IV. Krieg
20. Juli 1870 bis 20. Juli 1871

[104] Krieg ist das Losungswort, Krieg, und so tönt es fort


Ich war beim II. Garderegiment, bei dem mein ältester Bruder sein Jahr abgedient hatte, als Einjähriger zum 1. Oktober angemeldet und trat nun ein. Neigung zum Militär hatte ich durchaus nicht gehabt und die ersten Erfahrungen des Rekruten konnten sie nicht erwecken. Über 500 Einjährige sollten ausgebildet werden und was von Offizieren und Unteroffizieren beim »Schwamm« zurückblieb, war der Aufgabe nicht von fern gewachsen. Ein Hauptmann der Reserve war für die Aufsicht viel zu freundlich, die Unteroffiziere trieben den Drill, wie es im Frieden üblich war, Instruktion über die Ehrenbezeugungen vor Prinzen und hohen Chargen, die es in Berlin jetzt gar nicht gab. Übrigens war vor den Rittern der Friedensklasse des Pour le Mérite Stillstehen mit Gewehr über verordnet; das ist irgendwann abgeschafft. Schießen sollte erst später herankommen; ich habe tatsächlich nur 15 Kugeln nach der Scheibe gesandt, nicht einmal »die kleine Klappe« des Zündnadelgewehrs aufgeschlagen. Der Durst des Unteroffiziers, dem ich anvertraut war, war nicht zu stillen. Und es war doch Krieg, nur zu dem waren wir eingetreten; wenn es so weiter ging, wurden wir erst nach Monaten kriegstüchtig. Das verstimmte.

Korrekturen lesen war nur eine Qual mehr; die Druckfehler ließen sich so wenig fangen wie die Kasernenflöhe. Im Juli hatte ich auch die Aufgabe, die Hinterlassenschaft des verstorbenen Freundes Dr. Dettmer zu verpacken und in seine Heimat zu befördern. Dabei assistierte sein Hauswirt im Schlafrock mit langer Pfeife, half natürlich nicht, aber schwatzte. »Nee, Herr Doktor, heute und 48, das kann unsereins gar nicht klein kriegen. Dunnemals vors Schloß – ich bin ja auch dabei gewesen. Wir schrieen alle ›König raus‹. Und denken Sie mal: wir glaubten doch alle nicht, daß er rauskäme, und da stand er auf 'm Balkon. Na, eins kann ich Sie sagen: Unser oller Willem, ne, der wär' nicht gekommen.« Damals freute ich mich. Jetzt weiß ich, daß er einer aus der immer gleichen Masse war, die am Palmsonntag Hosianna den Sohne Davids und am Freitag Barrabas rufen. Nur das mag wahr sein, daß die Rufenden selbst das Gefühl hatten, der König darf nicht[105] kommen. Wenn er ein wirklicher König und ein Mann gewesen wäre, würden sie den Versuch gar nicht gewagt haben.

Ein anderes Erlebnis war komisch. Kommt da ein aufgeregter Sattlermeister und präsentiert mir eine Rechnung über einen Sattel. Eine Karte mit meinem vollen Namen und Angabe der Wohnung hat er auch und ist zuerst gegen alle Einwände taub. Nicht einmal die Uniform überzeugt ihn, daß ich kein Kavallerist bin. Schließlich sieht er sich um »so viele Bücher, dann sind Sie's wirklich nicht!« Der raffinierte Schwindler ist später gefaßt, als ich schon im Felde war. Er soll ein Träger des verbreiteten Namens Möllendorff gewesen sein.

Noch eine Überraschung. Ich liege müde auf dem Bett, da poltert in neuer Dragoneruniform mein jüngerer Bruder herein, den ich auf der Presse glaubte, wo er sich zum Fähnrichsexamen vorbereitete. Nun lachte er mich aus, daß ich Griffe kloppte, während er ins Feld zog. Sein Regiment fuhr auf der »Communikation« (Ringbahn würden wir jetzt sagen) um Berlin, und er durfte sich derweilen die nötigsten Einkäufe machen. Daß er ohne jede Ausbildung mitgenommen ward, war so zugegangen. Er war zu dem Regiment gefahren, wo er eintreten sollte, der Oberst hatte ihn erst zum Frühstück gezogen; das war die Prüfung des künftigen Kameraden; dann ging es auf den Kasernenhof, er mußte auf ein Pferd und ward weidlich herumgejagt. Als er im Sitz blieb und alle Hindernisse nahm, war auch die soldatische Prüfung bestanden. Am 14. August benahm er sich im Gefechte so, daß er ohne weiteres Fähnrich ward; ehe ich es zum Gefreiten brachte, war er Leutnant. Mir warf er nach dem ersten Erfolge die Dummheit vor, nicht als Avantageur eingetreten zu sein; dieselbe Aufforderung ist mir von wohlwollenden Offizieren im Felde mehrfach gemacht; ich könnte mich später rasch zur Reserve versetzen lassen. Ich habe es nicht gewollt und bin froh, als Grenadier mit den Grenadieren gelebt zu haben.

Die ungeheuren Verluste, welche die Garde bei St. Privat erlitt, bei den beiden Grenadierbataillonen mehr als jeden zweiten Mann, zwangen den Nachschub, wie er auch war, kommen zu lassen. In höchster Eile wurden wir mobil gemacht, die Erlösungsstunde schlug. Ich habe meine Kriegserinnerungen im Oktober 1914 zu einer meiner »Reden aus der Kriegszeit« verarbeitet, aber das Buch wird jetzt nicht mehr gelesen, weil den Deutschen von heute die Erinnerung an eine Zeit peinlich ist, in der sie ein einiges stolzes Volk waren. Ich muß auch die Farben anders abtönen; unsere Jugend stand wieder in Frankreich, denen zu Hause sollte das Herz möglichst leicht gemacht werden, vor allem aber wünschte ich noch immer, daß der Krieg[106] die friedliche Verständigung zwischen den Franzosen und uns nicht zerstören möchte, und was ich von meinen Söhnen und sonst aus dem Felde erfuhr, konnte diese Hoffnung noch bestärken. Jetzt ist die Aufgabe nur offene Wahrhaftigkeit; nicht wenig muß ich wiederholen, auch wörtlich.

