V. Intermezzo
Sommer 1871 bis Sommer 1872

[126] Es galt, sich in die Arbeit zurückzufinden und für die Reise in den Süden vorzubereiten, die längst geplant war. Die Studentenzeit war so kurz gewesen, ich hatte die für sie angesetzte Summe längst nicht verbraucht, im Felde so gut wie nichts, da hatte meine Mutter ein reichliches Reisegeld gesammelt, so daß ich mich um das archäologische Reisestipendium nicht bewerben mochte, obwohl ich dazu angeregt ward. Es mußte auch noch im Frühjahr 1872 die Offiziersübung gemacht werden. Daher hielt ich mich in Berlin auf, viele Monate auch in Markowitz. In der ersten Zeit war Lüders noch da, Robert kam, um seine Studien in Berlin abzuschließen und mit ihm war das Zusammenleben eng. Im Kriege, den er als Marburger Jäger mitgemacht hatte, war er gereift. Zur Archäologie zog es ihn kaum mehr als mich, er hatte aber bei Kekule mehr lernen können; in Berlin fehlte die Gelegenheit. Die Arbeit im Sinne Jahns, wie sie mir auch vorschwebte, ist in seinen ersten ausgezeichneten Arbeiten über die apollodorische Bibliothek und die eratosthenischen Katasterismen nicht zu verkennen, aber philologische Methode kam hinzu. Die Themata hat er sich frei gewählt, von seiner Dissertation habe ich vorher gar nichts gewußt. Er kam zum Abendessen oft auf meine Stube, wo die Markowitzer Spickgänse und Würste lockten, zur Ergänzung des Mittagessens unentbehrlich, denn die Teuerung war so groß, daß man für 11/2 Mark nicht satt werden konnte. Beim Thee lasen wir zusammen vielerlei; die Midiana fesselte z.B. so sehr, daß es zwei Uhr ward. Im Oktober 1872 machten Lüders, Robert und ich eine gemeinsame Reise nach Dresden, Nürnberg, München. In Dresden war die Darmstädter und Dresdener Madonna Holbeins zur Vergleichung ausgestellt und lag ein Buch zur Volksabstimmung über Original und Kopie aus; ein Zweifel war kaum möglich, aber die Kompetenz des Volkes anzurufen ein mehr als bedenklicher Schritt. In München die Vasensammlung mit Jahns Katalog eifrig zu studieren war der Hauptzweck der Fahrt. Damit ward ein Gebiet der monumentalen Forschung erobert, nicht minder reich, nicht minder reizvoll als das attische Drama. Daneben stieg Dürer am Himmel der Kunst auf, zu dem ich zeitlebens ebenso andachtsvoll emporgeschaut habe wie zu den größten Italienern.[127]

