X.

[153] Nach siebenjährigem Aufenthalt in Amerika kehrte Possart nach München zurück und übernahm durch Befürwortung des Geheimsekretärs des Prinzregenten, Herrn von Klug, die Leitung des Königlichen Theaters. Sein kluger Kopf stand unseren Bestrebungen (das Münchener Hoftheater, das u.a. den Vorzug hatte, die Neuschöpfungen Ibsens aus der Taufe zu heben, hatte bei Freund und Feind den Ehrentitel Deutschlands »Moderne«) völlig fremd gegenüber. Er hatte während der langen Gastspielzeit drüben, dem Schlaraffenland des Wandervirtuosentums (wo man es für Kunst nimmt, wenn man Wurm und Hofmarschall Kalb, Desilva und Ben Akiba zusammenspielt), keine Fühlung mit uns gehabt und keine mit der aufblühenden literarischen Epoche jener Tage. Nicht an das, was er vorfand, sondern an das, was er vor sieben Jahren verlassen hatte, knüpfte er an. Das erste, was er tat, war, die Clara Ziegler für vierzig Abende zu verpflichten. Das Münchener Publikum aber hatte keine »Organe« mehr für das hohe Pathos der »Tragödin« und für Ohrfeigenstücke wie »Graf Essex« usw., so daß das Gastspiel schon nach sieben oder acht Abenden abgebrochen werden mußte. Dann folgten die Reisevirtuosen Friedrich Haase und Sonntag mit ihren 10000 approbierten, seelisch-verkalkten Mätzchen in damals schon eingesargten[153] Kitschstücken. Und während Bühnen anderer Städte die »Versunkene Glocke«, den »Biberpelz«, die »Liebelei«, die »Jugend« usw. usw. als schöne, reife Früchte brachten, stand bei uns als neueinstudiert auf dem Zettel: »Ultimo«, »Die Dienstboten«, »Des Königs Befehl«, »Freund Fritz« und so mehr. Das Wertvolle aber verlangte ein Ventil, und nicht mit Unrecht bezeichnete man Possart als den Gründer (wider Willen) des »Münchener Schauspielhauses«. Die Münchener Presse ließ sich die Sache auch nicht gefallen und griff Possart heftig an. – Die abwehrende Stimmung währte ziemlich lang – bis zur Gründung des Prinzregenten-Theaters. Da trat eine Wendung ein. Der Bekämpfte wurde von einer die öffentliche Meinung beherrschenden Partei auf den Schild gehoben und zum Lokalheros gemacht! Ob mit Recht? Gerade die Nachmittags-Vorstellungen im Prinzregenten-Theater (»Klassiker«-Vorstellungen) – ganz im Zeichen des dramatischen Warenhauses Pollini in Hamburg-Altona – waren für unser Schauspiel ein großer Niedergang. »Was künstlich ist, verlangt geschlossenen Raum«, heißt es im 2. Teil Faust. Dieses Wort des Homunculus enthält eine verallgemeinernde Weisheit und bewährte sich auch hier. Nachmittag im Regententheater Faust oder Götz – am Abend im Residenztheater »Maria Theresia« oder »Im weißen Rössel« usw. – dementsprechend ununterbrochene Repertoirebildungen und Notbesetzungen – all das mußte konsequenterweise zum künstlerischen Ruin führen. Und war das Entstehen der Wagnerbühne für die Oper von so hohem Wert? Dem Fremdenverkehr, mag sein, hat das neue Theater gedient. Vermochte es aber so glänzende Aufführungen der Wagneropern zustandezubringen als seinerzeit jene meisterhaften unter Levy im Hof- und Nationaltheater? Kaum! Das Wichtigste aber ist: der Plan, ein Königliches Schauspielhaus zu bauen,[154] lag damals in der Luft, ja, der Platz, wo es stehen sollte, war so gut wie bestimmt. Hätte Possart seine ungewöhnliche Energie, seine weitblickende Intelligenz, seine mutvolle Tatkraft dafür eingesetzt, längst stünde nicht ferne der Königlichen Residenz eine monumentale Stätte für das Schauspiel, die uns, ach, so nottut! Aber der Bau in Bogenhausen erhob sich, und das Projekt eines Königlichen Schauspielhauses versank damit ... Dreizehn Jahre war es Possart vergönnt, an der Spitze des Königlichen Instituts zu stehen – dann fiel er! Wenn Minister fallen, so fallen sie, nach Börne, wie Butterbrote auf die Fettseite; weich wie ich bin, hoffe ich, auch Generalintendanten! Mir gegenüber zeigte sich Possart gelegentlich wohl auch – es waren Wellenschläge – kollegial und überließ mir, großmütig wie der gesättigte Löwe, manche Rolle seines Repertoires.

Ich selbst hatte nie Unterricht gehabt und gebe ihn selbst nur ungern. In München aber wurde ich förmlich dazu gepreßt. Zwar die Jünglinge, die, von ihrer Genialität durchdrungen, nichts tun wollen – tat ich mir ab; aber eine ganze Anzahl junger Mädchen, die viel redlicher denken und arbeiten, machte ich im Laufe der Jahre zu Louisen, Julien, Rautendeleins. Da ich nicht viel nach dem Honorar fragte – es waren fast ausnahmslos blinde Passagiere, die mitfuhren –, so hatte ich Glück! Ich nenne die berühmt gewordene Centa Bré, die das Lachen versteht wie wenige auf deutschen Bühnen. Sie kam als kleine Blumenmacherin zu mir mit noch harten Händchen. Wir arbeiteten tüchtig. Nicht selten saß ihre ältere Schwester, eine hochgewachsene, ungewöhnlich schöne Nonne, dabei, sah und hörte, und versicherte, wenn sie nicht ihrem heiligen Berufe angehörte: »Nur Schauspielerin!« Ganz gefunden hat sich die Bré erst später im Engagement. Mit dem Unterricht, sofern er etwas taugt, geht es nicht selten wie mit der Heilkraft einer[155] Badekur: die volle Wirkung stellt sich erst später ein. – Auch die große Frau mit männlichem Geist, Irene Triesch, war eine Zeit bei mir. Sie und die Bré spielten als Anfängerinnen bei Meßthaler am »Deutschen Theater«. Drach, der in den Zentralsälen das moderne Drama zu pflegen begann, wohnte mit mir im Deutschen Theater der Vorstellung eines Stückes von Sudermann bei. Er war sehr entzückt von der Bré. Nach der Vorstellung, im Restaurant des Theaters, bot er ihr Vertrag. Abseits auf einem Stuhle kauerte, wie zum Sprunge bereit, der junge, biegsame Leib der Triesch; mit glühenden Augen, wie nur sie solche besitzt, und denen man ansah, wie ihr das junge Herz voll Ehrbegier pocht, blickte sie zu uns. »Drach«, sagte ich, »schauen Sie die dort im Winkel; sie ist so hübsch und so ungewöhnlich begabt; engagieren Sie sie doch auch.« – »Meinetwegen!« sagte er und engagierte den baldigen Stern seines Theaters und bald Deutschlands gleichsam als Zuwage beim Bré-Einkauf! – Eines Tages brachte mir Geheimrat Dr. Reber, der Direktor der Münchner Pinakotheken, sein Nichtchen Georgine. Ein wahres Madonnenbild und ein Mädchen von seltenem Geist und ungewöhnlichem Talent. Nach achtmonatlichem Unterricht spielte die noch nicht Neunzehnjährige in Mainz mit großem Beifall das ganze sentimentale Fach. Aber ihre Psyche war zu sein besaitet für die rohe Wirklichkeit des Theaterlebens, und sie verließ die Bühne nach wenigen Jahren. – Das eigenartigste Talent aber, dem mir vergönnt war, zu Hilfe zu kommen, vielleicht eines der größten, das das Deutsche Theater besaß, zog ich aus einem kleinen Weinkeller, nahe dem »Platzl«, ans Tageslicht: die Jenny Rauch. Eine anmutige, blutjunge Brünette, das Kellnerinnenschürzchen umgebunden, mit den klügsten, sinnigsten Äuglein, die man sich denken kann, brachte uns den Schoppen. Das gutmütige[156] Schauen dieser wilden Kirschen war wie eine weltschmerzliche Frage ans Leben. Nur zaghaft erbat sich das Mädchen die Erlaubnis, mir etwas »vorsagen« zu dürfen. Ich war auf das Herunterleiern des hundertmal gehörten »Lebt wohl, ihr Berge, ihr geliebten Triften« gefaßt. Aber schon die Art, wie sie bei mir Hut und Mantel mit fiebernden Fingern abwarf, frappierte mich. Als sie darauf losbrach mit einer Stelle aus »Medea«, heißblütig und mit vollem Erfassen – saß ich wie gebannt. Und wie sie dann, nicht müde werdend, Monologe der Julia, Stella, Stuart – all das hatte das junge Köpfchen, wenn der Stammtisch seine Schoppen hatte, verstohlen »zusammengehamstert« – mit Temperament und sicherem Instinkt, unterstützt von einem glockenvollen Organ, mir schmetternd gab, fühlte ich mich tief ergriffen. Aber – o Jammer, das geniale Kind war krank, schwer krank. Ein unerbittliches Lungenleiden! Wie vermochte man sie da den Anstrengungen der Bühnenlaufbahn auszusetzen?! Ich ging mit mir zu Rate; frug auch Ärzte. Wir entschieden: im Tabakrauch des Kellers lebt sie vielleicht zwei, drei Jahre, beim Theater durch Gymnastik des Sprechens, die der Lunge zugute kommt, viel leicht acht bis zehn Jahre. So möge ihr heißer Wunsch sich erfüllen. In welcher Weise sie mir nach zwei, drei Monaten (sobald das Technische erfaßt war) das Gretchen, Klärchen, die Julia vorspielte – vermag ich nicht zu schildern; ich wußte kaum noch etwas zu sagen – sah hin und staunte! Die Rauch machte auch schnell ihren Weg, wurde eine berühmte Schauspielerin des Deutschen Theaters in Berlin und – starb! Nicht acht, zehn Jahre, wie wir gehofft, nur sechs dauerte ihr beglückender Traum. Als ich die Trauernachricht in der Zeitung las, war mir's, als hätte ich einen lieben Verwandten verloren.[157]