Die Eisenbahnfahrt vom 30. August bis 4. September in einem übervollen Viehwagen war keine geringe Anstrengung. Bänke waren gestellt; bei Nacht legte man sich darauf oder darunter, Tornister als Kopfkissen. Zuerst nach Köln und rheinaufwärts war es noch lustig, auf den Bahnhöfen Jubel und gute Verpflegung. Im Elsaß ging es langsam mit zahlreichem Anhalten auf freiem Felde oder vor einer Station; die Feuer der Beschießung von Straßburg leuchteten durch die Nacht. In Zabern entgleiste der Zug durch falsche Weichenstellung; ein Grenadier war schwer zu Schaden gekommen. Man munkelte von böser Absicht des Weichenstellers, vermutlich ohne Grund. Vor Pfalzburg erfuhren wir den Sieg von Sedan und fürchteten kein Pulver riechen zu sollen. In Pont à Mousson ausgeladen, mußten wir sofort losmarschieren, was die steifen Knochen kaum leisten konnten. Daß ich auf einen Wagen gekommen wäre, ist mir nicht erinnerlich. In Eilmärschen ging es bis St. Mihiel. 175 Mann konnten nicht weiter; ich war auch ziemlich am Ende der Kräfte, aber ein Flußbad tat Wunder. Allerdings hatte ich die Torheit begangen, als wir vor Lunéville neben einem Kartoffelfelde hielten, mir das Kochgeschirr zu füllen, und entschloß mich erst auf dem zweiten Marsche die Last fortzuwerfen. Es hatte sich schon auf der Fahrt gezeigt, daß die Führung des Bataillons (so viel waren wir, darunter 195 Einjährige) ihrer Aufgabe nicht gewachsen war. Ein noch knabenhafter Fähnrich, eben aus dem Kadettenkorps gekommen, gab sich vielleicht die größte Mühe. Die Gewaltmärsche, um das Regiment zu erreichen, waren zwecklos. Und doch ging es in derselben Hetze weiter nach Châlons und das Marnetal aufwärts, zuletzt mit Sicherung, wie sie das Friedensreglement vorschrieb. Nirgend waren deutsche Truppen zu treffen, im Marnetal überhaupt noch nicht gewesen. Ein altes Bauernpaar erfuhr durch mich zuerst von Napoleons Gefangenschaft. Hinter Épernay bogen wir plötzlich rechts ab. Die letzte Nacht war gruselig. Der Führer hatte endlich eingesehen, daß unsere kampfunfähige Masse weiter vorgekommen war als das von Sedan anrückende Heer, und dazu gar nicht weit von der Festung Soissons. Feldwachen wurden ausgesetzt, Doppelposten an allen Eingängen. Was verstanden wir von Felddienst? Eine Schwadron würde uns bequem zersprengt haben. Dabei zahllose Fußkranke, hungrig und übermüdet alle. Doch die Rettung war nahe: das Regiment kam heran, wir wurden eingereiht, durch die Vermittelung[107] von Lüders kam ich zur achten Kompanie, wo er als Vizefeldwebel einen Zug führte, obwohl ich zu lang war und neben dem Flügelmann im ersten Gliede noch häufig keine gute Figur gemacht habe, wenn es zum Exerzieren kam. Ordnung, Verpflegung, stramme Zucht und freundliche Behandlung hat uns alle rasch die Freude am Soldatenleben wiedergegeben, wenn unsere Unerfahrenheit auch manchen verdienten Tadel und Spott hervorrief. Nirgend konnte das Leben einer Kompanie harmonischer sein als bei der achten unter dem Kompanieführer, Premierleutnant von Kamptz, und dem Feldwebel Hartwig. Lüders kam zur fünften, als er Offizier ward. Ihm hatte ein Louisdor, den er im Brustbeutel trug, bei St. Privat das Leben gerettet, weil die Kugel ihn nicht durchschlug; er hat das verbogene Goldstück zeitlebens an der Uhrkette getragen. Selbst der recht wohlbeleibte Hartwig hatte zu den vierzehn gehört (die Teilnehmer zählten genau), welche die Barrikade an einem Eingang von St. Privat genommen hatten, Kamptz an der Spitze. Hartwig hatte sich von zwei Leuten über das Hindernis heben lassen. Die tapfern Verteidiger waren noch in der Überzahl, aber der Mut und die Todesverachtung der Stürmenden hatten sie so benommen, daß sie sich ergaben. Mir ist die Freude geworden, daß meine verehrten Vorgesetzten beide zuhörten, als ich 1914 von ihnen erzählte.

Es ging nun in starken, aber gegen das Vorangegangene nicht ermüdenden Märschen auf Paris zu, selbst Regenwetter und gedrängte Quartiere störten nicht zu sehr. Allmählich traf man leere Dörfer, gefällte Alleebäume auf der Straße, zerstörte Brücken. Paris war nahe. Am 19. September erreichten wir schon früh eine Anhöhe, von der wir die weite Stadt in strahlendem Sonnenscheine vor uns sahen. Allgemeines Halt, längere Rast, dann die Bataillone in Kolonne nach der Mitte, Feldgottesdienst als Vorbereitung auf den Sturm, ein Gottesdienst, der nicht nach Konfession fragte, sondern dem einen Gotte galt, in dessen Hände alle Seelen befohlen wurden. Hoch schlugen die Herzen, aber zum Sturme kam es nicht. Generalleutnant von Pape ist zwar bis nah an St. Denis herangeritten und hat sich überzeugt, daß wir die Forts der Nordostfront hätten nehmen können; aber die Heeresleitung scheute den Blutverlust: die einmal verpaßte Gelegenheit kam nicht wieder und unendlich viel mehr Blut mußte vergossen werden.

Die Armee des Kronprinzen von Sachsen, zu der die Garde gehörte, bezog in den Dörfern dicht unter den Forts von Paris Kantonnementsquartiere, denselben Dörfern, die später wie z.B. le Bourget umkämpfte Vorpostenstellungen geworden sind. Wir kamen in ein verlassenes anmutiges Dorf Bonneuil und für einige Tage ließ sich das Leben fast friedensmäßig an. Zwar mußten wir[108] in einem Weinberg Stellungen für die Artillerie bereiten, aber in dem herrlichsten Wetter war das ganz lustig; vereinzelte Schüsse aus den Forts langten zu uns nicht herüber. Nachmittags zu exerzieren war weniger behaglich. Im Garten unseres wohnlichen Hauses verriet sich ein Versteck durch die aufgeworfene Erde, enthielt aber Porzellan statt des erhofften Weines, der übrigens bei der Marketenderin (die gab es, sogar mit einer Tochter) reichlich zu haben war. Wir aßen nun von feinen Schüsseln und Tellern zusammen an mehreren Tischen; aber die schönen Tage schwanden mit der heißen Herbstsonne. Bald hieß es aufbrechen, zur Rückendeckung der Belagerer gegen Norden. Nach etlichen Märschen entschied es sich, daß unser Bataillon die ansehnliche Stadt Beauvais besetzen sollte und mit ihr einen Hauptpunkt der vordersten Linie halten. Außer uns war dazu nur sächsische Kavallerie in wechselnder Stärke und ganze zwei Geschütze verfügbar, die auf einer Anhöhe über der Stadt wenigstens bedrohlich aussahen. Als wir einrückten und umringt von der Menge auf dem Markte hielten, ging der Bataillonskommandeur Major von Görne auf das Rathaus und hielt eine donnernde Rede. Er glaubte das Volk einschüchtern zu sollen und zog die stärksten Register. Wir würden bei den einzelnen Bürgern Quartier beziehen, aber unter jedes Bett ein Bündel Stroh legen, so daß bei dem geringsten Anzeichen einer Erhebung die Stadt in Flammen aufgehen würde. Ich habe später diese Drohung als einen Beleg völkerrechtswidriger Haltung der Preußen angeführt gelesen; sie klingt auch grausam, aber es waren nur Worte. Vier Wochen haben wir mit der Bevölkerung in bestem Einvernehmen gelebt. Was ich von mir erzählen kann, darf ohne Einschränkung verallgemeinert werden, und ich hörte manches, da ich auch mit den Offizieren in Berührung kam, im Laufe des Feldzuges immer mehr. Lüders war mein Freund und vermittelte, mein Name war dem Offizierkorps durch meinen Bruder bekannt, ich war für den Oktober als Einjähriger angemeldet, älter als die meisten Freiwilligen und war Doktor, wie mich auch die Kameraden anredeten. Offiziell gab es im Kriege für den Einjährigen, der im Gegensatz zu 1866 die schwarzweißen Schnüre trug, keinen Burschen, tatsächlich hatte ich aber gleich einen genommen, einen armen Bauernsohn aus dem Schaumburg-Hessischen, der sich gern etwas verdiente. Mein Französisch übte ich mit den Eingeborenen; es kam auch nicht selten vor, daß es von den Offizieren in Anspruch genommen ward, wenn sie dem fortbestehenden Lokalblatte Mitteilungen zu machen hatten; dabei gab es auch mehr zu hören als was ich übersetzte.

Gleich am ersten Abend nach unserm Einzuge gingen viele Grenadiere in ein Bierhaus und saßen mit französischen Arbeitern zusammen, die sich[109] später verliefen; sie sind wohl zu den Mobilgarden gezogen, die sich draußen bildeten. Mein Nachbar ergriff meine Hand und sagte verächtlich: ça n'a pas travaillé, ça, bemerkte dann den Siegelring, erkannte ein Wappen und wollte nicht glauben, daß ein »baron de l'empire«, wie er sich ausdrückte, simple soldat sein könnte. Die Erläuterung, daß wir die allgemeine Wehrpflicht hätten und meinesgleichen in allen Regimentern zu finden wären, machte ihn nachdenklich; er erzählte es den andern und sie wurden es auch. Es mußte doch etwas mit den Prussiens sein, die in so strammer Haltung eingezogen waren und sich mit sicherer Ruhe unter die Stammgäste der Brasserie mischten. Ein paar Tage darauf brach irgendwo Feuer aus, ein preusisches Kommando half beim Löschen, wirksamer als die pompiers.