Lüders hatte Mittel gefunden, in den Süden zu fahren, wo es ihm glückte, zum Reisebegleiter des Prinzen Friedrich Karl berufen zu werden, was ihn in den Orient, zunächst an den Hof des Dey von Tunis brachte, aber den Studien entfremdete. Ein tunesischer Orden, der viele Nachfolger erhielt, machte ihm Freude. Den Druck seines aus einer von Jahn gestellten Preisarbeit erwachsenen Buches, die dionysischen Techniten, konnte er nicht selbst überwachen, übertrug es also mir, was namentlich an dem epigraphischen Anhang viel Arbeit machte, aber die Einführung in ein neues Gebiet war nützlich. Zum Dank hat er mir das Buch gewidmet. Ich wagte bei Curtius und Haupt Besuch zu machen und ward freundlich aufgenommen. Im Hause von Curtius war vornehmlich durch seine Damen ein bewegtes und geistig angeregtes Leben. Bei Haupt war man meist allein, da nahm mich die machtvolle Persönlichkeit ganz gefangen; er war ja viel mehr als seine Vorlesungen gaben und was er im Alter schrieb erkennen läßt. Einmal kam ich auch zu Mommsen ins Haus. Das ging so zu. Die Franzosen waren auch damals so verbockt und verkehrt, daß sie den wissenschaftlichen Verkehr abbrachen, um sich doch bald zu überzeugen, daß sie sich damit selbst ins Fleisch schnitten. Von unserer Seite ward daher beschlossen, der Gesandtschaft jemand anzuschließen, der Aufträge der deutschen Gelehrten, zunächst für die Unternehmungen der Akademie, in Paris erledigen sollte. Ich weiß nicht, wie man auf mich verfallen war. Mommsen beschied mich also zu sich, zog mich auch an seinen Familientisch und war sehr freundlich, obwohl sich sofort herausstellte, daß ich gänzlich ungeeignet war; Alfred Schöne ist berufen worden. Für Italien gab Mommsen mir Empfehlungskarten und die richtige Anweisung, Paläographie zu Hause zu treiben sei nutzlos; man lerne sie nur an den Handschriften, aber man müsse sich in viele hineinlesen; die wenigen, die man für seinen bestimmten Zweck brauche, reichten nicht und man würde mit ihnen erst fertig, wenn man sie von neuem vornähme, nachdem man sich an den vielen geübt hätte. Der Eindruck, den ich mitnahm, war erhebend und niederdrückend zugleich, dem vergleichbar, wenn man aus dem Tale zu dem unnahbaren Gipfel eines Hochgebirges aufschaut.

Erfrischend und belehrend war der Verkehr mit Rudolf Schöll, der damals in Berlin Privatdozent war, um bald auf kurze Zeit als Professor nach Greifswald zu gehen. Er trieb mich aber zu vorschnellem Hervortreten an die Öffentlichkeit; von selbst wäre ich darauf nicht verfallen. Nietzsches Geburt der Tragödie erschien und versetzte mich in hellen Zorn. So traf mich Schöll, der mehr zu Spott geneigt war, und forderte mich auf, eine[128] Rezension zu schreiben, die er in die Göttinger Anzeigen befördern könnte. Ich ließ mich verleiten und schrieb die Zukunftsphilologie in Markowitz, fast ganz ohne Bücher. Schöll war mehr als befriedigt, für die Anzeigen passe es freilich nicht, aber gedruckt müsse es werden. Ich fand rasch einen Verleger und trug die Kosten, die der Absatz auch für das zweite Stück einbrachte, zu dem mich Rohdes Afterphilologie zwang, als ich schon in Rom war, in einer anderen, reineren Welt.