Es gibt auch einen Fluch der guten Tat! Weil ich also bei einigen jungen Damen, die nur Talent und kein Geld besaßen, mit meinen dramatischen Unterweisungen Glück hatte, war ich eine Zeitlang am Ort als Lehrer Mode und hieß: »Die Münchner dramatische Armenschule«. Zumal die Nachmittagsstunden gehörten durch zahllose »Prüfungen« nur selten mir selbst allein. Hier so ein vertrödelter Nachmittag.

Es klopft – herein! Zwei treten ins Zimmer: Vater und Sohn. Den ersteren davon hätte man, so wie er war, nur auf einen mageren Klepper zu setzen brauchen, und ein Don Quichote wäre fertig gewesen. Der ausgemergelte Hals des dürren Alten maß wohl eine viertel Elle. Er stak in einem veralteten, feierlich ausgebürsteten Gehrock und war wie sein Urahne aus der Mancha von Adel. Seinem fünfundzwanzigjährigen Sohne sah man es an, daß er sich Zoll für Zoll für unwiderstehlich hielt. In seinem hübschen Gesicht hatte sich wie eingefroren ein siegbewußt-borniertes Lächeln eingenistet, und es schien, als ob er dieses durch ein stereotypes Drehen und Kajolieren des blonden Schnurrbärtchens noch unterstreichen wollte. Mit einer Stimme, nicht unähnlich der eines Bauchredners, klagte mir Papa, sein Sprößling hätte schon etliche Berufe ergriffen, aber noch nie etwas durchgeführt. Er habe immer gehofft, sein Glück durch eine glänzende Partie zu machen vermöge »Adel und Exterieur«. Aber täglich frage er ihn: Wo ist die Goldbraut? – Nun möchte er es mit dem Theater versuchen und ich möchte mein kompetentes Urteil abgeben. Kompetent! Abscheuliches Wort – ich empfinde dabei fast einen physischen Schmerz. Ich habe gelernt, nicht vorschnell zu sein. Talent ist oft eine komplizierte Sache; auch ein geringes kann durch Surrogate (als da sind: äußere Mittel, Geschick, Fleiß, Gedüchtnis, gesunde Ellenbogen) so weit ersetzt werden, daß es zur Not[158] fürs Theater ausreicht, und nicht mit Unrecht meint Iffland: »Gebt mir einen normalen Menschen und ich mache euch einen Schauspieler daraus.« Aber bei diesem Adonis gab es nichts als Sand, trockenen Sand der Mancha; nicht einen Tropfen Feuchtigkeit der Seele. Mit aufrichtigem Bedauern sagte ich das dem armen Alten, der meine kompetenten Mienen mit ängstlich fragenden Blicken beobachtet hatte. Zufällig wählte ich das Wort: »Ihrem Sohn fehlt alles Temperament.« Darauf der besorgte Vater: »Darin, verzeihen Sie, irren Sie doch: sehen Sie, wenn meinem Ludwig – wie beispielsweise gestern – ein Gericht nicht mundet, so ergreift er den Teller und schleudert ihn meiner Gemahlin vor die Füße.« ... Nach Vater und Sohn traten ein: Mutter und Tochter; zum Unterschied dicklich und rundlich, geblasenen Glasfigürchen mit bunten Augentupfen ähnlich. Die Mutter noch »appetitlich« und sehr beweglich. Das Töchterchen jung, bildschön: Milch und Blut und Augen himmelblau wie die einer Weihnachtspuppe aus der Großmutterzeit. Ihre Puppenschönheit auch nicht durch die geringste Spur von Seele oder Geist irritiert. Beide trugen »Kapotthütchen«. Mama präsentierte sich stolz als »Frau Eisenbahnkondukteur«. Sie war sehr beredt, erzählte, wie die Verlobung ihrer Tochter zurückgegangen, und nun müßte ich sie zum Theater bringen, ihr Zimmerherr habe das gesagt. Ich wandte mich an die Tochter und fragte sie, ob sie schon von Kindheit an Luft und Liebe für die Bühne empfand? Aber Mama ließ das lächelnde Töchterlein nicht zu Worte kommen. »Aber bitte«, sagte sie, »was fragen S' den Fratzen? Was weiß denn die! Luft und Liebe, soviel Sie nur mögen.« – »Gut, gut«, sagte ich, »aber lassen wir das Fräulein selbst sprechen, ich möchte gern ihr Organ hören.« Die Mutter: »Sie – wunderbar, ganz wunderbar.« Ich: »Und Fräulein glauben Talent zu besitzen?« Die Mutter:[159] »Großartig, ich sag' Ihnen, einfach großartig, Herr Professor –« – »Ich bin nicht Professor.« – »Net, so eine Gemeinheit – also 's Talent, ich sag' Ihnen, großartig!« Ich: »Fräulein, in welcher Weise äußert sich Ihr großes Talent?« Die Mutter: »Also wenn sie mal im Volkstheater war oder bei d' Volkssänger und heimkommt – ich sag' Ihnen, da hupft's umanand und macht die Faxen nach – rein bucklet könnt' man sich da lachen. Also, net wahr, abgemacht, wir machen's, wir bringen sie zum Theater – gelt?« – Sie gingen. Die Tochter hatte nicht ein Wort gesprochen. Beide sah ich nie wieder.

Sie waren kaum zur Tür hinaus, da trat meine Hausfrau ein und meldete: im Hof unten wäre ein junger Mensch, der zum Theater möchte und mich zu sprechen wünscht – er habe sich schon von ihr, der Hausfrau, Gewichte ausgebeten und hebt 50 Pfund mit den Zähnen ...

