II.

[24] Als Sohn eines Geschäftsfreundes der Fabrikherren stand mir ein gut möbliertes Zimmer im Hauptgebäude zur Verfügung. Doch zog ich ein Stübchen, nicht größer als eine Badekabine, in einem von Handwerkern bewohnten Rückgebäude vor, um souverän zu sein. Aus Scherrs illustrierter Literaturgeschichte riß ich alle großen Dichter und Denker und tapezierte damit die Wände meiner Zelle. Mein Chef mochte mich ganz gut leiden, obgleich unsere Anschauungen einem Wegweiser glichen, nach zwei entgegengesetzten Richtungen zeigend: ich vermochte unserm Düngerhaufen keinen besonderen Reiz abzugewinnen, in den er[24] wie gerührt seine Nase zu stecken pflegte, um zu hauchen: »die reinste Schokolade!« – er wiederum begriff nicht recht, wozu ich ein mit Besen und Schaufeln gefülltes Magazin, dessen Beschließer ich war, des Abends zu einer Bühne umgestaltete? Wozu ich weiters seinen Schlosser, Chemiker, Zuckermeister dramatisch bilden wollte, indem ich sie einlud, auf improvisierten Sitzen Platz zu nehmen und meinen Monologen aus »Faust« oder »Egmont«, die ich hoch oben auf einem Kalkfasse schmetterte, zu lauschen? Als er mich aber gar dabei ertappte, wie ich den slawischen Arbeitern am Felde draußen beim »Ein prismen« der Runkelrüben den Hamlet interpretierte – löste sich von den Lippen des Hirsch Kuffner die klassische Wahrheit: »Total meschugge!« – Trotz meiner jungen Jahre war ich nicht blind für die sozialen Zustände dieses großen industriellen Unternehmens; und ihr furchtbarer Ernst übte einen so starken Eindruck auf mein Gemüt, daß er nachhaltend blieb für mein ganzes Leben. Zur Winterzeit, während der »campagne«, wurde Tag und Nacht gearbeitet und beide Schichten währten, kurze Eßpausen eingerechnet, volle zwölf Stunden. Die Räume der Fabrik machten in ihrer Nacktheit den Eindruck, als ob sie nicht für Menschen, sondern für arbeitende Tiere errichtet wären. Wie in Dantes Hölle wurden die Verdammten sowohl durch Hitze als durch Kälte gemartert. In der »Spodium-Dörre«, wo gehackte Knochen, zur Filtrierung des Zuckerrübensaftes bestimmt, beständig umgeschaufelt werden müssen, herrschte ein Gluthauch, der jeden töten mußte, der ihm Jahre ausgesetzt war. Im sogenannten »Preßraum« wieder war es so kalt, daß der menschliche Atem gefror. Hier arbeiteten ausnahmslos junge Mädchen. Mit hochgeschürzten Röcken und nackten Armen mußten diese armen Kinder aus einem großen Reservoir den eisigen Zuckerrübenbrei in schweren Eisenkübeln über einen naßkalten, asphaltierten Boden barfüßig zu den Pressen[25] schleppen. Zwölf Stunden! Und der Lohn? Zweiundzwanzig bis fünfundzwanzig »Neukreuzer« (etwa 60 Pfennig), und wehe, wenn »liederlich« gearbeitet wurde! Dann gab es »Strafen« in Form von Abzügen, die die armen Menschenknospen – Opfer der Königin Industrie – mit Herzklopfen fürchteten und mit »Unglück« bezeichneten. Mehr als Fleiß schützte sie vor diesem die Bereitwilligkeit für den »Herrn Aufseher«, dem schiesschultrigen, grimmen Geßler der Fabrik. Alle, Mann und Frau, mußten sich, bevor sie die Fabrik verließen, am Hoftor vom »Portier« untersuchen lassen, ob sie nicht vielleicht die Kostbarkeit einer gefrorenen Rübe gedrückt. Schön ist es ja nicht, wenn man seine Arbeiter wie Diebe und Verbrecher behandeln läßt; aber die beiden Dioskuren Hirsch und Ignatz waren eben gar nicht – meschugge und ließen es geschehen. Hatten auch nichts gegen den Humor ihres rohen Burschen am Hoftor, wenn er junge Müdchen – gewissenhafter abgriff als alte Slowaken. Um übrigens der Zuckerrübe baldmöglichst zu entkommen, war ich ihr eifrigster Jünger, und so bekam ich schon nach 6 Monaten (im April 1864) ein glänzendes Zeugnis –, neben meinem K. K. Militärschwimmzeugnis das beste, welches ich überhaupt aufzuweisen habe – gezeichnet Hirsch und Ignatz nebst großem Siegel. Im adeligen Wappen – denn die beiden waren bereits damals für ihre Verdienste um die Industrie Österreichs in den Adelsstand erhoben – prangte, statt der Zuckerrübe, eine heraldische Bestie.

