebendig in unserem Gedächtnis, kein Mißton trübte das Zusammensein. Freilich war unverkennbar, daß auch die besonders geladenen Franzosen ihr Versprechen nicht hielten, sondern Ausreden vorbrachten wie im Gleichnis des Evangeliums: »ich habe ein Weib genommen, ein Joch Ochsen gekauft.« Nur Maspero kam mit seinem Gefolge, was seiner ganzen Haltung entsprach und natürlich besonders hoch aufgenommen ward. Der Kaiser war auf der Nordfahrt; sein Vertreter, Prinz Friedrich Leopold machte eine klägliche Figur, aber zum Glück übersahen ihn die Ausländer ganz. Es war günstig, daß wir ganz unter uns Gelehrten blieben; die kaiserliche Einladung einiger weniger nach Potsdam in die Orangerie ward nun als eine nicht belastende Aufmerksamkeit besonders geschätzt.

Als ich im Winter meinen 60. Geburtstag feierte, tat mir Sir William Ramsay die Ehre an, herüberzukommen und im Namen der englischen Fachgenossen zu gratulieren. Die Pointe seiner feinen Rede lief auf eine Anspielung hinaus, die nur verständlich war, wenn man Brownings Abt Vogler kannte. Durch einen glücklichen Zufall verstand ich; es wäre sonst peinlich gewesen, und das Zutrauen, daß die Deutschen Browning kannten, war mehr ehrenvoll als berechtigt. Es gab mit dem Kenner Kleinasiens auch politische Gespräche über die Bagdadbahn, deren kulturfördernde Wirksamkeit er bewunderte, und einen möglichen Ausgleich der englischen und deutschen Interessen im nahen Orient. Bei gutem Willen und genügender Einsicht der Diplomaten war das gewiß durchführbar; aber wir trauten beide unsern Diplomaten nicht.

1913 war derselbe Kongreß in London. Es müssen da Mißhelligkeiten vorhergegangen sein, denn die Oxforder Herren fehlten fast alle; London war wohl auch nicht der rechte Ort. Kurz, es klappte nicht recht, und das gab mancher Engländer in vertraulichem Gespräche zu. Nur die Eröffnungsfeier in Lincolnsinn war eindrucksvoll. Man wies mich an, für alle Akademien[311] zu sprechen, obgleich ich gar kein offizieller Delegierter war; der neben mir sitzende Pariser Kollege war sichtlich verstimmt, trotzdem ich der Pariser Akademie die schuldige Reverenz gemacht hatte. Franzosen fehlten wieder fast ganz. Mit uns Deutschen verkehrten besonders die Russen und nahmen die Aufforderung an, daß 1918 der Kongreß in Petersburg gehalten werden sollte. Zu mir sagte einer von ihnen: »bis dahin haben wir einen Krieg gehabt, aber dann ist wieder alles in Ordnung.« Und als ich ungläubig war und auf die alte Freundschaft zwischen Preußen und Rußland verwies, kam die Antwort: »schon recht, aber ihr habt einen schlechten Verbündeten.« Im englischen Volke, durchaus nicht etwa bei den Gelehrten oder den Regierungsvertretern, war Deutschenhaß unverkennbar. Es war gerade ein deutsches Luftschiff zu einer Landung bei Lunéville gezwungen, dazu machten mehrere Zeitungen sehr hämische Glossen, und die Zeitungsjungen riefen die Evening News mit dem Zusatz aus a German Sedan. Auch auf der Insel Wight, die ich mit meiner Frau besuchte, verriet es sich in Unterhaltungen mit der Bevölkerung.