Nietzsche hatte meinen moralischen Ingrimm durch einen frechen Ausfall auf Otto Jahn besonders erregt. Überhaupt schien mir alles herabgewürdigt, was ich von Pforte als etwas unantastbar Heiliges mitgenommen hatte. Das durfte ein Pförtner nicht antasten. Nietzsche hatte für etwas Besonderes, wenn auch Absonderliches gegolten, zu dem wir wenig Jüngeren emporsahen. Nicht ganz ohne Einschränkung; es hieß, daß Paul Deussen dem Autoritätsfreunde, was Nietzsche ihm immer geblieben ist, von seinem Griechisch, in dem er alle andern schlug, und vor allem seiner Mathematik abgeben müßte, für die jener notorisch unempfänglich war. Er war Ritschl von Bonn nach Leipzig gefolgt (daher der Angriff auf Jahn), und bekam durch diesen die Baseler Professur und den Ehrendoktor. Ich begreife nicht, wie jemand diesen Nepotismus entschuldigen kann, eine unerhörte Bevorzugung eines Anfängers, die das, was das Rheinische Museum von Nietzsche brachte, keineswegs rechtfertigen konnte, Dinge, die des Richtigen nicht eben viel enthielten, also nur einer sehr guten Doktordissertation entsprachen. Das konnte ich damals nicht beurteilen, Usener hatte es im Seminar hoch gepriesen, zunächst also war man stolz auf den Erfolg des Mitschülers. Als ich gleich nach dem Kriege meinen alten Rektor besuchte, machte ich auch dem Baseler Professor in Naumburg meine Reverenz. Wenige Monate darauf erschien die Geburt der Tragödie. Die Vergewaltigung der historischen Tatsachen und aller philologischen Methode lag offen zutage und trieb mich zum Kampfe für meine bedrohte Wissenschaft. Das war verzweifelt naiv. Hier war ja gar keine wissenschaftliche Erkenntnis beabsichtigt; es handelte sich gar nicht wirklich um die attische Tragödie, sondern um Wagners Musikdrama, von dem ich meinerseits keinen Hochschein hatte. Wieder einmal sollten die Griechen als das absolut vorbildliche Volk der Kunst erlebt, gefühlt, geschaffen haben, was die moderne Theorie als absolut vollkommen erweisen wollte. Apollinisch und dionysisch sind ästhetische Abstraktionen wie naive und sentimentalische Dichtung bei Schiller, und die alten Götter lieferten nur klangvolle Namen für einen Gegensatz, in dem etwas Wahres steckt, so viele triviale Dummheiten auch nachschwatzende Halbbildung[129] mit den Wörtern auftischt. Apollon, nicht Dionysos, begeistert den Seher und die Sibylle zu hellseherischem Wahnsinn, und die Ekstase weckende Flötenmusik, nicht die Kithara des Gottes, herrscht in seinem delphischen Kultus. Über Dionysos hatte Nietzsche einiges bei Erwin Rohde gelernt, denn ein Hauptverdienst dieses hervorragenden Gelehrten ist die Erkenntnis, daß mit dem fremden Gotte eine neue, dem alten Gottesdienste der Hellenen fremde Form des religiösen Fühlens und Handelns eingedrungen ist. Auch das wird zutreffen, daß in den hinreißenden Dichtungen, zu denen Nietzsche sich später erhoben hat, ein dionysischer Geist weht. Eben darum ist er dem spezifisch Hellenischen immer nicht nur fremd, sondern feindlich gewesen.

So viel Knabenhaftes in meiner Schrift steckt, mit dem Endergebnis schoß ich ins Schwarze. Er hat getan, wozu ich ihn aufforderte, hat Lehramt und Wissenschaft aufgegeben und ist Prophet geworden, für eine irreligiöse Religion und eine unphilosophische Philosophie. Dazu hat ihm sein Dämon das Recht gegeben; er hatte den Geist und die Kraft dazu. Ob ihm die Selbstvergötterung und die Blasphemien gegen Sokratik und Christentum den Sieg verleihen werden, lehre die Zukunft.

Meine Schrift hätte nicht gedruckt werden sollen. Schon die abgeschmackte Orthographie, in die ich mich von Jakob Grimm ausgehend verrannt hatte, mußte fratzenhaft erscheinen. Und die Leser mußten einen ganz falschen Begriff von meiner Keckheit bekommen. Ich war ein tumber Knabe, der sich seines anmaßlichen Auftretens gar nicht bewußt war. Aber zur Reue habe ich keine Veranlassung, denn ich folgte meinem Dämon: ehrlich und mutig führte ich »im Myrtenreise das Schwert«, wie unser Bonner Vereinsspruch gefordert hatte, für meine Wissenschaft, die ich in Gefahr glaubte. Die Folgen mußte ich tragen. Zum Glück verschwand ich im Süden und merkte nicht allzuviel von der Hetze, die hinter mir her war. Sie hat auch nachher nicht aufgehört; ich ließ sie gewähren.

Rudolf Schöll tat mir noch einen gutgemeinten schlechten Dienst. Er verlangte einen Beitrag zum Hermes. Eigentlich hatte ich nichts, aber die Ehre der Aufforderung lockte zu sehr. Ein verständigerer Redakteur als Emil Hübner würde die Nichtigkeiten abgewiesen haben, die im 7. Bande des Hermes zu meiner dauernden Beschämung stehen. Es war Zeit, daß ich zu einer neuen Studentenzeit nach Italien ging.

Quelle:
Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Erinnerungen 1848–1914. Leipzig 1928, S. 126-130.
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