In unserer Regimentsgeschichte steht durch den Namen des betreffenden Grenadiers beglaubigt, daß ihn in seinem ersten Quartier der Hausvater angefleht hätte, seine Kinder nicht zu schlachten; es war ihm gesagt, die Preußen wären Menschenfresser. Der Preuße hat bald in guter Freundschaft mit dem Hauswirt und erst recht mit den Kindern gelebt. Die Kinderliebe unserer Leute hat überhaupt oft den Bann der von dem Geschmeiß der Journalisten, leider auch der Pfaffen geschürten Angst gebrochen.

Eine rührende Geschichte entnehme ich einem Briefe, den ich nach Hause schrieb, einem Franzosen zur Ehre. »Drei Spielleute wurden in Beauvais einquartiert. Die Bewirtung übertraf schon alles, was sich von der Ärmlichkeit des Hauses erwarten ließ, um so mehr, da der traurige Ernst des Wirtes seltsam mit der Geschäftigkeit kontrastierte, mit welcher er immer neue Speisen, neue Flaschen auftrug. Die lustigen Musikanten ließen sich's die paar Tage ihres Aufenthaltes wohl sein.« Als sie abzogen, wollten sie ihrem Wirte danken, aber er wies es zurück und sagte: »Drei Söhne habe ich gehabt, schöne Jungen. Alle drei sind im August gefallen. Da habe ich sie in euch noch einmal an meinem Tische sitzend zu sehen geglaubt. Adieu mes fils.«

Ich kam mit meinem Burschen in ein kleines Haus am Markte, in dem eine Frau einen Posamentierladen hielt, eine typische Frau des guten Mittelstandes. Wir hatten es gut, sogar ein jeder ein Bett, morgens, auch wenn es sehr früh war, café au lait, reichliches Essen mit sprudelnder Konversation. Erst war sie für uns allein im Hause; nach zwei, drei Tagen erschien eine Tochter, blutjung, blond, zurückhaltend ohne jede Ziererei. Wieder ein paar Tage, und die Mama schlief morgens aus und ließ das Mädchen mit den beiden Grenadieren allein, auch wohl mit einem. Wie diese sorgsame Mutter hat es manche gehalten: die Achtung des Deutschen vor dem Weibe hat zu[110] unserer Schätzung nicht wenig beigetragen. Umgekehrt haben wir hohe Achtung vor der Französin der Kreise heimgebracht, mit denen wir zumeist in Berührung kamen, nicht nur in ihrer unantastbaren Weiblichkeit1. Da die Männer, namentlich auf dem Lande, häufig fehlten, mußte die Hausfrau, auch die Frau des maire, für alles einstehen. Sie pflegte das Herz auf dem rechten Fleck zu haben, das bei nur zu vielen Männern tiefer rutschte. Sie quasselten und wimmerten und flunkerten: die Frau fand sich in das Unvermeidliche und handelte; das pflegte dem Hause gut zu bekommen. Ich habe im späteren Leben einzeln Gelegenheit gehabt, auch mit vornehmen Französinnen in Berührung zu kommen, in denen noch etwas von der Haltung des ancien régime fühlbar war. Die Frauen scheinen wirklich die bessere Hälfte der Nation zu sein; vielleicht erweckt die Literatur eben darum von ihnen eine falsche Vorstellung.

Politik, auch abgesehen von den Aussichten des Krieges, zu behandeln, fand sich Gelegenheit. Namentlich die ansehnlichen Kaufleute trugen den Stolz auf die neugebackene Republik zur Schau, die notwendig siegen müßte. Bonapartisten sind mir nicht begegnet. Die Picardie war wohl überwiegend orleanistisch und rechnete auf die Herstellung des konstitutionellen Königtums; die sittliche Verwahrlosung des zweiten Kaiserreiches war die beste Folie für das Familienleben der Kinder Louis Philippes. Aber vor allem wollten sie einen König. »Ihr siegt jetzt,« sagte mir eine Frau aus dem Volke, »weil ihr einen König habt; wartet nur: wir werden bald auch einen haben.« Vom Elsaß sprach man auch manchmal, und es war wohl nur die Zuneigung meiner Wirtin, daß sie nach einer energischen Verteidigung unseres alten Rechtes meine Hand ergriff »eh bien, je vous donne l'Alsace«. Aber die Umstehenden protestierten nicht; wenn wir gegen Abend beisammen im Laden saßen, kamen gewöhnlich Leute vom Markte herein, an dem Gespräche mit dem petit Prussien teilzunehmen.

Nach dem Gefechte bei Formerie, von dem bald die Rede sein wird, kam ich in ein Quartier, weil der Wirt jemand gewünscht hatte, der lateinisch sprechen könnte. An der Tür fand ich geschrieben: »M. Bardi, altes Direktor von Gymnasium«. Weiter reichte das Deutsch des ancien directeur nicht; das Latein haben wir nicht versucht. Materiell verschlechterten wir uns beträchtlich; es gab nur ein Bett für mich und meinen Burschen, übrigens das[111] letzte für ein halbes Jahr, und das Essen war zwar feiner, aber was half die delikateste Sauce, wenn ein einziger lapin avec navets für drei reichen sollte. Das ertrug ich doch willig. Der alte Herr war so liebenswürdig, bekannte sein Bedauern, daß er seine Tochter nach England geschickt hatte, und lehrte mich den Wohllaut des französischen Alexandriners durch den Vortrag von Stücken aus Racine kennen. Den großen, auch wirklich tragischen Dichter zu würdigen, mußte ich freilich beträchtlich älter werden. Ich habe Monsieur Bardi den Dank schon an anderer Stelle öffentlich ausgesprochen.

Es war eine schöne Zeit, außer den Wachen wenig Dienst – außer für die Freiwilligen. Die mußten neben der Kathedrale (die ich nicht betreten habe) Griffe kloppen, sehr notwendig, aber bitter, zumal die Kinder und nicht nur Kinder zusahen und auch Gelegenheit hatten, uns auszulachen. Ein paarmal gab es Streifzüge in die Umgegend. Franktireurs begannen sich zu regen; die sächsischen Reiter erhielten Feuer aus dem Hinterhalte, einzelne Kugeln trafen auch. Das forderte Strafe. So sind wir bis Gournay und Breteuil vorgestoßen und die Dörfer und Städtchen mußten durch Requisitionen büßen. Weiter ging man noch nicht. Selbst als einer der heimtückischen Schützen ergriffen war, konnte sich der führende Hauptmann nicht entschließen, die verdiente Todesstrafe vollziehen zu lassen, sondern ließ den heulenden Blusenmann mit einer Tracht Prügel laufen. Es würde uns damals auch schwere Überwindung gekostet haben, das Strafgericht zu vollziehen. Später mußte die Stimmung und das Verfahren sich ändern. Als in Étrepagny eine kleine Abteilung nächtlich überfallen und ermordet war, formulierte ich die Mitteilung an die Zeitung mit Genugtuung: Étrepagny est livré aux flammes.