Nach Frankreich bin ich nicht gekommen, obwohl ich oft gemahnt ward, meinen fauteuil als Mitglied der Académie des inscriptions einzunehmen. Ich hatte besonders auf Grund meiner Kriegserfahrungen die Illusion, die Franzosen könnten sich mit uns aufrichtig vertragen, und ich ersehnte diese Versöhnung, die heute nur für möglich halten kann, wer zur Dienstbarkeit unter Frankreich so bereit ist wie einst die Staaten des Rheinbundes. Nach den Erfahrungen in Griechenland ließ ich mir besonders angelegen sein, die Beziehungen zu den französischen Epigraphikern zu pflegen, die so vorzügliches leisteten. Sie wurden alle unsere Korrespondenten. Ein junger Franzose, S. Delamarre, hatte für unsere Sammlung die Inschriften von Amorgos bearbeitet, und da er selbst todkrank war, übernahm Hiller in Wahrheit die ganze Last der Edition, was ihm den gerührten Dank der Mutter und eine nahe Verbindung mit B. Haussoullier eintrug. In welchem Sinne ich unser gegenseitiges Verhältnis immer aufgefaßt habe, zeigt der Schluß meiner Vorrede dieses Bandes: in ipsa fronte profitendum est, totum hunc librum amicitiae esse fetum, quam in Gallorum Germanorumque virorum animis studiorum curarumque communio procreavit. Bald darauf kam über Hiller an mich die vertrauliche Mitteilung, man wünschte auch die delischen Inschriften in unserer Sammlung erscheinen zu lassen. Sofort sagte ich zu, Th. Homolle kam selbst herüber, und in meinem Zimmer stellten wir die Bedingungen fest, unter denen die Pariser Akademie die Inschriften von Delos bei uns erscheinen lassen wollte. Diese Bedingungen wurden dann von Paris aus vor unsere Akademie gebracht,[312] und der Druck begann. Es war eine reine Freude, mit den ausgezeichneten Bearbeitern F. Dürrbach und P. Roussel zusammenzuarbeiten, denn wir nahmen es auch ernst, ebenso Haussoullier, und selbst P. Foucart sandte Berichtigungen, auch zu anderen unserer Bände. Ein drittes Heft war im Druck, die Tafeln nach unseren Angaben fertig, als der Krieg ausbrach. Wenige Wochen vorher konnte ich bei einer zufälligen Begegnung mit dem französischen Botschafter versichern, daß zwischen unseren Akademien une alliance bien étroite bestünde, was er mit ungläubiger Verwunderung aufnahm; er wußte ja um das französisch-russisch-englische Komplott. Nun mußte der Druck ruhen; wir ließen die angefangenen Bogen jahrelang im Satze stehen, immer in der Hoffnung, daß einmal der Tag der Fortsetzung kommen würde. Welche schmerzliche Überraschung, als eine französische Ausgabe der bei uns gedruckten Inschriften erschien, ohne Mitteilung an uns, aber mit Benutzung unserer Bemerkungen. Das scharf zu rügen, war meine Pflicht, in eigenem Namen, denn die Akademie durfte nicht hineingezogen werden. Darüber hatte ich mir nie Illusionen gemacht, daß Homolle widerwillig zu den Deutschen gegangen war; was von den Gebrüdern Reinach, aus einer Frankfurter Judenfamilie, zu erwarten war, ahnten wir auch und hat sich noch nach dem Kriege nur zu deutlich gezeigt. Ich bin zu diskret, aus Briefen und vertraulichen Äußerungen etwas mitzuteilen, aber ich weiß mancherlei. Daß Haussoullier mit unter den Leitern der neuen Publikation stand, tat weh, aber um der Inschriften willen konnte er es wohl nicht vermeiden. Das war ein ausgesprochen feindlicher Akt, der die Wissenschaft noch mehr schädigt als uns. Die Tafeln hatten sie nicht, ergänzten sie nicht; ich habe sie als ein besonderes Heft ausgegeben. Wie die Sammlung der delischen Inschriften einmal aussehen soll, wird sich der blinde Haß vielleicht gar nicht überlegt haben. Er hat auch versucht, die Inschriften überhaupt aus der deutschen Hand zu nehmen, einerlei, ob sie dabei verkämen, dies allerdings vergeblich.