Darauf trat ein Ehepaar zwischen vierzig und fünfzig ein. Brave, behäbig-behagliche Münchner Bürgersleute, denen, möchte ich wetten, auf der Straße unten ihr Dackel nachtrottet. »Mein Mann« – begann als die geistige Führerin Madame – »ist in den Gemeinderat gewählt, da heißt's, Sie wissen, auch manchmal was sagen, und da sollen Sie ihm halt ein bissel das Sprechen beibringen.« Ich dachte natürlich, daß es sich bei dem neuen Volkstribun um Sprachtechnik handle, und bat ihn, um eine Probe zu haben, ein paar Worte zu sprechen – vielleicht über augenblickliche Stadtangelegenheiten. Aber siehe da, der ehrenfeste Herr Wachszieher stammelte: »Meine Herren – indem – insofern – daß wir – weil wir hier – also –« usw. Genug, es stellte sich heraus, daß ich den guten Mann nicht belehren sollte, wie er reden müsse, sondern daß ich ihm das Was beibringen sollte. Weil ich aber dazu – handelte es sich doch um Sachen des Magistrats – weiser hätte sein müssen[160] als Salomo, Zarathustra und Sokrates zusammengenommen, zuckte ich die Achsel: »Über unsere Kraft« – und geleitete das Ehepaar unter aufrichtigem Bedauern bis zur Treppe. –

Da stieg schon wieder wer empor. Diesmal eine junge, ungewöhnlich schöne Brünette, elegant, rassig und von siegendem Charme. Es war eine von den geschiedenen Frauen Strindbergs, die augenblicklich in München lebte und den spontanen Entschluß gefaßt hatte, es mit dem Theater zu versuchen. Sie wollte meine Ansicht hören, mein Urteil. Ich erklärte mich sogleich bereit, ihr dienlich zu sein, und wollte mich von ihren Fähigkeiten für den Beruf, den geistigen und handwerksmäßigen, womöglich gleich überzeugen, wollte sie prüfen. Aber die interessante Frau redete in prickelnd-bizarrer Weise, mit sprühendkapriziösen Wendungen von der »Auffassung« der Rollen, die sie spielen wolle. Also von den letzten Dingen. – Das währte eine ziemliche Weile. Endlich sagte ich: »Ich wiederhole, gnädige Frau, daß ich herzlich gern bereit bin, Ihnen die Hand zu bieten – aber dazu muß ich Sie fragen – Sie vergeben –, ob es Ihnen für den Anfang möglich ist – denn das halte ich für durchaus nötig – eine halbe Stunde nicht geistreich zu sein?« – Da veränderten sich ihre Mienen, sie stand auf, ergriff den Sonnenschirm und verließ mich, um nie wieder etwas von sich hören zu lassen. – Bis zur Stunde frage ich mich, ob ich mit dieser Äußerung, die ernst und gut gemeint war, wirklich etwas Unartiges gesagt hatte?!

Nach einer ermüdenden Spielzeit war meine alljährliche »Erholung« eine schier noch ermüdendere Reise. München ist Fremdenstadt und hat darum von allen deutschen Hofbühnen die kürzesten Ferien: abgezählte achtundzwanzig Tage! Da heißt es, will man ein neues Eckchen Welt sehen, kombinieren, studieren – und dann jagen und hetzen. Im Jahre 1892 entschied ich[161] mich für Bosnien. In schwarzer Nacht kam ich in Brod, der ungarisch-bosnischen Grenzstation, an. Neben dem Billettschalter, beim Schein einer qualmenden, trübselig brennenden Petroleumlampe stand ein Mann mit einer Amtsmütze und verlangte die Pässe ab. Mir gab es einen Riß! Ich hatte keinen, und in diesem traurigen Nest warten, bis er mir von München nachgeschickt wird – schauerlich! Verzweiflung macht kühn und erfinderisch! Hatte es nicht auf der ganzen weiten Strecke in Ungarn geheißen – ganz so wie im »Revisor« von Gogol –, »wer da schmiert, der fährt«?! Gewohnheitsmäßig trage ich nun auf meinen Ferienreisen das Wochenrepertoire der nächsten Saison bei mir. Dieses ziehe ich, auf die Gefahr, wie ein ertappter Dieb gefaßt zu werden, jetzt aus der Brusttasche, bewehre mit einem Guldenzettel meine Rechte und winke die Amtsmütze zu mir. Auf diesem Repertoire steht am Kopf etwas von »Königlich«. – Darauf deute ich nun, eine ernste Miene aufsetzend, mit dem Finger. Der Grenzgewaltige will schwierig werden, aber im Moment fühlt er auch schon in derselben Hand, die den Amtsstempel hält, meinen Guldenzettel. Oho – das ist freilich etwas anderes! er grunzt ein respektvolles »Ah«, welches entweder dem »Königlichen« auf dem Repertoire oder dem K. K. auf dem Guldenzettel gilt, – hebt den Stempelstock und – bautz! Der Doppeladler saust nieder aufs »Weiße Rössel«. Und so ging's dann lustig weiter! In Serajewo, in Mostar, überall – bautz aufs königlich bayerische Repertoirestück! – Die Türken rissen Mund und Augen auf beim Anblick der aus Österreich zugereisten Beglückung. Sie dürfen mehrere Weiber nehmen, und ihre Städte besitzen infolgedessen keine Dirnen (die ja schließlich doch nur arme Opfer auf dem Altar der einzigen Gemahlin sind). In Serajewo aber gab es Dirnen wie Insektenschwärme; sie wimmelten in den Straßen wie Kohlweißlinge[162] auf fettem Ackerland. Neben überlebensgroßen Federhüten und Turnüren nach der Mode, armselige Luderchen mit Droschkentaxen. Ich drechselte folgenden Stachelreim:


»Wir bringen die Kultur zu euch!

Drang man aus Wien ins Türkenreich,

Und überall in großer Schnelle

Erhoben sich im Land Bordelle.«


Mit großem Entzücken sah ich nach Serajewo mit seinem bizarren Bazar die herrlichen dalmatinischen Städte Ragusa und Spalato und gelangte – alles in vier Wochen – bis in die schwarzen Berge Montenegros.