Allmählich zogen sich im Westen und Norden neue Truppen zusammen, aus denen Faid'herbe später seine Armee gebildet hat. Gegen sie ging eine gemischte Abteilung am 27. Oktober vor. Es galt der Eisenbahnstation Formerie; Wagen für Requisitionen waren mitgenommen. Das Wetter war abscheulich, strömender Regen, ein erbärmliches Quartier, von da war man am 28. bald vor Formerie. Die erste Kompanie drang in das Dorf ein, die beiden Geschütze hatten auf einer Anhöhe abgeprotzt, die achte lag geschlossen nach Überwindung eines breiten aufgeweichten Sturzackers hinter einer Dornenhecke, Gehöfte und eine Dorfstraße lockten zur Erkundung, ob man nicht seitlich der ersten Kompanie zu Hilfe kommen könnte. Vizefeldwebel Reimarus, der kürzlich noch hinkend infolge einer schweren Verwundung aus der Heimat zurückgekommen war, rief Freiwillige auf. Zuerst ging es gut. Auf der Straße hatte sich in einer Senkung ein kleiner See gebildet, Reimarus durchschritt ihn, bis an den Gürtel ging das Wasser, aber[112] nässer als wir schon waren, konnten wir nicht mehr werden, also durch. Aber kaum drüben bekamen wir so starkes Feuer, daß es zurückging, wieder durch das Wasser. Wir brachten die Meldung, daß wir einen überlegenen Feind in der Flanke hätten. Jetzt schlugen auch in die Kompanie die Kugeln ein, stöhnend brach ein Mann zusammen. Bald kam auch von hinten der Befehl »zurück« und es ging rasch über den Sturzacker, unschädliche Kugeln sausten hinterher. Eine Menge Stiefel blieben in der zähen Erde stecken, auch ein schwächlicher Freiwilliger konnte nicht weiter. Er wäre verloren gewesen, denn die Franzosen haben auch die Verwundeten totgeschlagen: da sprengte ein sächsischer Trainsoldat in den Kugelregen, hob den Hilflosen auf sein Pferd und kam heil zurück. Es hat Mühe gekostet, ist aber erreicht worden, daß er das Eiserne Kreuz erhielt; der Kronprinz von Sachsen wollte zuerst für ein verlorenes Gefecht keine Dekoration bewilligen. Auf der Hauptchaussee trafen wir die Geschütze schon auf dem Rückmarsche, die erste Kompanie dahinter, wir schlossen uns an, Reimarus mit der ersten Gruppe seines Zuges bildete die Hinterspitze. Zur Linken war die Straße tief in einen Abhang eingeschnitten. Plötzlich sahen wir die einige hundert Schritte vor uns Marschierenden halten und nach links heftige Schüsse abgeben. Wir kletterten die Böschung hinauf, sahen den etwa 150 Schritt entfernten Waldrand besetzt, gaben einige Schüsse ab und eilten dann der Kompanie nach. Wo sie geschossen hatte, lagen auf einem von links einbiegenden Wege dicht neben der Chaussee etwa vier tote Franzosen. Diese Abwehr hatte genügt, den Feind von der Verfolgung abzuschrecken. Er war in großer Überzahl, da die Eisenbahn, die wir hatten zerstören sollen, von beiden Seiten Verstärkungen herangeführt hatte. Bei mutiger Führung würde er uns alle in die Hand bekommen haben. Der Regen hatte aufgehört, aber der Rückweg nach Beauvais war weit; hungrig, müde, naß und niedergeschlagen kamen wir erst spät ans Ziel. Viele waren auf die Wagen geklettert, die nun außer den Toten und Verwundeten, soweit sie mitgeführt werden konnten, leer zurückkehrten. Vor der Stadt ordneten sich die Truppen und zogen in festem Tritt ein.

Es folgten schwere Tage der gespannten Erwartung eines Angriffs. Das Regiment ward in Beauvais zusammengezogen, aber bald erhielt es den Befehl zu seinem Korps auf Paris zurückzugehen, wo die heftigen Kämpfe um Le Bourget erneute Ausfälle wahrscheinlich machten. Es hieß Abschied nehmen; das gute Verhältnis zur Bevölkerung war nicht getrübt. Wir zogen zum Schein in der Richtung auf Rouen aus, bogen aber bald nach Süden ab. Auf dem Marsche lernte man das Requirieren; wir erhielten sogar den Befehl,[113] wo irgend möglich Decken aus den Quartieren mitzunehmen. Ich hatte mir zwar die lächerliche Bedenklichkeit abgewöhnt, aus der ich in einem leeren Hause vor St. Mihiel zehn Silbergroschen unter einen Korb gelegt hatte, aus dem ich die Eier genommen hatte, aber dem neuen durch die Selbsterhaltung gerechtfertigten Befehle zu gehorchen kam doch hart an, nicht mir allein.

Vor Paris begann ein ganz anderes Leben ohne jede Berührung mit einer anderen Welt als dem nächsten Kreise der Kameraden, fast ohne Möglichkeit für Geld etwas außer eau de vie zu kaufen, in eintönigem Dienste. Die Quartiere, zuerst in Écouen, waren von den früheren Inhabern verwohnt, alles brauchbare mitgenommen, das Wetter rauh und sonnenlos. Viele erkrankten. Mich packte es zuerst an den Zähnen und ich mußte unsern Arzt aufsuchen, der Cobet hieß und um seine Verwandtschaft mit dem großen Leidener Philologen wußte. Der war in Paris geboren und den Deutschen zeitlebens wenig freundlich gesonnen, aber der Ursprung seiner Familie lag doch in Westfalen. Den Fehler eines Textes verstand er sehr viel besser herauszubekommen als unser Cobet meinen Backzahn. Damit war es auch nicht getan; ich fieberte heftig, mußte einmal von den Vorposten zurückbleiben, sollte ins Lazarett. Da half Reimarus, befreite mich davon, hieß mich die Zähne zusammenbeißen und Dienst tun. Es ging; vor dem Lazarett graute sich jeder; es kamen so wenige zurück. Reimarus kannte ich etwas von Berlin her, wo sein Bruder mit Lüders befreundet und auch mir wohl bekannt war. Er ist der eigentliche Organisator der vornehmen Leihbibliothek Borstell und Reimarus, für die ihm London Vorbilder gezeigt hatte. Georg Reimarus war Architekt, noch nicht ganz mit dem Studium fertig, erreichte es aber durch seine soldatische Tüchtigkeit und sein frisches gewinnendes Wesen, daß er Offizier bei dem Regiment ward und ihm auch später in der Reserve besonders nahe blieb. Wir wurden Freunde und haben, als ich 1897 nach Berlin kam, diese Freundschaft wieder aufgenommen und sie ist eine Familienfreundschaft geworden, die über seinen Tod hinaus dauert. Rat und Hilfe von ihm zu erhalten war das größte Glück für mein Leben in diesen Monaten; sie führte auch zu den Offizieren der Kompanie, zu denen der Premierleutnant der Reserve v. Könen getreten war, auch er wie Reimarus von einer schweren Wunde geheilt.

Wir sind noch einmal nach dem Norden gezogen, aber rasch zurückgekehrt und haben dann in Pierrefitte gerade vor der Double Couronne, dem Nordfort von St. Denis, dauernd die Vorpostenstellung besetzt. Das verlassene Dorf Villiers le Bel bot wenigstens Raum genug; man konnte es sich einigermaßen[114] wohnlich gestalten. Da wir uns das Essen selbst bereiten mußten, bildeten sich Kochgesellschaften, so zu sagen kleine Familien. Wir waren zu sechsen, ein Unteroffizier, ein Gefreiter, zwei Grenadiere, ein Tambour, mein Bursche und ich. Wir hatten Matratzen und Decken, Tisch und einige Schemel, das Feuer in dem großen Kamine nährten die Stöcke, welche man die längste Zeit aus den Weinbergen heranholen konnte; zu letzt mußten freilich die Sparren aus dem Dache des zweistöckigen Hauses herhalten, das wir allein bewohnten. Feuerung holen, Stube aufräumen, das Essen zubereiten waren Arbeiten, die auf die einzelnen verteilt wurden. Mir fiel meist das Kartoffelschälen zu, denn wir hatten für die längste Zeit in Kartoffeln einen großen Schatz. Frühere Bewohner des Dorfes hatten sie geerntet; wie wir sie aus einem Keller, der zu einem anderen Revier gehörte, erbeutet hatten, davon sprach man lieber nicht. An Fleisch gab es überwiegend Hammel, vereinzelt gesalzenes Schweinefleisch, das wir freudig begrüßten. Rinderpökelfleisch war schlechthin ungenießbar. Zukost war zuerst spärlich, Reis vereinzelt, bis die Erbswurst erfunden war, die namentlich mit Kartoffeln vortrefflich mundete. So aßen wir sie gern zu Mittag; das Hammelfleisch verstand der Tambour, wenn es Fett genug hatte, trefflich zum Abend zu braten. Brot war reichlich, mit Speck mußte haushälterisch verfahren werden. Wein war um keinen Preis zu haben, Schnaps reichlich, auf Vorposten unentbehrlich, wo kein Feuer angemacht werden durfte. Der Winter war bekanntlich besonders kalt.