Zunächst war also meine Beziehung zu den französischen Kollegen ganz eng geworden. Der greise Perrot schrieb eine besonders eingehende, wohlwollende Charakteristik von mir. Nun kam der Krieg. Schon im Herbste 1914 hat die Pariser Akademie mich ausgestoßen, weil mein Name unter den 93 steht, welche eine öffentliche Erklärung gegen die Verleumdungen Deutschlands erließen, wie sie sofort in den Feindesländern mit einer nur zu erfolgreichen Propaganda austrompetet wurden. Mit der Erklärung war es so zugegangen. Der Protest gegen die infame Lüge von der deutschen Kriegsschuld und die ebenso dummen Lügen von den deutschen Greueltaten war durchaus gerechtfertigt. Eine erste Form, die mir vorlag, ward als ungeschickt[313] verworfen. Dann telephonierte mir der Berliner Bürgermeister Reicke, ein stark freisinniger, d.h. demokratischer Mann, die Adresse wäre nun verbessert, aber Zeit zu weiterer Prüfung wäre nicht mehr, ich sollte meinen Namen zur Verfügung stellen. Daß ich das tat, ohne den Text zu kennen, war leichtsinnig und verkehrt. Ich habe denn auch bald, als bekannt ward, daß auch die Neutralen Anstoß nahmen, mit einer Anzahl von Kollegen dorthin mitteilen lassen, daß ich die Form preisgäbe. Aber die Wahrheit gebe ich nicht preis und verachte jeden, der nach dem Zusammenbruche pater peccavi gesagt und seinen Namen zurückgezogen hat; es sind gerade solche darunter, die an der anstößigen Fassung mitschuldig sind. Die Streichung durch die Pariser habe ich damit beantwortet, daß auf den Diplomen meines Rektorates steht: plerarumque in hoc orbe academiarum socius, e Parisina honoris causa eiectus. Es ist begreiflich, daß alle die, welche sich auf die offiziellen Angaben der Ententeregierungen verließen, also an Deutschlands Kriegsschuld glaubten, unsere Versicherung des Gegenteiles mit Entrüstung aufnahmen; aber selbst dann hätten wir nur dasselbe getan wie sie und den Versicherungen unserer Regierung getraut. Nun dringt die Wahrheit aber durch, und jeder, der sich um die Wahrheit bemüht, muß auch zugeben, daß wir nicht nur ehrlich gehandelt haben, sondern das moralische Recht auf unserer Seite war.

Die Pariser und später die Brüsseler Akademie haben dann alle Deutschen ausgestoßen. Wir haben das nicht getan, mochten einzelne unserer Korrespondenten auch noch so unverantwortliche Schmähungen aussprechen. Zu unserer Freude haben die anderen Akademien der Feinde ebenso gehandelt und hat sich da der Verkehr bald in freundschaftliche oder doch korrekte Formen zurückgefunden. Es wird auch der Tag kommen, wo die Akademieen unabhängig von jeder staatlichen Bevormundung sich auf dem Boden der Gleichberechtigung wieder zusammenschließen: bei uns Deutschen ist die ehrliche Bereitwilligkeit und der lebhafteste Wunsch vorhanden, wie sie es immer waren: das Ganze ist ja ein deutscher Gedanke.

Gerade wer fest und treu zu seinem Vaterlande steht, wird dieselbe Haltung bei jedem anderen zu achten am ehesten bereit sein, und nur durch solche ehrenfeste Männer kann ein wirklich ehrlicher und haltbarer Friede zwischen den Völkern zustande kommen, nicht durch schmachtlappige oder heimtückische Pazifisten. Solange tyrannische Gelüste und feige Unterwürfigkeit herrschen, von vaterlandsloser Verräterei ganz zu schweigen, ist und bleibt latenter Kriegszustand außen und innen. Aber gerade darum können und sollen die redlichen Männer der Wissenschaft, gewohnt, der Wahrheit zu[314] dienen, durch ihre patriotische und den Patriotismus der anderen achtende Gesinnung und ihr neidloses Zusammenarbeiten für eine gemeinsame heilige Sache auch zugleich ihren Vaterländern und dem Frieden dienen. Der Gesang der Engel hat den Frieden auf Erden nur ἐν ἀνϑρώποις εὐδοκίας verkündet. Das sind die echten Männer der Wissenschaft, denn ihnen ist der Dienst der Wahrheit Gottesdienst18.