Auf der Landkarte unseres alten Kontinentes, zwischen Frankreich und Spanien, ist ein buntes Kleckschen zu bemerken, gelb, blau oder grün. Dieses Spritzerchen, nicht größer als die Verewigung eines Maikäfers, mitten in den Pyrenäen, ist die Republik Andorra. Jahrzehntelang fixierte ich beim Herannahen der Reisezeit den dicken Punkt, bis er mich hypnotisiert hatte. Eine Republik, die sich seit mehr als tausend Jahren selbständig regiert – das Kleckschen mußte ich sehen! In dem letzten französischen Dörfchen Hospitalet (Ariège), bestehend aus einem Dutzend ärmlicher Häuser, die sich in graue Felsspalten verschlupfen, übernachtete ich, um gegen vier Uhr früh mit einem alten Andorraführer aufzubrechen. Solange wir uns auf französischem Boden befanden, waren die steilen Wege gebahnt, Flüsse und Flüßchen überbrückt. Das vollständige Aufhören von alledem war das Zeichen, daß wir das Gebiet der Bauernrepublik betreten hatten. Im ganzen Freistaat nicht zwei Ellen von Luxusdingen, als da sind Pflasterstraßen und Brücken. Er ist heute nicht anders als zur Zeit, da ihn der Sage nach Karl der Große gegründet hat. Es hieß also für uns, in Menschen- und Maultierstapfen auf- und abwärts klettern und Gebirgswässer[163] durchwaten. Da, nach einer steilen Wanderung von drei Stunden – die ersten Republikaner. Auf kleinen Maultieren drei Schäfer und Grenzwächter zugleich; Stäbe in den Händen, kurze Gewehre an der Seite, die phrygische Mütze auf. Wir kamen uns näher: Kleine, hagere Menschen, die Gesichter von der Schneekälte des Winters und den Sonnengluten des Sommers zugleich wettergegerbt und gebräunt. Sie waren aufs ärmlichste gekleidet, eigentlich mehr in Leinwand gewickelt. Nachdem sie sich eine Weile mit meinem Führer in ihrem katalonischen Dialekt unterhalten hatten, nickten sie mir gutmütig zu und reichten mir die harten Hände zum Zeichen, daß ich willkommen sei in ihrem Land. Die erste Ansiedlung, Canillo, liegt an einem jähen Felsabhang. Sie besteht aus einem weitläufigen, patriarchalischen Bauernhof, der Raum genug hat für viele Schmuggler mit ihren Maultieren und Waren, einigen ärmlichen Häuschen und Hütten und der – Kirche. Kirche! Der verfallene Verschlag für die Feuerspritze in einem ostpreußischen Dorfe wäre daneben monumental zu nennen. Ich hatte so etwas nie gesehen, nie für möglich gehalten. Die verfaulte Holztüre, halb aus den Angeln, das Taufbecken ein Stein, unbehauen, wie er auf dem Felde gefunden wurde, nur innen etwas vertieft, der Altar ein morscher Kasten mit einem getünchten Holzkreuz darauf. Der viereckige, finstere Raum mit Spinngeweben förmlich überdeckt, der Boden von Mäuselöchern durchbohrt. In der Mitte desselben eine Falltüre – die die Begräbnisstätte der Bürgermeister des Ortes deckt. Die anderen Bürger werden außerhalb der Kirche in einem elenden Verschlag verscharrt. – Unten im Tale bemerkte ich die schwärzlichen Umrisse einer menschlichen Gestalt: es ist der Geistliche des Dörfleins – der sich sein Mittagessen fischt. Hinter Canillo, nach einem scharfen Felsbug, in einer engen Bergschlucht ein uraltes, originelles[164] Kirchlein, einsam, verlassen, fast wie ein Felsenriff im weiten Meere. Die frühgotische Form so sicher und exakt, daß es, obwohl ohne Mörtelbewurf und aus den unbehauenen Steinen der Andorraberge unbeholfen zusammengefügt, dalag wie ein großer Kristall. Ein Jahrtausend Sonne und Wetter hatten mitgearbeitet, ihm seine tiefbraune Plüschfarbe zu geben. – Eine halbe Stunde weiter das Dorf Prazz, das, so winzig es ist, sich wie ein Städtlein gebärdet; denn es besitzt einen kleinen Platz mit drei oder vier einstöckigen Häusern, anheimelnd wirkend durch glückliche Gruppierung. In der Mitte ein steinerner Brunnen zur Labung für Mensch und Vieh. Nicht fern dieser Hochburg des Patriziertums der Republik – richtige Höhlenbewohner. Die vielen tiefen Risse und Spalten der sich zur Rechten fortziehenden Felshänge durch »Kunst« erweitert, mit Türeingang und Luftloch versehen und so zu einem menschlichen Wohnsitz umgewandelt! Und Höhle an Höhle, eine lange übervölkerte Zeile, eine Avenue der Armut! – Da und dort sah ich heiße Quellen von der Dicke eines jungen Birkenstammes aus dem Gestein hervorbrechen. Der Führer, der mein Erstaunen sah, bedeutete mir, daß es zumeist Schwefelquellen wären, und daß zumal Frankreich den Schäfern gar oft Anträge gemacht, ihnen Straßen durchs Land zu ziehen und Bäder zu er richten, wodurch sie Hunderttausende verdienen könnten. Nein! Heißes Wasser! Bauernlogik: Die Weiber mögen die schmutzige Wäsche drin reinigen! Nur nichts von außen! Denn nicht allein um Selbständigkeit und Freiheit sind diese Schäfer besorgt, auch um ihre Sittenreinheit, über die sie mit wahrem Fanatismus wachen. Als ihnen vor Jahren eine reiche Gesellschaft von draußen den Antrag machte, eine Spielbank in Andorra zu errichten, und dafür Millionen bot, wies der Senat das Ansinnen mit stürmischer Entrüstung zurück. – Unantastbar ist auch die Tugend[165] ihrer Frauen. Jedes Mädchen ein Blümchen Rühr-mich-nichtan. Vergißt sie sich gar mit einem Manne, der nicht der alten Republik angehört, so ist sie verfemt im Lande und kann sich nicht mehr sehen lassen in den heimischen Bergen. –

Nach einem zwölfstündigen Marsch kam ich vier Uhr nachmittags in Altandorra (Andorra la Vieja), der Hauptstadt des Freistaates, an. Die Metropole ist um einige, etwas höhere Gebäude reicher als Prazz, dafür aber minder anmutig. Auf dem Platze befindet sich das Staatsgefängnis – beinahe hätte ich der Staatskäfig gesagt. Denn ungefähr so sieht der niedere Verschlag mit dem eisernen Gitter aus. Er ist übrigens mehr eine Art Warnungszeichen oder Dekorationsstück; denn seit grauen Zeiten, so sagte man mir, saß kein Mensch hinter diesem Gitter.

In der Wirtsstube mit ihrem Lehmboden und dem mit einem dicken, blauen Schäfermantel verhängten Fenster war es erquickend kühl. Ich riß von mir, was nur Sitte und Anstand gestattet, ließ mich am Brunnen in der Ecke über und über anpumpen und warf mich dann auf die Holzbank am langen Tisch. Es ging übrigens recht gemütlich zu in diesem ersten Hotel des Staates. Während der steinalte Wirtpatriarch in Hemdärmeln, die phrygische Mütze auf dem Kopf, Speisen und Wein herbeischleppte, spazierten die Hühner, Speisereste in frechster Weise aufpickend, munter über die »table d'hote« und junge Zicklein machten mir parterre die ausgelassensten Clownsprünge vor. – Das Rathaus (Palais) liegt seitab der Stadt an einem tollkühn abfallenden Felshang, aus dem es wie herausgewachsen erscheint. Es ist ein maurischer Bau aus dem dritten Jahrhundert von verblüffender Originalität. Grau verwittert, zyklopisch gedrungen, primitiv gefugt, nur mit einem kegelförmigen, unbeholfenen Ecktürmchen aus Stein versehen, steht es da in naiver Schönheit. Man kann[166] sich denken, wie die Jahrtausende den Bau gegerbt, gefurcht, gezeichnet, welche Narben und Striemen sie hineingegraben. Er ist von einem malerischen Reiz ohnegleichen. Dazu: das Geringste, jeder Riegel, jeder Nagel daran gewinnt durch das hohe Alter ein fast ehrfurchtsvolles Interesse. – Das Altmonument überragt und krönt das ganze, weite, romantisch zu seinen Füßen liegende Tal, und die Aussicht von hier ist von seltenem Zauber. Das Palais besteht eigentlich nur aus zwei gleichförmigen, gleichgroßen Räumen übereinander. Der untere ist der Stall für Maultiere und Esel der Senatoren, der darüber der Sitzungssaal. Hier hängen an den Wänden feierlich die dreieckigen Hüte und roten Tuchmäntel der Senatoren. – Ich sah und sprach den Präsidenten des Freistaates, der just aus dem Palais trat, da ich es entzückt betrachtete. Aber ich kann nicht sagen, daß mir der Mann gefallen hätte. Seine modische Kleidung paßte gar nicht in den Rahmen. Ebenso hatte sein großartiges Benehmen etwas Stilwidriges. Auch bei der Unterhaltung gewann er nicht. Er begann sofort von seinem Kollegen Felix Faure zu sprechen, den er in Paris besucht habe usw. Ich kehrte zurück nach Hospitalet und in beschleunigtem Tempo ging's heim nach Bayern. Im Allgäu entstand auf einer Station – irre ich nicht, so war's Kaufbeuren – ein ungewöhnliches Gedränge im ganzen Zug. Ich weiß nicht, was da eigentlich los war – vielleicht waren's Leute eines Prozessionszuges – genug, hundert und hundert Menschen, die auf dem Perron gewartet, überschwemmten förmlich die Waggons. Auf die Eisenbahnklasse wurde gar keine Rücksicht genommen: Der große »amerikanische« Wagen, Klasse II, in dem ich fuhr, war einfach gepfercht und in den Gängen, zwischen den Sitzreihen, Mensch an Mensch. Auch bei mir. Hier standen vier blutjunge schwäbische Bauerndirndln und in Feierkleidern schmuck herausgeputzt. Der Zug setzte sich in Bewegung und ich[167] sagte scherzend zu meinem Reisegenossen gegenüber: »Ja, ja! Das ist hier so auf der Strecke christlich gesetzlich, wenn's überfüllt ist, so hat man den Danebenstehenden einfach auf den Schoß zu nehmen.« Die Kleine mir zunächst, ein vierzehn-oder sünszehnjühriges Kind mit blonden Zöpfchen und eingeflochtenen Maschen darin, wahrscheinlich zum erstenmal in einem Eisenbahnwagen, wendet mir ihr hübsches Gesichtchen fragend zu, und, da sie meine ernste Miene sieht und das glattrasierte Gesicht, das so was von einem geistlichen Herrn für sie haben mochte, – wie sollte sie zweifeln? Sie dankt und setzt sich mir ganz gemütlich auf die Kniee. Und so hatte ich armer, alter Junggeselle zwei oder drei Stationen die glückliche Empfindung eines Papas, der ein hübsches Töchterchen sein eigen nennt.