Dieses intime Zusammenleben, das sich im Laufe der Monate bis zur Heimfahrt nur auf einen größeren Kreis erweiterte, hatte gewiß manche Schattenseiten und brachte auch einzelne peinliche Erfahrungen, aber es bekam doch gut unter dem Volke zu leben und sich eine Stellung durch das zu erwerben, was man als Mensch war, zumal wo die Überlegenheit in so vielem bei den anderen war. Es wäre vielleicht schwerer gewesen, wären nicht in der Garde Leute aus den verschiedensten Landesteilen gewesen, sehr verschieden an Bildung, Lebenshaltung, Anschauungen und Ansprüchen, die sich ineinander schicken mußten. Da waren gleich zwei Westfalen, der lustige Tambour, immer voll toller Einfälle und dabei sentimental wie ein richtiger Clown. Nach Weihnachten kam er zu mir: »ach, Herr Doktor, können Sie mir nicht zu Neujahr ein Gedicht für meinen Schatz machen?« Worauf ich mich in Liebespoesie versuchen mußte. Neben ihm stand der bärtige Reservemann aus dem Wuppertal, Bremser an der Köln-Mindener Bahn. Er war ein besonders tüchtiger Soldat und unter den Kameraden angesehen, aber Gefreiter konnte er nicht werden, denn es kamen Tage, wo er[115] wild ward, trank, sich vergaß; an anderen brach die kalvinistisch strenge Lebensauffassung gewaltsam durch. Den Unteroffizier, einen in der Tat arg leichtfertigen Kölner, verachtete er, nicht nur, weil er bloß Heizer gewesen war, sondern moralisch, was jener sich gefallen ließ. Der Gefreite war ein wohlhabender Bauernsohn vom Harze, nicht ohne Standeshochmut gegenüber dem armen Häusler, meinem Burschen, und einem soldatisch und menschlich mindestens gleichwertigen Ackerer aus dem Klevischen. Dann gab es Holsten und Hannoveraner, die viel und gut essen wollten, Pommern, die es nie fett genug bekommen konnten, nach ihrem Sprichwort, Speck in Butter braten und dann mit Löffeln essen. Butter lebte freilich nur in der Erinnerung. Die Polen legten nur auf die Quantität Wert; Oberschlesier wurden grob, wenn sie zu den Pollaken gehören sollten. Störend wurden die landschaftlichen Gegensätze nie, obgleich Hannoveraner, Hessen und Holsten sich noch nicht als Preußen fühlen konnten. Im ganzen kam bei den Leuten so viel Redlichkeit und in der Tiefe nicht nur gesundes, sondern feines Gefühl an den Tag, daß man auf sein Volk stolz sein durfte, vertrauensvoll auch darin, daß aus ihm frische Säfte belebend in die Oberschicht aufströmen würden. Freilich war es auch Landvolk, keine Städter oder Fabrikarbeiter; ein Berliner ist mir als ein moralisch angefaulter und danach geachteter Geselle erinnerlich, wenn seine faulen Witze auch auf dem Marsche und in der Langenweile der Vorposten anregten und willkommen waren.

Der Dienst verlief so, daß sich ein Tag in Pierrefitte und einer in Villiers le Bel ablösten; dieser war langweilig, denn es gab Appell, Empfang der Lebensmittel und solche Kleinigkeiten, für einzelne Kantonnementswache. Kurzweilig war auch der Tag auf Vorposten nicht, der wohl 28 Stunden lang ward, da man im Dunkel hin und her marschierte. In den Vorpostenstellungen lagen die Züge in gesonderten Wachstuben innerhalb des Fleckens und vorgeschobenen Unteroffizierswachen von sechs Mann, Doppelposten im Orte. Eine ganze Kompanie kam in die sog. Trancheen, rechts vom Dorfe an einem sanften Abhange auf die nächste Stellung zu, die schon dem vierten Korps gehörte. Hinter den Trancheen war das »Kartoffelfeld«, so genannt, weil die französischen Granaten darin steckten, die niemals trafen, ganz selten krepierten. Mit den Ingenieuren haperte es bei uns noch bedenklich, und daß wir uns selbst die Gräben tief und breit genug ausheben könnten, daran dachte niemand; es waren auch nur ein paar Spaten bei der Kompanie, die in den Futteralen blieben; »die sind für den Appell« sagten die Träger. Die längste Zeit haben wir ohne Dach in den engen Gräben gehockt, deren Boden, bis fester Frost kam, ein ekler Brei war. Es dauerte sehr lange, bis[116] erlaubt ward, auf dem gefrorenen Boden des Grabens Feuer anzumachen, und dann drängte man sich in den eisigen Nächten so nah an die Feuer, daß nicht wenige sich die Stiefel verbrannten, ich die Wimpern eines Auges, was lange nachwirkte. Natürlich war diese Stellung verhaßt. Von da aus ward noch weiter rechts ein Unteroffizierposten für die Nacht vorgeschoben, nur mit Freiwilligen besetzt, denn er galt für den Fall eines Angriffes als verloren. Da meldete sich der treffliche Unteroffizier Portzig, und ich ging mit besonderer Freude mit, denn man saß in einer warmen Schmiede, wenn man nicht Posten stand, dies nur vier Stunden. Da stand man im Giebelfenster eines zerschossenen Hauses und sah den feindlichen Posten ganz nahe sich gegenüber. Zuerst war das Gefühl etwas seltsam: wird der Kerl schießen? Auf diese Entfernung könntest sogar du auf einen Treffer hoffen. Wir waren beide verständig und schossen nicht. Bei uns war es auch nur für den äußersten Notfall gestattet, auf leichtsinnigem Schießen stand Arrest. Ein sehr verständiger Befehl, denn was hatte es für einen Zweck, Kugeln zu vergeuden wie die Franzosen, unnötigen Lärm zu machen, ruhende Mannschaften zu alarmieren. Und wenn ein paar Franzosen abgeschossen wurden, darum ergab sich Paris keine Stunde früher. Menschenfreundlich war der Befehl also auch. Zur Beunruhigung der feindlichen Vorposten gingen Gardejäger einzeln in das Vorterrain und erzählten Jagdgeschichten von ihren Erfolgen, wenn sie auf eine unserer Feldwachen kamen, wo wieder nur Freiwillige standen. Ich habe es da wieder unter Führung von Portzig in einem Gartenhause am Feuer, das niemand sehen konnte, behaglich, das Postenstehen aufregend aber ungefährlich gefunden.

Das Geschieße von der feindlichen Seite war zuerst ganz toll. Nachmittags zu bestimmter Zeit sah man, wie drüben Menschen zusammenströmten, um zu sehen, wie die Kanonade auf Pierrefitte und die Trancheen los ging. Sie mußten sich wohl drüben freuen, wenn sie eins ihrer Häuser zerstörten. Wir haben auch nicht einen Mann verloren. An einer Stelle im Inneren der Ortschaft gab der Mann, den man ablöste, die Weisung: »um die Ecke da darfst du nicht gehen, da sehen sie dich vom Wall und schießen mit einer Wallbüchse.« Natürlich reizte das nur, man ging um die Ecke, bis sie's merkten. Dann kam die Kugel mit einem besonders scharfen Knall und fuhr in ein Haus, immer dasselbe; es war ein gefahrloser Spaß.

Abwechselung kam durch den Ausfall des 21. Dezember auf le Bourget, zu dem wir, eben von Vorposten zurück, in der Nacht alarmiert wurden, aber nur den Tag über in der starken Kälte hin und her marschierten oder herumstanden, denn die Verteidiger des Ortes wurden selbst fertig. Zweimal[117] mußten wir einen tiefen Kanal durchwaten; das eisige Wasser drang in die Stiefel; nicht nur meine platzten. Das war nicht bekömmlich, aber Freund Reimarus brachte einen heißen Grog in mein Quartier, der die Erkältung brach. Das war sehr nötig, denn am folgenden Tage kam ich auf Cantonnementswache. Die hatte nur den Zweck, der Form zu genügen, denn dicht bei dem Doppelposten von Villers le Bel stand der entsprechende eines anderen Quartiers, Garde-Kürassiere. Wir standen still und in der sternklaren Nacht lag das Vorterrain weit vor den Blicken, die auf die Lichter von Paris hinüberschauten. Sie waren gegen den September stark beschränkt, aber noch leuchteten sie. Wie so oft vertrieb ich mir die Zeit durch das Aufsagen der Poesie, die im Gedächtnis lebendig war. Andere geistige Nahrung hatte man nicht; erst später habe ich einen griechischen Sophokles aus dem Feuer gezogen, der mir, nur wenig verkohlt, so lieb ward, daß er im Tornister einen Platz fand; der Schiffszwieback schien entbehrlicher. Manche Chorlieder sind für mich mit solchen Nächten in der Erinnerung verbunden, mit dieser der Anfang des Agamemnon:


Macht Ende, Götter, mit den Mühen, die ich hier

ein langes Jahr schon dulde, daß ich wie ein Hund

gestreckt auf Agamemnons Dache spähen muß.