Im Jahre 1910 feierte unsere Universität ihr hundertjähriges Bestehen. Wieder kamen Abgesandte aus allen Ländern, wieder fanden sie freudige Aufnahme öffentlich und in vielen Häusern, wieder gab es keinen Mißklang. Es imponierte doch, daß der Kaiser unter seinen Professoren saß, mitsang und vom Katheder sprach, daß Erich Schmidt als Rektor sagte: »im Götz ertönen nur zwei Hochrufe, es lebe der Kaiser und es lebe die Freiheit!« Jetzt ist Kaiser und Freiheit zugleich verloren. Und die Verbrüderung von Militarismus und Wissenschaft imponierte auch; gerade das ist mir von ausländlichen Gästen ausgesprochen. Mir fiel es zu, bei dem Festmahle die »akademischen« Gäste zu begrüßen. Was ich damals gesprochen habe, wiederhole ich hier. Die Welt hat ein anderes Aussehen bekommen, aber was ich damals sprach, entspricht auch heute meinem Glauben und auf ihm ruht meine Hoffnung. So mag es das Schlußwort dieser Bekenntnisse sein.

Mir ist die ehrenvolle Aufgabe gestellt, diejenigen unserer Ehrengäste zu begrüßen, welche eine Stätte wissenschaftlicher Arbeit und wissenschaftlichen Unterrichtes vertreten. Da läge es nahe, auf die einzelnen Körperschaften, Länder, auch die einzelnen Männer einzugehen, zumal für den, der sich vielen eng verbunden fühlt. Aber eben darum würde es nicht nur lang, sondern ungerecht werden, und so verstatten Sie mir, daß ich vielmehr von dem rede, was uns allen gemeinsam ist, daß ich Sie als unsere Kollegen begrüße, und ich hoffe, Sie werden auch ein ernstes Wort anhören mögen, wenn Sie sich an unserm Tisch als Kollegen behaglich fühlen.

Die Universität Berlin hat ihre Einladungen über die ganze Erde hinausgesandt, und ihre Erwartung freundlicher Aufnahme und Annahme hat nicht getrogen. Das hätte sie nicht wagen können, wenn sie keine höheren Aufgaben hätte, als wenigstens die deutschen Universitäten des 18. Jahrhunderts offiziell hatten. Damals tat der Professor alles, was man von ihm verlangte, wenn er anerkannte Lehren »tradierte« und der Student sich, wie der junge Wolfgang Goethe, überzeugte, daß »er nichts sagt, als was im Buche steht«;[315] heut wissen wir freilich nur noch von denen, die das opus super erogationem eigener Forschung leisteten. Das ist anders geworden seit der Gründung Berlins. Denn niemals ist klarer erkannt worden, wärmer gefühlt und schärfer ausgesprochen, wozu die Universität da ist, als von Wilhelm Humboldt und den Männern um ihn. Sie beseelte eben der Glaube an die Idee der Wissenschaft, die in ihrer Universalität der ganzen Menschheit zugeteilt ist, aber in die Erscheinung kann sie nur treten in den einzelnen Gelehrten, in den einzelnen wissenschaftlichen Genossenschaften und in den Bildungsanstalten des einzelnen Staates und Volkes. So schufen sie in der Universität eine wissenschaftliche Bildungsanstalt und eine Genossenschaft von Gelehrten zugleich für Preußen und die Welt. Nur solange die Universität der Wissenschaft im Sinne ihrer Stifter dient, hat sie ein Existenzrecht, und wenn wir den Glauben unserer Stifter verlieren, verdienen wir nicht mehr zu sein. Bleiben wir aber der Idee getreu, so brauchen wir uns nicht zu scheuen, ihre Erscheinungsform mit freimütigem, kritischem Auge an der Idee zu messen, der, weil sie ewig ist, keine zeitlich und örtlich bedingte und beschränkte Erscheinung voll genügen kann.