Es blieben mir noch einige Tage bis zur Eröffnung der Spielzeit. Ich beschloß, sie in Aibling zuzubringen, um Leibl, der sich vor Jahren hierher von der Welt zurückgezogen hatte, aufzusuchen. Scheu flüchtete er noch ein paar Meilen seitab in die Vorberge der bayerischen Alpen nach Kutterling. Hier hauste, Sommer und Winter, in einem kleinen Bauernhause, das er für Jahrzehnte gepachtet, der geniale Maler mit seinem unzertrennlichen Freunde, dem Landschafter Sperl. Ich liebte die große Kunst Leibls und nicht minder sein mutiges Herz, mit einer großartigen Handbewegung allen nur entbehrlichen Ballast und Wust des Lebens zur Seite zu schieben und nur sich selbst zu leben und seiner Kunst. – Ich stieg empor auf schmalem Steg zu dem Hause, das man mir als das seine bezeichnete. Ein kleiner, alter Holzbau, braun gebeizt von Sonne und Wetter, ganz freiliegend, umgeben von Obstbäumen. Ich klopfte an und Leibl öffnete selbst; denn er war ganz allein zu Hause. Er war in Hemdärmeln und entschuldigte sich wegen seines Negligés. Er faßte den Überfall freundlich auf, als das, was er war, als eine redliche[168] Huldigung, als eine Wallfahrt zu seinem Genie. Er wies mir mit seinen gewaltigen Händen, die er selber wie Zentnergewichte recht unbeholfen wog, Platz an auf einer Holzbank an einem alten, großen Bauerntisch. Dann sagte er mir im reinsten Kölnisch: ich möge mich nur einen Augenblick gedulden, er müßte was zur Erquickung herbeiholen. Ich war allein und sah mich um: das große, getäfelte Bauernzimmer unverändert, wie es früher gewesen, mit der Hühnersteige am großen Kachelofen, Kruzifix im Erker usw. Nur ein breites, eisernes, ganz modernes Bett stand an der Wand. Das war alles! Mehr brauchte der Mann nicht, um zu hausen; und das Fenster der Bauernstubs noch um eine Scheibe vergrößert, damit mehr Licht einfallen könne. Mehr brauchte der Maler nicht, um seine Meisterwerke zu schaffen. Kann man sich leicht etwas Ergreifenderes denken?! – Ein paar Büchsen hingen in der Ecke. Wenn Leibl fühlte, daß es heute nicht gehen wolle, wenn seine Kunst es forderte, daß er brach liege, nahm er die Flinte von der Wand und durchbirschte die Gegend. Ist das nicht groß?! Heißt das nicht sich ausleben?! – Die Staffelei stand leider leer. Leibl malte gegenwärtig in dem nahen Dörfchen Berbling. Auf einem Arbeitstisch lag eine prächtige Kohlenzeichnung von samtenem Ton, die Leibl mir gegenüber im späteren Gespräch als mißlungen erklärte und zur Seite schob. – Er kam an, die herkulischen Hände und Arme, mit denen er wie oft die rebellischen Bauern in den Wirtshäusern, wenn sie raufen wollten, zu Paaren trieb, förmlich bepackt mit Weinflaschen und Imbiß. Auch eine Decke hatte er mitgebracht, um sie über den Tisch zu breiten. Ich beschwor ihn, sich nicht zu bemühen, und, wenn es ihm genehm, bei dem schönen Wetter lieber mit ins Freie zu treten. Das taten wir denn auch und setzten uns auf die Holzbank vor dem Hause. Die Flasche blieb natürlich nicht zurück. »Ein Landsmann vom Rhein«, sagte Leibl,[169] »auf den ich mir was einbilde«! – Wir saßen und plauderten eine Stunde, die mir unvergeßlich bleiben wird. Leibl sprach viel über die modernste Richtung in der Malerei und kam auf Uhde zu sprechen, dessen großes Können er herzlich rühmte. Als ich mich empfahl, sah er mir freundlich ins Gesicht und sagte: »Zeichnen möchte ich Sie. – Kommen Sie wieder!« Wie gerne wäre ich der Aufforderung gefolgt, hätte uns nicht der Tod den Herrlichen entrissen. –

Ich hatte bei meiner vorjährigen Ferienreise spanischen Boden gestreift und meine Sehnsucht, so alt wie mein Leben, das Wunderland des Don Quichote zu bereisen, war wieder aufs lebhafteste erwacht. Es ging zuerst nach Barzelona. Hier sollte ich etwas sehen, wovon ich soviel, soviel gehört hatte: einen Stierkampf! Und zwar in der Riesenarena der Stadt. Den Consierge des Hotels lud ich zum Mitgehn. Er erschien, am Arm die Gattin, die eine hochbusige Dame war von spanischer Grandezza. Es gab zwei Eintrittspreise: Sonne und Schatten. Die Reichen und Satten überließen, großmütig wie sie sind, die Sonne den Armen und blieben im Schatten. Auch ich mit meinen beiden Gästen zahlte das Doppelte für die Schattenseite. Die Sonnenseite gab einen Anblick von blendendem, betäubendem Reiz, ein jubelndes Sichausleben, frenetisches Aufjauchzen der Farbe! Man stelle sich vor: amphitheatralisch aufsteigend tausend und tausend Menschen, dicht gedrängt. Sonntägliche, buntnationale Tracht! Die Frauen in Blusen von südlicher Farbenglut mit feurigen, schick umgeworfenen Schärpen, bei denen das Gelb dominiert, glitzernden Schmuck im dunkeln Haar und großen, leuchtenden Fächern in Händen. Das alles vom Sonnenlicht übergossen, durchflutet, umschmeichelt – in regster, nervöser Erwartung. – Das Theater beginnt! So etwas wie ein Marquis Posa in einem Kostüm, als wäre es einer Maskenleihanstalt[170] entlehnt und fürchte die Helle des Tages, erscheint, geht in Begleitung von zwei Komplicen, gleichfalls in einem Sammet von seliger Pracht, schräg über den Zirkusraum und verbeugt sich vor einem in der Mitte hoch thronenden, schwarzbefrackten Herrn. Es ist der Vizebürgermeister der Stadt, der feierlich den Schlüssel für den Verschlag der Tieropfer in die Tiefe wirst. Der Schlüssel wird virtuos aufgefangen, – Tusch, Freudengeschrei der Massen und das blutrünstige Vergnügen nimmt seinen Gang! Die Zuschauer werden rasend vor Enthusiasmus – sie atmen Blutgeruch! Sie werfen in ihrem Paroxysmus den Kämpfern zu, was sie nur bei sich haben. Einer auf der Schattenseite weiß sich buchstäblich nicht mehr zu fassen, so daß er, nachdem er bereits alles hingegeben, seinen Rock vom Leibe reißt, um ihn dem Matador zuzuschleudern. Ein Enthusiast ohnegleichen war auch mein Concierge. Als ein schwarzer, kleiner Stier sich geschickt wie virtuos gegen den tödlichen Degenstich in den Nacken wehrte, triumphierte mein Gast stolz: »Seht ihr, seht, das ist ein Landsmann von mir, der schwarze, brave Kerl! Ein Andalusier! Hoch!« Gleich darauf lag der andalusische Landsmann Schaum und Blut vor Maul und Nüster als Kadaver im Sand. – Tragikomisch benahm sich für mich ein dem Tode geweihtes Schimmelchen. Eine klägliche Schindmähre, an deren Rippen man auch ohne Röntgenstrahlen anatomische Studien hätte machen können. Dieser armselige Karrengaul mußte stolzere Zeiten gesehen haben und trug wahrscheinlich einstmals einen kriegerischen Helden auf seinem Rücken. Denn, während die andern Pferde beim Anblick des Stieres scheuten und den drohenden, vorgebeugten Hörnern zu entgehen suchten, setzte sich Rosinante ganz im Gegenteil in einen scharfen Trab, direkt dem Feinde entgegen. Für das Publikum ein Clownstückchen, das große Heiterkeit auslöste. Ohne Zweifel war der klägliche Racker, dessen Karierre beim[171] Pferdemetzger endete, ein ausgedientes Kavalleriepferd, das sich beim Klange der kriegerischen Musik hier alter Zeiten erinnerte. Nicht lange darauf hatte der Stier den kampfbereiten Renner auf den Hörnern und schmiß ihn in die Lüfte! Neun Stiere und siebzehn Pferde wurden getötet. Gräßlich! Aber eine Regierung, die es wagen wollte, diese fürchterlichen Spiele aufzuheben, liefe Gefahr, eine nationale Revolution zu entfesseln: Menschenblut könnte fließen für Tierblut! – Ich sah darauf das herrliche Saragossa mit seinen uralten Bauten in schmalem Gäßchengewirr. – Auf der Fahrt nach Madrid gab es Strecken, wo akute Hungersnot herrscht. Ausgemergelte Menschen: Männer, Frauen, Greise, Kinder liefen unserem Zuge nach und streckten uns bettelnd die Hände entgegen. Man warf ihnen zu, was man bei sich hatte: Münze und Nahrungsreste. – Nach Madrid sah ich Burgos mit seinem Prachtdom – und wandte mich über St. Sebastian zur Rückreise. In Lourdes aber mußte ich Station machen; hier hielt mich eine Mission! Zwei mir gleichwerte Leute vom Theater wünschten sich das alles heilende Lourdeswasser: meine liebe, unvergeßliche Kollegin Bland, die es für ihre kranke Mutter brauchte, und meine geniale Schülerin Jenny Rauch. Die arme Jenny wollte sich ihre schönen, schwarzen, aber leider sehr kurzsichtigen Äuglein damit betupfen. Ich füllte an der heiligen Quelle zwei Fläschchen, zusammen etwa »drei Quarteln«, und fuhr darauf wieder weiter. Im Zuge hole ich meinen kleinen Koffer vor, um die beiden Fläschchen unterzubringen. Ein Reisegenosse aber, der einzige, der sich im Augenblicke mit mir im Kupee befand, wußte sogleich, um was es sich handle und wurde sehr ungnädig. »Mein Herr«, rief er, »Sie scheinen mir ein studierter Mann zu sein, und unterstützen Unfug und Aberglauben; ich bin Anarchist, mich macht so was toll.« »Wenn man«, entgegnete ich, »aber lieben Personen eine[172] Freude bereiten kann!« – »Ach was! Da, wo Sie daheim sind«, ereiferte er sich, »wird's doch Wasserleitungen geben; da halten Sie für Ihre alten Weiber die Bouteillen unter und die Wirkung und Verzückung wird dieselbe sein.« Mit diesen Worten wollte er das Wasser fast gewaltsam aus dem Fenster schütten. »Es sind keine alten Weiber, die es haben sollen«, sagte ich. Er – mit einem ironischen Zucken der Mundwinkeln: »So – wer sonst?« Ich: »Schauspielerinnen!« – Darauf nur ein erstauntes »Ah!« des Rabiaten. Schauspielerinnen? – Lourdeswasser? – Das war ihm neu! Er kannte eben nur die Schauspielerinnen seiner Nation, nicht die deutschen, die nicht selten der höheren Tochter mit der Musikmappe am Arm an Sittsamkeit noch etwas vorgeben. Aber mein Reisegenosse war ein großer Theaternarr, fing an, neugierig zu plaudern, und lobte mich schließlich noch, daß ich die Fläschchen für meine Kolleginnen so weit schleppen wollte. – Zwei oder drei Stationen später verließ der Sanguiniker das Kupee und als milder Gegensatz zum Anarchisten stieg eine Klosterfrau in schwarz und weißer Einkleidung ins Abteil; eine noch junge Deutsche, einem Kloster in den Pyrenäen angehörend, die ihre Eltern in Freiburg im Breisgau zu besuchen hatte. Landsleute in der Fremde, einen halben Tag allein im Kupee – da gibt's was zu schwatzen, zu erzählen. Es war ein schlichtes, gutes, kluges Mädel; wollte zerstreut sein und ich mußte ihr Verse von Goethe, Uhland, Möricke zitieren, die sie sich ganz begeistert in ein Büchlein schrieb. Es war ein heißer Tag, sie wurde müde und schläfrig und – plötzlich fühlte der alte Komödiant ein heiliges Köpfchen an seine Schulter gelehnt. Ein kleines Stündchen rührte ich mich nicht und ließ sie schlafen – und bekam dafür von ihr etwas von dem Klostergebäck, das sie für ihre Eltern im Schwäbischen mitbekommen hatte.[173]