Ich kenne jetzt der Sterne nächtlichen Verein,

die lichten Herren, deren Glanz am Himmelszelt

der Jahreszeiten Wechsel auf der Erde lenkt.


Wegen der Kälte standen die Kürassiere nur eine Stunde Posten und höhnten uns, als sie abgelöst wurden. Als ihre zweite Ablösung kam, standen wir noch. Der Wachhabende und unsere Ablösung hatten die Zeit verschlafen. Erst hielten wir trotz weidlichem Schimpfen aus, dann begingen wir das Unerhörte: einer von uns verließ den Posten und lief zurück zu der schlafenden Wache.

Weihnachten kam und die Offiziere hatten so viel wie irgend möglich getan, um eine Feier zu veranstalten, die an die Heimat erinnerte. Die Sehnsucht ward groß; als der Widerstand der Pariser so schwach geworden war, daß auf dem Marsche nach Pierrefitte gesungen werden durfte, erklangen nur Lieder, die von der Heimat handelten. Dieser Zustand trat bald ein, als die Beschießung, von allgemeinem Jubel begrüßt, endlich anfing, zunächst an der Ostfront, aber es kamen auch zu uns Pioniere und legten Stellungen für die schwere Artillerie an. Langweilig blieb es doch, und Fahrten zur Requisition in das Hinterland waren eine erfreuliche Abwechselung. Es gelang einen noch unberührten Geflügelhof zu finden und Hühner mit dem Faschinenmesser[118] köpfen zu lernen. Mein Französisch verschaffte mir auch die Teilnahme an der Fahrt eines Unteroffiziers nach Beauvais, um Leder für die Schusterwerkstatt zu erhandeln. Da war es rührend, wie viele Fragen nach Monsieur Paul oder Henri, oder le grand garçon aux moustaches blondes zu beantworten waren. Mit gutem Gewissen durfte die Antwort beruhigend lauten, wenn die Personen sich auch nicht identifizieren ließen. Unsere guten Freunde hatten geglaubt, wir wären gleich nach dem Abzuge aus der Stadt abgefangen oder gefallen. Mittlerweile hatte überwiegend polnische Landwehr in Beauvais gelegen; der Unterschied hatte die Neigung für die Garde stark erhöht.

Mitte Januar ward das Bataillon nach Montmorency verschoben. Da waren noch Bewohner, denen es leidlich gegangen war, waren auch stattliche Villen. In einer fand sich eine Reihe schön gebundener Jahrgänge des Siècle; die wanderten ins Feuer, denn das Holz fehlte. In einer anderen Villa betrat ich staunend ein Bibliothekszimmer. Rings schienen die schönsten Bände in langen Reihen bis zur Decke hinauf zu stehen. Aber der erste Griff überraschte peinlich: es waren Tapeten, die nur eine Büchersammlung vortäuschten. Es kam der 18. Januar. Ich glühte von Begeisterung über das deutsche Kaisertum und versuchte diese Stimmung in den Kameraden zu wecken. Wir hatten Reis empfangen; es gelang mir Milch zu fabelhaftem Preise zu beschaffen. Der Milchreis tat seine Wirkung, aber mit meiner Festrede fiel ich kläglich ab. Daß die Fahne nach Versailles zum Könige ging, daß es nun mit Paris und dem Kriege ein Ende nehmen mußte, war gut und schön; aber Deutschland war den braven Leuten ein unbekannter Begriff.

Auf Vorposten ging es noch immer nach Pierrefitte, aber es war nicht mehr rechter Ernst, die strenge Ordnung lockerte sich. Am Tage der Kapitulation, als die Geschütze schwiegen und die Zivilbevölkerung aus St. Denis bis zu unseren Posten herauskam, habe ich in einem Gartenhause an einer eifrigen Grabung teilgenommen, die den ersehnten Schatz, natürlich Weinflaschen, nicht lieferte. Ehe der Grund erreicht war, ging es in die Quartiere zurück.

Der Februar ward der unerfreulichste Monat. Wir kamen nach Argenteuil, elende, über alles Maß enge Quartiere, leere Stuben, ganz voll Ungeziefer. Keineswegs bessere Verpflegung, einen Tag sollten wir sogar von der »eisernen Ration« leben, die wir in Berlin mitbekommen hatten, gleich als ob sie noch im Tornister steckte. Wir hungerten, weil die verfügbaren Nahrungsmittel an die Zivilbevölkerung von St. Denis abgegeben wurden. So haben die »Hunnen« gehandelt: England hat 1918 nach dem Waffenstillstand[119] durch die völkerrechtswidrige Aufrechthaltung der Blockade 600000 deutsche Greise und Kinder umgebracht. Dies auserwählte Volk hielt sich an das Vorbild des Alten Testamentes; so waren ja einst die Hebräer mit Amalekitern und anderen »Heiden« verfahren. Bei uns Einjährigen stieg die Mißstimmung, weil wir mit strengem Exerzieren geplagt wurden; während wir im Frieden nach einem halben Jahre Gefreite geworden wären, sollten wir erst nachholen, was nicht durch unsere Schuld, sondern durch den Krieg versäumt war. Anderes kam hinzu, auch Persönliches, das ich übergehe. Die verärgerte Stimmung fand sogar in Gedichten Ausdruck. Erst allmählich kam alles wieder zurecht. Herr von Kamptz hat, den anderen Kompaniechefs vorausgehend, mich und einen zweiten Freiwilligen schon im März zu Unteroffizieren befördert, worin die Aussicht lag, im Regiment Reserveoffizier zu werden.

Mit der Bevölkerung konnte der Verkehr nur spärlich sein, und ein gutes Einvernehmen wie in Beauvais war nicht mehr möglich. Hätte der Krieg länger gedauert, so würde die Gutmütigkeit unserer Leute geschwunden sein: nach Hause wollten sie; wenn die Franzosen nicht nachgäben, sollten sie es büßen. Daß die rasche Annahme der Friedensbedingungen die Besetzung von Paris verhinderte, verstimmte auch. Eine Stelle aus einem meiner Briefe darf ich wohl einrücken. »Als ich heute vom Exerzieren kam, rief mich die Stimme eines ältlichen Mannes durchs Fenster zu der Gruppe eines Blusenmannes und zweier unserer Reservisten, der ihnen vergeblich den Inhalt eines Zettels zu erklären suchte, den er in der Hand hielt. Die Franzosen kannten mich als Vermittler, und ich las und erklärte: ›Dépêche officielle, la paix est signée‹. Der Alte zuckte dabei besorgt die Achseln: ›Nous ne connaissons pas encore les conditions, mais enfin, c'est donc ce que l' on a espéré depuis si longtemps.‹ Da faßte ich ihn bei der Hand und forderte ihn auf, sich mit mir zu freuen. Die Reservisten taten ihm desgleichen, und so dem Blusenmann und seiner Frau, und hoben die Kinder zum Kuß an ihre bärtigen Lippen. Da traten dem alten, für einen Franzosen fast zu bedächtigen Manne die Tränen in die Augen.«

Eine Freude hatte ich noch, eine Fahrt nach Versailles, an der Feldwebel Hartwig teil nahm. Es ging über den Mont Valérien, wo die langbärtigen Gestalten der Garde-Landwehr den Franzosen wie Riesen des Märchens erschienen, gerade wie die Garde-Ulanen, von denen in Beauvais manchmal Patrouillen ihre Lanzen auf dem Marktplatz zusammenstellten. Die Ulanen sind damals der feindlichen Vorstellung so etwas wie Kentauren geworden, schon ihr Name zum Kinderschreck. Weiter ging es an dem ausgebrannten Schlosse[120] von St. Cloud vorbei; die Granaten des Mont Valérien hatten gezündet. In Versailles sahen wir nicht nur die Herrlichkeit der Schlösser und Gärten, sondern zufällig zog die gefeierte 22. Division vor dem Könige vorbei. Dieser König stieß sich nicht daran, daß die Uniformen zerschlissen waren, die Hosen bald gelb, bald grau, Zivilhosen. Vielleicht dachte er daran, wie anders sein Vater das heldenhafte Yorksche Korps ebenda empfangen hatte.