Ob der Anschluß an die überlieferte Gliederung in die vier Fakultäten usw. noch berechtigt wäre, ist schon unsern Gründern unsicher gewesen. Sicherlich war es schon damals unzutreffend, wenn man den Namen universitas umdeutend die Gesamtheit aller Zweige der Wissenschaft zu umfassen wähnte. Heute sind neben der Universität andere gleichberechtigte Hochschulen hervorgetreten, gleichberechtigt, weil sie ebenfalls das Prinzip der wissenschaftlichen Forschung und Lehre anerkennen, das sie nur auf andere Objekte oder doch zugleich auf andere praktische Ziele richten. Ohne Frage wird die Zeit noch manche solche Gründungen bringen. Wir aber, das Auge auf das Ganze der Wissenschaft gerichtet, bieten auch den noch Ungeborenen unser Willkommen, indem wir die Vertreter der Gegenwärtigen als unsere Kollegen unter uns begrüßen.

Vor hundert Jahren durfte man noch meinen, daß Gymnasium und Universität, wie man sie damals schuf, den Bildungsbedürfnissen des Volkes genügen würden. Heute führen nicht nur verschiedene Wege der Vorbildung auf die Universität, es ist auch unleugbar, daß eine große Zahl von Männern und Frauen, die dieser Vorbildung entbehren und entbehren müssen, einen heißen Durst nach Wissen oder doch nach Vertiefung des nur angelernten Wissens empfindet. Ohne Frage muß ihr Sehnen Befriedigung finden, schon damit sie nicht jener Halbbildung verfallen, die gerne den Namen der Wissenschaft sich anmaßt.[316]

Nun klopfen sie an unsere Türen. Aber Seine Magnifizenz hat es heute morgen schon gesagt, wir können sie ihnen nicht öffnen, so gern wir weitherzige Liberalität in der Zulassung von Gästen üben. Die Universität würde ihrer Idee entfremdet werden, wenn sie gezwungen würde – denn freiwillig wird sie es nicht tun –, Elemente unter ihre Studenten aufzunehmen, die entweder unseren Unterricht ungenießbar finden oder ihn auf das Niveau des 18. Jahrhunderts herabziehen müßten. Es geschieht wahrlich auch im Interesse der Aufnahme Heischenden, wenn wir fest bleiben. Für sie muß durch ganz neue Institute gesorgt werden; dagegen bedarf es nicht der Gründung neuer Universitäten, wenn diese nur denen vorbehalten bleiben, welche wissenschaftlicher Arbeit gewachsen sind.

Das sind Sorgen, welche die deutschen Universitäten alle angehen; in der Hauptstadt und Großstadt machen sie sich besonders fühlbar. Müssen wir uns hier doch überhaupt fragen, ob unsere Studenten genügend zu ihrem Rechte kommen, nicht nur dem auf einen gesunden Genuß ihres Lebensfrühlings, sondern auch auf ihr Recht an uns Professoren. Doch da kommen Sie uns zu Hilfe, meine lieben Herren Kollegen von den deutschen Universitäten. Soll ich verraten, was ein Berliner Professor, der es mit seinen Studenten gut meint, zuerst sagt, wenn er sich mit einem von ihnen über seinen Studiengang berät? »Vor allen Dingen«, sagt er, »gehen Sie einmal von Berlin weg.« So steht es ja überhaupt: wir sind auf ein einträchtiges ergänzendes Zusammenwirken angewiesen. Am Gedeihen aller hängt das jeder einzelnen Universität. Keine soll sich einbilden, daß sie alles leisten könnte oder auch nur sollte. Davon ließe sich sehr viel sagen – aber das sind alles Dinge, die sich gerade nicht sagen lassen.

Ergänzende Mitwirkung kann ja aber auch außerhalb Deutschlands, ja außerhalb des Gebietes der deutschen Sprache gefunden werden. Denn wie wir schon lange mit besonderer Freude, ich darf wohl sagen, mit besonderer Fürsorge die zahlreichen Ausländer unter unseren Zuhörern in ihren Studien verfolgen, so nimmt glücklicherweise das Studieren deutscher Jünglinge im Auslande zu. Ich glaube, das ist nützlicher, als wenn Professoren hin und her ziehen, obgleich auch das sehr genußreich und nützlich ist, wenigstens für den Professor: es befreit von Vorurteilen und lehrt nicht nur die Fremde, sondern auch die Heimat besser kennen und lieben.