Im Jahre 1898 bereiste ich während der Ferienwochen Skandinavien bis zum Nordkap. Die Bahn brachte mich über Stockholm, Bergen bis Trondhjem. Hier bestieg ich den Dampfer nach dem Nordkap.

Auf der Rückreise war ich so glücklich, in Christiania Ibsen zu sprechen. Er war sehr gütig und ließ es sich nicht nehmen, mich zu bewirten. »Sie werden gewiß als Münchner bayerisches Bier lieben, aber das Pilsner ist hier frischer.« Er ließ beides kommen. Ebenso Rheinwein und Roten usw. Er erkundigte sich lebhaft nach den Theaterverhältnissen Münchens. Ich berichtete eingehend. Der Meister sprach manches über die Schauspielerei und die Technik dieser Kunst. Ich machte die Bemerkung: »Es ist nicht wahr, daß Ibsen, wie vielfach angenommen wird, schwer zu spielen sei, im Gegenteil! Während der Schauspieler andere Dichter zur Natur zwingen muß, zwingen Sie uns zur Natur. Sie legen uns die Worte so zurecht – so in den Mund –, Sie machen es uns leicht!« – »Ja«, lächelte er, »das ist freilich mein Bemühen ... Wenn es mir nur auch immer gelänge ...!« Auf meine Frage, ob er seine bedächtigen, wenig agilen Landsleute, die Norweger, besonders begabt für die Schauspielkunst halte, antwortete er: »Besonders begabt für Ihre Kunst halte ich von den skandinavischen Völkern nur die Dänen.« – Mit bewegtem Herzen schied ich, – und vier Tage nach der Unterredung mit dem Erlauchten spielte ich in München – im »Weißen Rössel«. – Es sei mir gestattet, ein paar Strophen einzuschalten, die mir am Anfang einer Ferienzeit das erlösende Gefühl eingab, dem Kerker der Stadt entspringen zu dürfen:


Lebt wohl, ihr himmlischen Soffitten,

Gemalter Hain, gemalte Flur,

Ihr »praktikabeln« Wälder, Hütten,

Du angestrichene Natur![174]

Du Silbermond aus Stoff und Gaze

Du Leinwandsee,

Ihr Sterne aus Marienglas,

Lebt wohl, ade!


Du Sommertraum aus grauen Flören,

Du wilde Pappendeckelsau,

Kachierte Früchte, Blüten, Beeren,

Du aufgehängte Flur und An,

Du Felsenblock mit Heu gefüllt

Du Flittergold,

Du Donnerblech, das, wenn es gilt,

Vulkanisch grollt.


Ihr erbsenrollenden Orkane,

Du Blitz aus Kolophonium,

Du frisch genähte Siegesfahne,

Elektrisches Elysium,

Du ausgestopfte Vogelwelt,

Papierner Schnee,

Du aufgerolltes Ährenfeld!

Lebt wohl, ich geh!


Mit neuer Kraft dir bald zu leben,

Verlaß ich dich nun, holder Schein;

O Freiheit, Freiheit! Wonnebeben

Durchströmt die Brust, mein ganzes Sein!

Hinaus, hinaus! O Licht und Duft!

O Himmelszelt!

Hinaus, hinaus! O Waldeslust

Und Blütenwelt!
[175]

Hier lasse ich mir nicht soufflieren,

Was mich entflammt, erfreut, durchglüht;

Hier darf ich frei extemporieren,

Wie alles, was da lebt und blüht.

Echt, nicht gemacht, sind fern und nah,

Frucht, Blüten, Baum,

Die Menschen selber echt beinah –

O Ferientraum!