Schließlich marschierte die Garde ab, nach Gonesse, wo sie die Eisenbahn zur Heimkehr besteigen sollte. Die Quartiere waren noch elender und verlauster; einerlei, es sollte ja nach Hause gehen. Es kam ganz anders. Der Aufstand der Commune hatte begonnen. Wir schwenkten ab und besetzten die Nordostforts, Romainville, Aubervilliers, St. Denis und sind da bis zum 1. Juni geblieben. Unsere Kompanie zog das schlechteste Los. Wir kamen in die Häuser längs der großen Straße, die zwischen Pantin und Aubervilliers durch die Enceinte nach Belleville hineinzieht. Die Namen wurden damals viel genannt, weil ein scheußlicher Verbrecher, Tropmann, unfern der Straße eine ganze Familie abgeschlachtet hatte; Turgenief hat seiner Hinrichtung beigewohnt und sie beschrieben. Ich ging als Fourier zuerst in die Häuser, um Quartier zu machen – die Schweinerei, die von den Moblots in den meisten hinterlassen war, mit dem rechten Namen zu nennen, bringe ich nicht fertig, so fern mir Zimperlichkeit liegt. Für meine Korporalschaft wählte ich ein kleines Haus, weil es nicht verlassen war, sondern ein altes Ehepaar den besten Willen zeigte. Gut gebettet waren wir nicht; der Platz war arg beschränkt, die guten Leute ganz arm, auch an dem nötigen Hausgerät; gegessen haben sie oft von unserer Verpflegung. Überhaupt kamen hungrige Bettler, zumal Kinder, vielfach zu uns heraus und sagten ihr »Lansman, du broutte« selten umsonst; der Wert des so oft verachteten Kommißbrotes war den Franzosen aufgegangen. Den verarmten Wirtsleuten konnte ich noch einen Dienst leisten. Ihr Sohn war kriegsgefangen in Merseburg und teilte in einem Briefe mit, daß er freigelassen würde, um nach Versailles zu gehen, wo die Regierung ein Heer gegen die Commune bildete, wesentlich durch unsere Hilfe unterstützt, die ihr die Kriegsgefangenen zuführte. Die Eltern konnten den Brief nicht lesen, der Deutsche mußte helfen.

Von demselben Boden aus, auf dem wir jetzt lagen, hatte das Regiment 1814 unter schwersten Verlusten den Sturm auf Paris unternommen, der den Feldzug entschied. Zur Erinnerung ward eine Parade gehalten, und unter den Zuschauern behaupteten einige, sich der früheren Schlacht zu erinnern. Königs Geburtstag sollte kompanieweise gefeiert werden, reichlicher Wein war versprochen. Aber wo war ein Festraum? Die Schule der frères ignorantins war[121] allein geeignet; aber gezwungen durften sie nicht werden. Also spielte ich den Polen, den frommen Katholiken, ging hin, küßte alle Hände, knixte vor dem Kruzifix, wandte so viele Künste auf, wie mir zu Gebote standen. Es gelang. Das Kruzifix ward abgenommen, der Raum nach Kräften geschmückt, das Faß hineingerollt, für Gläser oder Tassen, Krüge verschiedener Art sorgten die Väter. Mit Rede und Gesang feierten wir; es ward ausgelassen, Musik bis in die späte Nacht. Die guten Mönchlein fanden am Morgen manches, was starke Nachsicht verlangte. Ich habe später immer um die Schule einen starken Umweg gemacht.

Draußen kam ein schöner Frühling, von dem wir in der häßlichen baumlosen Vorstadt wenig zu sehen bekamen; jeder Übungsmarsch weckte die Sehnsucht nach der Heimat, und Woche um Woche verstrich. Wohl gab es Exerzieren, selbst im Bataillon, Formationen und künstliche Bewegungen der Friedensparade wurden eingeübt, die für den Ernst nicht mehr waren als die Touren einer Quadrille. Aber viele Stunden waren müßig; von Hause kamen in jedem Briefe einige Seiten aus der Odyssee als Beilage, aber das ersetzte den Mangel an Büchern nicht. Man durfte ziemlich weit spazieren, bis Pantin, wo mehr Leben war, nach St. Denis nicht. Kneipen entstanden, Huren kamen aus Paris. Es war nicht immer leicht, die Korporalschaft in Ordnung zu halten. Ich hatte doch alle die Leute unter mir, die den Rekruten in das Kommißleben eingeführt hatten; auch der Unteroffizier, der die Korporalschaft früher geführt hatte, jetzt keinen solchen Dienst mehr tat, aus Gründen, die ihm jede Berührung mit mir peinlich machen mußten, lag im selben Quartier. Es ist aber gut gegangen. Wer richtigen Gehorsam gelernt hat, kann auch befehlen.

Überdenke ich die Zeit, so tritt das viele Unerfreuliche und die entnervende Langeweile zurück vor dem, was das Miterleben der Tragödie bedeutete, die sich in der nahen Hauptstadt abspielte. Unsere Stellung zwischen beiden Parteien brachte es mit sich, daß sie uns beide freundlich begegneten. Die draußen beschützten wir vor den Communards, diesen kam nur durch unsere Linien etwas von der Außenwelt zu, also vor allem die Lebensmittel. Pariser Zeitungen wurden auf den Straßen feil geboten und strotzten von den unflätigsten Beschimpfungen von Trochu, Thiers, Jules Favre; Badinguet war bei beiden Teilen drunter durch. Bismarck dagegen hatte im Reichstage gesagt, in der Forderung nach Dezentralisation, die von den Kommunisten im Munde geführt ward (als Phrase, denn was sie wollten, ist die gemeinste Tyrannei der Schlechtesten), stecke ein Tropfen Wahrheit. Das nahmen sie als Anerkennung, während Bismarck doch Thiers nachdrücklich unterstützte.[122] Leider konnte ich die Blätter nicht aufheben, den Père Duchesne und wie die zum Teil aus den Zeiten des Terrors wieder aufgenommenen Titel hießen. Ich dächte, Kaiser Wilhelm hätte sie sammeln lassen. Die Communards kamen aber auch heraus zu uns, namentlich ein baumlanger Schlächtermeister, mit dem sich gut reden ließ. Er legte vertraulich seine Hand auf meinen Kopf, den sie bequem umspannte, als Liebkosung, während er die blutigsten Reden führte. Es ist das gallische Blut, das die schmiegsamste sociabilité in die scheußlichste Bestialität umschlagen läßt. Unsere Verwundeten und Gefangenen haben es erfahren. Die Leichtgläubigkeit der Masse und die Verlogenheit einer gewissenlosen Presse haben wir jetzt auch zu Hause in derselben Qualität.

Bald nach Mitte Mai begann der Bürgerkrieg und kam uns immer näher, als die Versailler eindrangen. Feuerschein erhellte die Nächte; das gewohnte Donnern der Kanonen störte den Schlaf. Wieder Krieg; verstärkte Wachen wurden aufgestellt. Plötzlich kam eines Abends der uns unbegreifliche Befehl, niemand mehr in oder aus der Stadt zu lassen. Der Rand gegenüber der Enceinte ward stark besetzt, vor ihr lag ein freier Raum, wohl hundert Meter breit. Es war eine harte Maßregel, denn der Verkehr war rege gewesen, namentlich hatten manche Arbeiter ihre Wohnungen bald hier, bald dort, von den Arbeitsstätten getrennt. Die Mädchen aus einer Zigarettenfabrik trieben sich Nachts auf den Trottoirs von Paris herum. Mit Morgengrauen kamen Scharen heraus, an unsere Linien heran und mußten abgewiesen werden. Geschrei, Fluchen, Versuche mit Bitten oder auch mit Gewalt durchzukommen. Wir waren angewiesen, im Notfalle zu schießen. Das mochte ich nicht befehlen, ging lieber vor und erteilte einige Hiebe mit der flachen Klinge des Faschinenmessers. Spät erst kam es zur Ruhe, aber vor einer nahen Feldwache lag ein erschossenes Weib noch tagelang unter der Mauer; niemand holte den Leichnam hinein2. Das Gefecht ließ sich verfolgen; die Versailler drangen von rechts längs der Enceinte auf das Tor vor und ersetzten die rote Fahne durch eine schmutzige Trikolore. Aber die Höhen der Buttes Chaumont widerstanden. Der Abend des 26. Mai war schauerlich.[123] Ich hatte als Beobachtungsposten auf dem hohen Eckhause der porte de Villette gegenüber Gelegenheit in die Stadt hineinzusehen und teile einige Sätze der Beschreibung mit, die ich nach Hause sandte. »Schlußtableau mit bengalischer Beleuchtung. Paris brennt. Dreiviertel des Himmels ist von der Lohe beleuchtet, der Qualm zieht in aschgrauen, unten vom Wiederschein bald rötlich, bald violett gefärbten Wolken vom Winde getrieben über unsere Häupter hin. Nur noch einzeln mischen sich die feinen weißen Wölkchen der Shrapnels unter das dicke Schwarz des Qualms. Es ist vollbracht. – Am Horizonte brannten die Tuilerien und das Stadthaus. Zu uns kamen versprengte Kugeln, die keinen Preußen, wohl aber französische Zuschauer trafen. Der Straßenkampf um die Höhen ließ sich verfolgen. Magazine von Petroleum und Holzwaren flammten auf. Trotz Regen konnte man nachts auf der Straße bequem lesen. Sodom und Gomorrha.«