Meine verehrten Herren Kollegen des Auslandes, Sie sagen uns oft viel Schmeichelhaftes über unsere Universitäten; dann, bitte, sagen Sie auch, daß wir uns nicht einbilden, es herrlich weit gebracht zu haben, sondern sehr wohl wissen, daß Sie zu Hause gar manches besitzen, was wir gern[317] übernehmen würden, vor allem aber, daß wir gerade diejenigen Ihrer Institutionen würdigen, die für uns nicht passen. Denn eben an diesen erkennen wir, und Ihnen wird es ähnlich gehen, daß der Dienst derselben Idee die individuellen Unterschiede nicht aufhebt, daß ihr vielmehr durch diese Verschiedenheit am besten gedient wird. Die Universität als Lehranstalt muß sich notwendigerweise dem Aufbau ihres Staates einordnen und kann nur gedeihen, wenn sie in allem den Stempel ihres Landes und Volkes trägt. Das gilt genau so von den einzelnen Gelehrten. Sind es nicht unsere besten Männer, in deren Wesen und Wirken der Geist nicht nur ihres Vaterlandes, sondern ihrer engsten Heimat am lebendigsten ist? Den Typus des deutschen Gelehrten wird für uns alle keiner so rein darstellen, als Jakob Grimm, und ihn recht zu fassen, reicht die Bezeichnung als Deutscher gar nicht hin, Hesse muß man sagen. Wer kann Thomas Carlyle gerecht werden, der nicht seiner schottischen Moore gedenkt, und um Erneste Renan zu begreifen, muß man ihn nicht nur in der großen Welt von Paris, sondern in der Enge der Bretagne aufsuchen. Ja selbst die Republik San Marino fordert ihr Recht an Bartolommeo Borghesi, zu dem Mommsen hinaufgepilgert ist, um Epigraphik zu lernen. Alle diese Männer gehören der Welt an, nicht obgleich, sondern weil sie ihre heimische Art in jedem Zuge ihres Wesens nicht verleugnen. Und ich denke, wir alle schätzen unsere ausländischen Freunde gerade um deswillen so hoch, weil sie anders sind als wir selbst. Treu halten wir ein jeglicher an seinem Volkstum, und gerade damit dienen wir der Menschheit, denn wir wissen, daß die Weltkultur daran hängt, daß sie eine Harmonie von vielen, möglichst vielen Volksindividualitäten bleibt oder wird, während die Uniformierung ihr Tod sein würde. Denn es ist so, wie mein Königlicher Herr es heut morgen ausgesprochen hat, »jede Nation muß ihre Eigenart wahren, wenn sie ihren Wert für das Ganze behaupten will«.

Und doch fühlen wir uns als Kollegen, wir Diener der Wissenschaft in allen Landen. Die alte res publica litterarum mit ihrer einen gelehrten Sprache ist freilich dahin. Weiter, aber auch reicher, vielstimmiger, aber auch vollstimmiger ist unsere Welt geworden. Eine neue Ritterschaft möchte ich unsere Gemeinschaft nennen, zusammengehalten durch dieselben Begriffe von Ehre und Pflicht und denselben Minnedienst. Die Arbeit ist's, die uns adelt, sie allein, und Frau Wahrheit ist es, der wir uns gelobt haben. Sie zu suchen, für sie zu streiten, füllt unser Leben. Jede wissenschaftliche Trübung der Wahrheit aus Rücksicht auf Konfession oder Politik, auf Beifall oder Gunst oder Lohn, ist uns Felonie. Und wenn unsere Studenten singen:[318] »Wer die Wahrheit kennet und saget sie nicht, der ist fürwahr ein erbärmlicher Wicht«, so handeln wir danach, selbst wider den unduldsamsten aller Tyrannen, die öffentliche Meinung. Und als Lehrer arbeiten wir daran, daß das nachwachsende Geschlecht zu seiner Führung wahrhafter, tapferer, innerlich freier Männer nicht entbehre. So fechten wir als Kameraden unter einer Fahne, und, wie wieder unsere Studenten singen: »Der die Sterne lenket am Himmelszelt, der ist's, der unsere Fahne hält.«