Ich habe während der vielen Jahre in München nur wenig gastiert. An kleinen Bühnen verleidete mir meist ein wenig entgegenkommendes und vor allen Dingen übermüdetes Personal die Sache. (In Passau z.B. antwortete mir ein älterer Schauspieler auf meine Frage, ob er denn bis morgen die große Rolle wird auswendig lernen können? »Das wohl nicht, aber seien Sie ruhig: ich beherrsche immer die Situation.«) Dazu saloppe, ungenügende Proben – macht zusammen einen künstlerischen Katzenjammer, erkauft mit 150–200 Mark. Viel Freude machte es mir dagegen, wiederholt von Max Grube eingeladen zu werden, in Düsseldorf bei den Rheinischen Goethe-Festspielen mitzumachen. Ich hatte dort Glück, zumal als Harpagon, den ich wiederholt gab. Ganz besonders Perfall in der »Kölnischen Zeitung« schrieb so sicher über mich, als wäre er ein Gedankenleser. – Einmal bei einem »Muster gastspiel« in Mainz spielte ich den Malvolio in »Was Ihr wollt«. Von Münchnern wirkten weiter mit: Häusser (Tobias) und die Swoboda (Viola). Es fiel alles gut aus bis auf die – Hotelrechnung unserer Kollegin! Sie war damals nämlich sterblich verliebt – (ich schreibe diese Worte mit ihrer ausdrücklichen Erlaubnis) in den Italiener Fumagalli zur Zeit in München – und lief, so wie sie nur abkommen konnte, – auch bei der Mittagstafel[176] während der verschiedenen Gänge – zum Telephon, um dem Geliebten Grüße zu senden. Nun kam die »Nota«. Die Häussers und die meine waren bescheiden. Aber die der Swoboda! Das Telephonieren war damals noch teuer! Und Besprechungen wie: »Liebst Du mich noch, mein Abgott?« – »Dein übers Grab, mein Augenlicht.« – »Wirst Du mir treu bleiben, Liebling?« – »Kehre zurück in meine Arme, Erlöserin!« – kosteten Geld! Arme Kollegin! Wie übergroß wurden Deine Augen –: statt zwanzig wie wir – Fumagalli, du warst teuer erkauft! –, sechzig Reichsmark!

Lange Zeit wohnte ich in einem kleinen, alten Häuschen der Königinstraße, draußen, wo sie schon mit der Vorstadt Schwabing zusammenfließt. Es lag phantastisch mitten in Gärten, die in Unkraut schossen. Besitzerinnen waren zwei alte Jungfern; die jüngere davon kurzbeinig und kugelrund, einem gedrungenen, feisten Kapuziner frappant ähnlich; die viel ältere dagegen hatte etwas von einem länglichen Jesuiten, was, wenn sie nebeneinander standen, ein fideles Genrebild gab. Die Jesuitin hatte vor Jahren eine Pilgerfahrt nach Jerusalem mitgemacht, was sie jedem mit ihrem ihr zur Natur gewordenen blau-frommen Augenaufschlag als erstes erzählte, weil sie sich dadurch wie geadelt glaubte. Während der Kapuziner das Haus zu versorgen hatte, ging die andere Tag für Tag ihrem Sport nach; darin bestehend, wo es nur in der Umgebung (Ramersdorf, Moosach, Laim usw.) Ablaß gab oder ein »Amt«, eine Prozession, ein Begräbnis, mit Gebetbuch, Rosenkranz, hartgesottenen Eiern im Ridikül, hinzuwallfahrten. Einmal im Jahre fiel es ihr außerdem zu, die Ziege zum Bock zu führen: mit der Rechten das Tier am Strick ziehend, in der Linken das große Liederbuch, so ging es dahin zum gesegneten Werk. Außer den beiden Frauen und der gehörnten Nährmutter besaß das Haus noch als Insassen einen[177] großen, weißen Kater und mich. Der erstere, wenn er nachts die weiten Gärten Schwabings durchlumpt hatte, wartete des Morgens Tag für Tag, bis die in ihn verliebte Wirtschafterin des Hauses in den Stallverschlag zum Melken ging, steckte sodann als erster seinen dicken Kopf in den Milchtopf und soff, bis er satt war; den Rest überließ er dann seinen gottesfürchtigen Herrinnen. Das waren wahrhaft paradiesische Zustände für mich! Nur ein Nachteil machte sich mehr und mehr geltend: für meine Bilder- und Skizzensammlung, die wuchs und wuchs, wurde das kleine Haus zu eng. Im Gang, ja in der Küche mußten Meisterwerke von Zügel, Leibl, Keller, Trübner, Slevogt, Uhde usw. aufgehängt werden. Was tun? Ich entschloß mich kurz und schenkte die Sammlung (annähernd vierhundert Werke, die zumal das Schaffen der Münchner Maler aus der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts charakterisiert), meinen Kollegen für das Schauspieler-Museum. (Zieglerstiftung.) Man hat mich damals wegen meines »humanen Sinnes« ziemlich überschätzt. Denn ich glaube wirklich, daß ich die Schenkung nie gemacht hätte, wenn ich in der Lage gewesen wäre, mir eine große Wohnung zu nehmen, um die Schätze würdig unterzubringen. Die Schenkung hatte übrigens eine verblüffende Wirkung: ich wurde von allen Ecken und Enden angepumpt! Denn, wer Derartiges wegschenkt, reflektierte man, muß nicht nur außerordentlich dumm sein, sondern wahnsinnig reich. Das erstere vermochte ich nicht abzuleugnen, erklärte dagegen wahrheitsgemäß, daß das Geringe, das ich besaß, eben in den Bildern stak. Umsonst! Die drohenden Klingelzeichen an meiner Türe – meinen eigenen Angelegenheiten galten täglich kaum drei bis vier, und der friedliche Klang derselben war mir zu bekannt – nahmen erschrecklich überhand und machten mich schaudern. Als ein Mensch, der ein Herz im Leibe hat, erhebe ich hier darum meine warnende[178] Stimme für Leute, die Schenkungen machen wollen. – Nach Possart wurde Baron von Speidel Generalintendant. Er war Oberst und eine glänzende militärische Laufbahn stand ihm offen; er opferte sie für das Regiment im Theater, das er herzlich liebte. Bei seiner Antrittsrede sagte er: »Da heißt es, sich tüchtig einarbeiten!« Das war ihm gelungen: Er wurde ein ausgezeichneter Bühnenleiter. Leider starb uns der pflichtgetreue und gerechte Mann schon nach sieben Jahren. – Wer wird es sein? Wer wird nach Speidel Intendant? Das war die Frage, die München leidenschaftlich bewegte! Man riet, »zerriß und zerspliß sich mit Sinnen« – und verfiel dabei sogar auf den früheren Ministerpräsidenten Podewils, der ja so famose Schnadahupsln zur Zither sang. Aber ganz so urbajuwarisch fiel die Wahl doch nicht aus! Freilich mußte es damals einer sein, dessen Urahnen vor grauen Jahren auf grauen Burgen gesessen und ein paar Kreuzzüge ins heilige Land mitgemacht hatten – im übrigen wurde der Mann und seine Fähigkeiten erwogen. Man hatte Glück! Ein noch junger Mann – an und für sich ein Vorzug, weil er noch lernen kann – mit hellem Blick, einem Herzen voll Wärme für die Kunst, schaffensfreudig, weitblickend und auch nicht ohne Theatererfahrung, der ausgezeichnete Musiker: Freiherr von und zu Frankenstein wurde Intendant. Die Eigenschaften des klugen Kaufmanns: kühn im Entschluß, und vorsichtig bei der Operation, zeichneten ihn aus. Herzhaft und ringsum belebend griff er ein – aber er hatte einen schweren Stand: bald nach seinem Amtsantritt brach der Krieg aus! Zumal im Schauspiel mußte er wichtige Mitglieder entbehren: der ausgezeichnete Basil, der Naturbursche von Gottes Gnaden, war nicht zu halten und zog freiwillig die feldgraue Uniform an – der wuchtige Prachtrecke Ulmer mit Herz und Kopf voll Impuls, bei dem vielleicht das Bewußtsein überlegener[179] Kraft und Stärke einen so kindlichen, weise lächelnden Humor gebar, und der lachen und dräuen kann wie kaum ein zweiter in Deutschland, schob sein »Unabkömmlich« kurzerhand von sich und zog als Offizier ins Feld. Ebenso Dr. von Jacobi, ein Nachkomme des Weisen, den Goethe Freund nannte; der geistvolle, junge Charakterspieler, von dem die deutsche Bühne einen tiefschürfenden, reinigenden, im besten Sinne modernen Regisseur zu erwarten hatte, stand gleich in der ersten Phase des Krieges an der Front und fiel zu unserm Schmerz. – Der liebenswürdige, alle bezwingende Waldau, die verhätschelte Augenweide von jung und alt, und noch viele von uns kämpften an beiden Fronten: so auch Florath, das rassige, weinfrohe Teufelchen, das Goethes Wort: »Wenn sich der Most auch ganz absurd gebärdet, es gibt zuletzt doch noch 'nen Wein!« glänzend bewährte, denn er reiste im Krieg zum Helden und darnach zu einem ganzen Kerl auf den Brettern. – Selbst unsern Oberregisseur, Dr. Kilian, obgleich ihm das Nationaltheater das »Unabkömmlich« wiederholt dringend angeboten, trieb es, seine Ehrenpflicht als Soldat zu erfüllen und er zog als Hauptmann an die Ostfront. Der Feingebildetete, Feinsinnige hatte das Münchner Repertoire durch seinen sichern Blick für alles, was dramatisch pulsiert, durch sorgfältiges Durchsieben, weise Auswahl von altem und neuem Gold auf eine Höhe gebracht, wie nie zuvor – und fehlte der Leitung gar bald ebenso wie einem Manne der Arbeit der plötzlich gelähmte rechte Arm. – – – Die Revolution kam! Schier wie durch eine Theaterversenkung auf das Klingelzeichen des Inspizienten war die Monarchie verschwunden; mit ihr war natürlich das bisherige Theaterregime wie durch eine Sturzwelle weggeschwemmt. Damit zugleich unser Generalintendant Frankenstein. Es kam als Intermezzo der Künstlerrat mit dem ehrenfesten Franz Jakobi, Fritz [180] Ulmer, dem kameradschaftlich braven, wohlwollend hilfreichen, redegewaltigen und dem geschäftstüchtigen Bauberger und klugem, rührigen, warmherzigen Trautsch in leitenden Stellungen. Der glänzende Schauspieler, der Teuselssapperloter Schwanec ke, forsch und zähe, verschlagen wie eine Katze, und mit einem Geist, so elastisch und gelenk wie es die Glieder eines Equilibristen sind, wurde Intendant. – Aber die Sache währte nicht lange: Die bayerische Regierung holte sich bald von auswärts einen »Fachmann«! ... Es war einmal ein Mann, der so wenig Künstlerblut in sich hatte, als ein Frosch heißes dieses »besondern Saftes« ... Es war einmal ein kleiner, bequemer Bureaukrat, der – im Gegensatz zu den geistig Reichen, die geborene Verschwender sind – darauf angewiesen war, mit seiner bescheidenen Neige schlau zu wirtschaften. Zufolge dieser routinierten Schläue begriff der von der Regierung zum General-Intendanten der Bayerischen Staatstheater gewählte Mann Dr. Carl Zeiß, man müsse Klügere für sich arbeiten lassen und ihre Leistungen mit Anstand auf den eigenen »Ehrenscheitel häufen«. Vorher in Dresden und Frankfurt, gelang Zeiß der Trick: er fand seine Leute! In München griff er unglücklich in den Lostopf und war schnell bankrott. Da war in Hamburg ein Theater, das Schillers Räuber in Straßenkleidern von heute gab. Ein Karl mit Monokel, ein Franz, Zigaretten rauchend, in Bügelhosen. Das Herz des Münchner Bühnenleiters schlug begeistert. Zwar den Übermenschen selbst mit der genialen Ehrfurchtlosigkeit vor dem Kunstwerk, den er am liebsten gehabt hätte, konnte er nicht bekommen, aber wenigstens den andern Regisseur des Theaters, das solchen Mut des Skandals aufgebracht hatte: er ließ den erlösenden Engel kommen! Hamlet war das Debüt! Bügelhosen waren leider allbereits von Hamburg vorweggenommen. – Schnell was anderes ausspekuliert![181] Bagatelle! Man stilisiert – das sieht immer nach was aus! Ein Beispiel: Lessing rühmt in seiner Dramaturgie wie Shakespeare den Geist in Hamlet (im Gegensatz zu den Gespenstern Voltaires, denen man am hellichten Tag auf ihre Schleppe treten könne), ganz im Sinne der Ammenmärchenphantasie erscheinen läßt: Mitternacht! Das Gespenst, »verdammt, auf eine Zeit lang nachts zu wandeln«, schreitet langsam über die schneebedeckte Schloßterrasse. – Veraltet! Das Hamburger Genie läßt nicht herumspazieren, es erscheint nichts als im grünblauen Blitzlicht der Kopf des Gespenstes – genau wie bei einer spiritistischen Sitzung. Und so weiter ... Kurz, mit dem verschriebenen Meister aus dem Norden war's nichts. Mir fällt ein Schnadahüpfl ein, das ich gelegentlich auf Zeiß machte, und das sein Wirken – wie ich glaube – nicht übel charakterisiert:


»Am Kopf hat der Zeiß

fast gar koane Haarl,

Nur oans is no kahler:

Sei Repertoirl!«


Bei alldem war Zeiß nicht ohne Gutmütigkeit, Wohlwollen und kameradschaftlichen Geist, und als ihn ein Schlaganfall im Jahre 1924 wegraffte, wurde er von vielen aufrichtig betrauert. – Nach dem Tode von Zeiß lag die Verwaltung in den Händen des Oberregierungsrats Heydel, dem die Gabe des Organisierens förmlich im Blute lag. Er hatte nun freie Hand und nützte sie mit unermüdlichem Fleiß. Er liebte die Kunst und war hilfreich, wo er es nur vermochte. Die Tradition jedoch sollte gewahrt bleiben: Die Regierung wollte wie ehedem einen Intendanten und rief Frankenstein zurück. Und so hatten wir denn wieder einen Künstler an der Spitze! ...

Von den Kriegsjahren und der Zeit, die ihnen folgte, und was ich da alles miterlebt habe, davon hier zu sprechen, halte[182] ich nicht am Platz. Gegenwart ist Tageslicht und auch allzu große Helle kann machen, daß man nicht sieht. So gewaltige Katastrophen und ihre Folgen und Konsequenzen lassen sich erst aus der Perspektive beurteilen: Es muß viel, viel Zeit darüber hinweggegangen sein, soll man sie begreifen mit all den so abscheulichen Blasen, die aus ihnen aufsteigen, wie aus den Tiefen des Urschlammes. Nur ein paar flüchtige Momentaufnahmen aus der Episode der Räterepublik als Illustration jener Zeit: In meinem Quartier Bogenhausen wurde unnötig so viel kreuz und quer geknallt, daß mir einmal, da ich in meiner Wohnung, an einem rückwärtigen Fenster, stand, von der Wiese am Hause zugerufen wurde: »D' Nas'n weg, g'schoss'n wird!« Ich hatte just noch Zeit, zur Seite zu springen. – Knapp nach der Rätezeit hatte ein Offizier mit seinem militärischen Begleiter auch bei mir nach Waffen zu forschen. Da sich außer zwei verrosteten gotischen Spießen und einer Streitaxt aus der Zeit der Agilolfinger in meinem lammfrommen Heim Blutwerkzeuge nicht befanden, so hatte ich natürlich keine Bedenken, dem Mann die Tür zu öffnen. Anders dachte meine junge, kleine Haushälterin! Sie legte die Diebskette vor, und als der Leutnant Einlaß begehrte, inquirierte sie scharf durch die Türspalte und wünschte, er möchte sich vorerst legitimieren. Der junge, schmucke Held, geziert mit dem Eisernen Kreuz I. Klasse, sah die strenge Miene des lieblichen, zarten Mignon-Köpfchens nicht ohne Wohlgefallen und meinte lächelnd: »Nun, Kind, Sie sehen doch, wer ich bin!« – »O mei,« meinte die Kleine, »heutzutag' darf ma sein eignen Hemad net trau'n!«

Ich bin am Schlusse! – Denn von ganz Gegenwärtigem hatte ich nur wenig zu erzählen, und auch diese engeren Erlebnisse konnte ich, weil sie mich noch umgeben, nicht unbefangen schildern. Erinnerung verklärt, weil sie vergißt; lichtet durch[183] Wege und Stege der Phantasie eine Wildnis zum Park. Die Gegenwart dagegen sehn wir mit viel zu heißem Herzen, als daß wir ihr Gerechtigkeit, Wohlwollen und ritterliches Verstehen entgegenbringen könnten. Das letzte Wort Hamlets, das ja am Ende aller Selbstschilderungen gesetzt werden muß, komme auch mir zu Hilfe:

»Der Rest ist Schweigen.«[184]

Quelle:
Wohlmuth, Alois: Ein Schauspielerleben. Ungeschminkte Selbstschilderungen von Alois Wohlmuth. München 1928, S. 153-185.
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