Auch für uns schlug bald die Entscheidungs-Erlösungsstunde, Abmarsch zur Bahn, Heimfahrt lang und doch nur erquicklich. Das fröhliche, manchmal auch sentimentale Singen wollte nicht aufhören. Von nebenan hörte ich ein selbstverfaßtes Lied nach der Melodie: Nun ruhen alle Wälder; den Text durfte ich nicht aufschreiben, aber einige Zeilen haften in meinem Gedächtnis, in den entscheidenden Worten ganz verläßlich.


Bei Sankt Marie der Schönen

die Mitrailleusen dröhnen,

die Kompanie tritt an.


Die Volksetymologie von St. Marie aux chênes zeugt für den Ursprung des Liedes. Der Schluß:


und werd' ich sterben müssen,

erleichtert mein Gewissen

der Tag von St. Privat.


Von einem Schilderhause hatte ich mir früher Verse abgeschrieben, nach der Orthographie von einem Thüringer.


und wenn man mich scharrt ein,

hier an der schönen Sein',

mußt du nicht zu viel klagen,

des Kriegers Braut muß alles tragen.

Wer für die Freiheit ließ sein Blut,

ruht auch in fremder Erde gut.


Es wird eine literarische Reminiszenz darin stecken, aber für die Volksempfindung ist es doch bezeichnend.[124]

In Brandenburg wurden wir ausgeladen. Das erste deutsche Quartier bei einem kleinen ärmlichen Beamten: der tat uns so viel zugute wie er irgend vermochte. Aber in Spandau war der behäbige Apotheker Antimilitarist oder Pazifist oder sonst ein Unkraut, das heute ins Kraut geschossen ist: der ließ uns auf dem Boden auf Stroh schlafen, und hinter einem Lattenverschlage lagen Matratzen. Vermutlich war es unangebracht, daß ich den Verschlag nicht aufbrach; aber man war nicht mehr in Frankreich. Weiter ging es nördlich um Berlin herum bis nach Französisch-Buchholz, für die Grenadiere fette Tage bei den braven Bauern und alle Abend Tanz. Der 16. Juni, der Tag des Einzuges, mußte abgewartet werden. Er ist der schönste, aber auch anstrengendste gewesen, zumal für mich, der als Unteroffizier du jour um 4 Uhr von Haus zu Haus gehen und wecken mußte. Es war ein langer Marsch bis auf das Tempelhofer Feld und dann noch langes Warten. Mich hielt die Erregung aufrecht, aber der Flügelmann brach unter präsentiertem Gewehr zusammen. Beim Einzug durften sich die Zuschauer in die Reihen drängen, brachten viel Bier, für den überhungerten Magen ließ sich wenig darbieten. Frauen und Bräute brachten einen Kuß; dem wehrte niemand. Auch ich erkannte meinen Vater und die beiden ältesten Brüder. Unter den Linden wurde Tritt gefaßt, die letzte Kraft zusammengenommen zum Vorbeimarsch in Kompaniefront vor dem König und Deutschen Kaiser, der die vielen Stunden neben Blüchers Statue hielt und seine gütigen Augen über die Reihen gleiten ließ. Ich ging als schließender Unteroffizier hinter dem rechten Flügel und dieser Blick ging mir tief ins Herz; er wärmt es noch heute. Schon ehe wir in den Kupfergraben abbogen, war die Ordnung verloren, die Kräfte versagten. Staub und Hitze und Bier und Hunger hatten das Ihre getan. Auf dem Kasernenhofe mußten Unteroffiziere vor die Brunnen treten, die Leute mit Gewalt am Trinken verhindern. Viele krochen ohne erst zu essen in die Klappen. Der Rest des Tages und die Nacht waren freigegeben. Ich gelangte auf weiten Umwegen zu den Meinen, legte mich nach kurzem, frohem Mahle aufs Bett und verschlief die Illumination.

Vier Wochen fehlten noch an dem vollen Jahre. Eigentlich hatte man Anspruch auf 14 Tage Urlaub, aber der Unteroffizier war unentbehrlich; nur mit Mühe erwirkte uns Herr von Kamptz acht Tage. Dann noch eine Probe vom Kasernenleben; die Gebräuche des Krieges, an die man gewöhnt war, stießen manchmal an. Ich bekam einen Avantageur in die Korporalschaft und kommandierte ihn wie die anderen Grenadiere zur Arbeit; Tische sollten zu unserem Offiziersexamen in das Exerzierhaus getragen werden. Das war dem adligen Bürschlein genierlich. Ich dachte, es könnte ihm nichts[125] schaden, ich hatte doch auch die Straße gefegt und war zum Wasserholen geschickt worden. Die Bevorzugung der künftigen Offiziere in dieser Weise ist mir niemals berechtigt erschienen: sie sollten ebensogut wie wir Reserveoffiziere lernen, daß kein Dienst die Soldatenehre herabsetzen kann. Das Offiziersexamen war im wesentlichen eine Form. Unter den schriftlichen Aufgaben befanden sich Fragen nach der Bedeutung von Dingen wie »Schützen in die Intervalle« und Ähnlichem, was der Krieg nicht mehr kannte. Begreiflich, daß die Antworten nicht befriedigen konnten. Die Feldübung dagegen, Aussetzen einer Feldwache, Zugführen beim Angriff auf den Feind, einen andern Prüfling mit seinem Zuge, waren uns ganz geläufig, wir machten es nur zu kriegsmäßig. Das schadete alles nichts, denn das Urteil stand längst fest. Nun ging es nur noch einmal zum Plötzensee: es war für die Listen der Kompanie erwünscht, noch einige Freischwimmer mehr führen zu können. Dann schied man von den Offizieren auf baldiges Wiedersehen. Die Mannschaften waren lange vorher entlassen; nur einem habe ich die Hände schütteln können, als das Regiment 1913 sein hundertjähriges Jubiläum feierte und auch die alten Offiziere in die Chargen zurücktraten, die sie einst eingenommen hatten. Noch einmal Parademarsch vor Sr. Majestät. Bald ging es wieder in den Krieg, da zogen statt meiner zwei Söhne mit, der eine in den Tod.

1

Ausnahmen bestätigen die Regel. Ein Litauer war bei einem Bäcker einquartiert und ließ es sich gefallen, daß sie ihn als Polen betrachteten. Das scheint der Frau und der Schwägerin des Bäckers die Berechtigung gegeben zu haben, ohne Eifersucht umschichtig die Liebe des strammen Jungen zu suchen und zu finden.

2

Wie das arme Weib umgekommen ist, kann ich nicht unterdrücken. Grenadier Rosmarinowitsch, Oberschlesier, war der Täter. Der Kompanieführer verhörte ihn, denn es war ihm peinlich, daß der Befehl wörtlich ausgeführt war. »Aber auf Frauen schießt man doch nicht gleich?« »Zu Befehl, Herr Hauptmann, aber Weib frech, zeigt sich Arsch, schießt sie Rosmarinowitsch kaput.« »Na gut, wenn sie so frech ist, schießen, aber da schießt man doch vorbei.« »Herr Hauptmann, Rosmarinowitsch erste Schießklasse.« Nicht minder für die moeurs Gaulois wie für den biederen Oberschlesier charakteristisch.

Quelle:
Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Erinnerungen 1848–1914. Leipzig 1928, S. 104-126.
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