Das Jahr 1884, das Deutschland zwei Provinzen einbrachte, schenkte auch mich der deutschen Bühne. Von diesen beiden Ereignissen hätte allerdings schon das erste genügt, um dieses Jahr denkwürdig zu machen. Merkwürdig! Nicht nach Wien, so nahegelegen, nach Berlin zog es mich. Und zwar ohne jede Überlegung! Mein Empfinden sagte mir: Du gehörst als deutscher Komödiant in die Zentrale Deutschlands. Ende April ging's,[26] arm am Beutel, auf die Wanderschaft; Lessings Hamburger Dramaturgie und ein paar Bände Shakespeare im Ränzel. Ach, armer dramatischer Handwerksbursch! Du hattest keine Ahnung von dem dornenvollen, abschüssigen Weg, so reich an Fallen und Fangeisen! Sorglos saßest du in der Ecke des Kupees und träumtest dich hinüber in Lorbeerhaine, wo schöne, dicke Rollen an vergoldeten Zweigen hingen, und Beifall wie Sphärenmusik rauschte. Mitten in der Nacht wurde ich aus meinem schönen Wahnsinn gerissen durch eine Donnerstimme: »Pässe vorzeigen!« Auf dem Trittbrett des Waggons stehend und zur offenen Kupeetür emporragend, hielt mir ein martialischer Unteroffizier das Bajonett schier unter die Nase. Denn wir waren in Bodenbach, der österreichisch-sächsischen Grenzstation. Der Paß war ausgestellt: »im Namen Seiner K. K. Apostolischen Majestät, Kaisers von Österreich, Königs von Böhmen und Ungarn«. Und so weiter eine halbe Seite lang; auch die Lombardei und Venedig standen noch darauf. – Ich kam in Berlin früh morgens an. Die Stadt zählte damals nicht mehr als 600000 Einwohner, und ihr stolzestes Etablissement war die bescheidene Konditorei »Kranzler« an der Ecke der Linden. Ihr galt mein erster Besuch. Am Abend ging ich ins »Königliche«. Dessoir spielte den Othello. Sein Organ hatte bereits einen Sprung; vieles in seinem Spiel war präpariert und abgekartet – aber groß war die innere Wucht, die ins Herz griff und Ruck um Ruck gab. Wenn er auf Cypern »seine holde Kriegerin« begrüßte, so fühlte man, wie in seinem Innern glühende Lavamassen wogten und fluteten. Ich brachte die erste Nacht in Berlin auf Cypern zu. Damals vermochte man noch von einem Alt-Berlin zu sprechen, wie es Glasbrenner so gemütvoll schildert. Jede Atmosphäre erzeugt ihre Geschöpfe und formt und prägt sie zu eigenartigen Typen. Zwei solche Alt-Berliner Figuren waren meine[27] Wirtsleute. Er, der alte Königliche Subalternbeamte, besaß die traditionelle Intelligenz preußischer Staatsdiener. Sein innerer und äußerer Mensch zeugten von seinem Wahlspruch: »Ordnung muß sind!