Köstlicher sind uns im Grunde die Werkeltage, an denen wir ohne viele Worte in diesem Sinne die Arbeitsgemeinschaft, Kollegenschaft und Freundschaft üben, denn wir halten es mit Goethes Prometheus: »Des rechten Mannes wahre Feier ist die Tat.« Aber wenn uns denn einmal unser Fest auch leiblich zueinander geführt hat, so dürfen wir's einander auch wohl bekennen, wie nahe wir uns im Herzen stehen.

Auf denn, meine Herren Kollegen von Berlin, ergreifen Sie Ihre Gläser: »Unsere Kollegen, unsere Freunde, unsere Kameraden aus nah und fern, sie leben hoch!«

1

Beide in Bd. II meiner Reden und Vorträge. Die Jahrhundertrede schickte ich an einen Amerikaner mit dem Verse:

»Hunc saecularem fiximus clavum Iovi«

Germania inquit. saeculam vigesimum

Americana terminato gloria.

2

Rücksichtslos ließ er die angemeldeten Besucher im Vorzimmer warten. Als es mir nach den ersten Erfahrungen zu arg ward, ging ich weg und sagte es dem Kanzleidiener. Althoff war nachher sehr ärgerlich, aber es ist nicht wieder vorgekommen.

3

Reisch berichtet darüber in dem Buche »Deutsche Dichter des lateinischen Mittelalters, übersetzt von Paul von Winterfeld«.

4

Ich bin mit der Wahl des Entwurfes von Brütt nicht einverstanden gewesen, der Mommsen einen phantastischen Mantel und eine gewaltsame Bewegung gibt, die ihm fremd war. Ein schlichter Entwurf des Münchener Bildhauers Hahn schien mir wahrer und darum würdiger. Auch war ich für Ausführung in Bronze, was Schoene und Menzel verhinderten.

5

Die Abneigung gegen das Griechische saß in den Halbgebildeten der höheren Klassen, die auf der Schule nichts gelernt hatten und sich in ihrer Bildungslosigkeit überlegen vorkamen, blasiert, zynisch oder auch muckerisch. Daneben die satten Bourgeois, die nur Geldverdienen und den Dienst des Gottes Bauch anerkennen. Die Bildungshungrigen der Arbeiterklasse, die eigentlich für die Sozialdemokratie zu schade sind, dachten anders. Mein Freund, Rektor Finsler in Bern, fand bei den Sozialdemokraten Unterstützung für das Griechische gegen den bürgerlichen Radikalismus, und als ich in Olten über Sokrates geredet hatte, sprach das offizielle Organ der Sozialdemokratie sein Bedauern darüber aus, daß man von den Griechen zu wenig erführe.

6

Bei Lexis, Die Reform des höheren Schulwesens in Preußen. Halle 1902, S. 157.

7

Es ist das erst ganz allmählich erreicht; die ältesten Drucke ahmen die unausstehliche Kursive, d.h. die Handschrift der gleichzeitigen Griechen nach. Die erste starke Vereinfachung durch die typi regii des französischen Königs Franz I. behielt doch noch nicht wenige Buchstabenverbindungen bei. Die Typen vereinzeln jeden Buchstaben, so weit sind sie zu dem Prinzip der antiken Buchschrift zurückgekehrt; die antiken Buchstabenformen kennen wir erst jetzt: da wird einmal auch die Rückkehr zu ihnen erfolgen. Zur Zeit ist nicht einmal das blödsinnige Iota subscriptum zu vertreiben, das in den klassischen Zeiten noch gesprochen ward.