« Madame gehörte zu den Frauen, die sich noch im Alter etwas Jugendliches, Mädchenhaftes bewahren. Wenn sie lächelte, lustwandelte jener undefinierbare Charme in ihrem Antlitz, der zu den Reservatrechten des weiblichen Geschlechtes gehört. Ihr dürres Figürchen trippelte kaum hörbar durchs Zimmer; die knöchernen Hände waren trotz aller Arbeit gepflegt. Die Kleidung ebenso bescheiden als peinlich sauber. Sparen war ihr Beruf, ihre Kunst, was ich jedoch nicht zu fühlen bekam. Denn als meine paar österreichischen Papiergulden bei Kranzler und anderen Konditoreien vernascht waren, steckte sie mir fortwährend etwas zu: »ein Butterbrötchen, bitte« – »ein Täßchen Bouillon, gerne gegönnt« usw. Die obskuren Theateragenturen, die ich unablässig aufsuchte, wollten von dem »länglichen Wunderknaben« aus dem Lande der »Ratzefallen und Drahtbinder« nichts wissen; bis sich endlich das Vermittlungsbüro Held meiner annahm. »Zu was für schnöden Bestimmungen wir kommen können«, reflektiert Hamlet. Held, der im Jahre 1848 als Führer der Berliner Revolution Herrscherstühle stürzen und Kronen und Szepter zerbrechen wollte, half nun ambulanten Bühnentyrannen Throne erbauen, auf die er Kaiser und Fürsten der Schminke setzte, gehüllt in Hermelin von Katzenfell. Er bot mir Kontrakt nach Tangerhütte, einer kleinen Ortschaft in der Mark Brandenburg. Aber so wie jetzt in den großen Warenhäusern, hieß es bei ihm: Nur gegen bar: kostet einen Taler. Ach, wenn außer Tangerhütte auch noch die ewige Seligkeit dafür zu erlangen gewesen wäre – ich hätte beide müssen verrosten lassen. Schwertraurig kehrte ich heim und jammerte meiner guten Wirtin vor von meinem verlorenen Paradies in der Uckermark.[28] Darauf beschwichtigte ich meinen Schmerz, wie das im Leben ja so oft geschieht, dadurch, daß ich andere malträtierte: nämlich Shakespeare, Schiller und Goethe. Ein Klopfen an der Türe unterbrach mein Geschrei. Meine Wirtin trat mit einem ältlichen Herrn ein. Er war klein, schmächtig und etwas verwachsen. Seine Kleidung schien mir sehr gewählt, sein Benehmen hatte etwas Gemessenes, Altfränkisches. »Ich habe als Ihr Nachbar«, sagte er, »oft Ihren Monologen an der Türe gelauscht; Sie haben sicherlich Talent. Nun höre ich von Ihrer Frau Wirtin, daß Ihnen das Reisegeld ins Engagement mangle. Wollen Sie einem alten Junggesellen, der die Kunst liebt, erlauben, Ihnen für die ersten Schritte auf den weltbedeutenden Brettern diesen bescheidenen Betrag anzubieten?« Zwölf Taler lagen auf dem Tisch! Ich wollte Dankesworte stammeln ... »Lassen Sie nur, es ist ja nur vorgestreckt«, sagte er mit jenem anmutigen Lächeln, das bezwingt, gleichviel, ob es sich bei jungen Mädchen oder alten Knaben zeigt, und entfernte sich schnell. Meine Freude war schwindelnd! Ich umarmte meine Wohltäterin so jubelnd, daß ich die arme Knöcherne schier zerbrach. Stehenden Fußes eilte ich zu Held, um mir meinen Caruso-Kontrakt (11 Taler im Monat) zu holen, und tags darauf nahm das Verderben seinen Lauf – gen Tangerhütte.

Quelle:
Wohlmuth, Alois: Ein Schauspielerleben. Ungeschminkte Selbstschilderungen von Alois Wohlmuth. München 1928, S. 24-29.
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