8

Ein besonderer Schädling ist der s.g. Spiritus lenis, den selbst die antiken Grammatiker nur in den seltenen Fällen gesetzt haben, wo er der Unterscheidung gleich geschriebener Wörter diente, sonst niemals. Die Bezeichnung spiritus stammt erst von späten Byzantinern; die lateinische Übersetzung ist nicht schön. Weil nun dies Zeichen dasteht, lehrt noch heute die Schulgrammatik und scheinen auch Sprachwissenschaftler zu glauben, es würde ein Hauch bezeichnet, und sie reden von einem Knackgeräusch. Wenn sie doch das Griechische bedächten: das sagt, daß die Prosodie, d.h. die Aussprache »kahl« ist, also das Fehlen des Ha bezeichnet wird.

9

Dessen italienische Handschriften habe ich gelegentlich eingesehen, nur um mir ein Urteil zu bilden; daß es zu einer Ausgabe kam, bewirkte die Aufforderung der Clarendon press. Bei einem Neudrucke konnte ich nur weniges verbessern und würde den Text gern in Deutschland gedruckt haben. Aber es liegt ein Papyrus in englischem Privatbesitze nun schon viele Jahre, ohne den jede Ausgabe sich verbietet. Nun werde ich darauf verzichten müssen.

10

Er hat mir eine Abschrift seiner Briefe von dieser Reise und Abzüge der schönen Photographien geschenkt, die er häufig aufnahm, so daß ich hier besser als sonst unterrichtet bin.

11

Percy Gardner hat die Adresse in seinen New chapters in Greek art, S. 346 veröffentlicht.

12

Zu erinnern ziemt sich, daß gleich nachdem Rom Hauptstadt geworden war, erwogen worden ist, ob man nicht den Palazzo Caffarelli und die rupe Tarpea der italienischen Regierung gegen einen würdigen Bauplatz überlassen sollte, weil das Capitol und den Platz des Jupitertempels in fremder Hand zu wissen, wirklich für das Nationalgefühl des Italieners peinlich war. Das wäre vornehmer und klüger gewesen.

13

Graf Solms kam von Göttingen nach Straßburg, wo die Fakultät geteilt war, und klagte, als er Göttingen wieder besuchte, über das Fehlen der Anregung durch die philosophische Fakultät mit sehr drastischen Worten.

14

In Eton tragen die Schüler der unteren Klassen eine Jacke, die älteren dieselbe mit Frackschößen. Wenn nun ein Schüler so lange unten sitzen bleibt, daß ihm die Jacke genierlich wird, darf er sich Schöße daransetzen lassen. Man nennt sie den charity tail. Genau dasselbe ist dieser Professortitel.

15

Als mein ältester Sohn hier studierte, sagte ein keineswegs unfleißiger Kommilitone zu ihm: »ich werde doch nicht so dumm sein und den Doktor bei den Philologen machen. Da muß ich wer weiß wie lange an der Dissertation sitzen. Ich gehe ein Semester zu N.N. in die Übungen, lasse mir eine Schlacht geben, dann geht es gleich im nächsten Semester ganz glatt.«

16

Über den Erbauer dieses Hauses hat Diels am Leibniz-Tage 1904 ergötzlich gehandelt.

17

An der Ausgabe der magnetischen Inschriften durch O. Kern habe ich sehr starken Anteil genommen, ebenso wie Hiller, der später auch die Inschriften von Priene für die Museen herausgegeben hat, die mich stark interessierten und den Anstoß zu der Beschäftigung mit der ältesten Geschichte Ioniens gaben. Daß diese Sammlungen von den Museen herausgegeben wurden, hat weder mich noch den wissenschaftlichen Beamten gehindert, daran teilzunehmen, weil wir meinen, für die Epigraphik, nicht nur für das akademische Corpus sorgen zu sollen.

18

Sehr schön hat Nathan Söderblom unsere Religion in seinen Vorträgen vor der dänischen Studentenschaft dargestellt. Tre lifsformer, mystik, förtröstan, vetenskap, Stockholm 1922.

Quelle:
Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Erinnerungen 1848–1914. Leipzig 1928, S. 243-319.
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