VI.

[98] Immerhin hatte ich noch Glück: ich erhielt einen Antrag nach Straßburg. – Ich stand vor dem Dom und staunte empor und konnte nicht müde werden, zu schauen, und wie ich die Augen halb schloß, um inniger zu genießen, da regte sich unversehens die starre Rhythmik der Ornamentenfülle; und wie sie leise zerfloß und verzweigend anschwoll in Wucht und Größe, und wie sie sich wieder grüßend fand, um sich in Grazie zu umarmen – da schien mir, dem gänzlich Unmusikalischen, faßlich zu werden, was Musik ist, sein sollte. – Herr Heßler, der Direktor des neuerbauten Stadttheaters – das alte soll das erste Gebäude der Stadt gewesen sein, welches von den Geschützen des Kriegsjahres 1870 zerstört worden war –, empfing mich mit gezwungenem Lächeln. Von seiner vorgesetzten Behörde erhielt er den[98] preußisch-strammen Wink: Leistungen als Schauspieler nischt: Spielen is nich! Er mußte also einen anderen Charakterspieler kommen lassen. Leicht wurde es ihm nicht, sein Kunst-Harakiri. »Den Franz Moor gestatten Sie mir wohl noch als letzte Rolle zu spielen«, sagte er mit Verbissenheit, »geben Sie den Spiegelberg, er ist frei«. Die Räubervorstellung kam. Ich trete als der hochstaplerische Maulheld auf und poltere meine Worte: »Der Teufel hole die Pfaffen!« Was ist das? Brausender Beifall! Ich stehe verblüfft und muß eine Pause eintreten lassen, bis der Lärm ein Ende genommen. Und der Grund? Der Kulturkampf stand damals im Zenith und die Neu-Straßburger, in echt Bismarckscher Wolle gefärbt, machten ihrem Herzen Luft. – Gleich noch ein politisches Stückchen aus dem Theater! In der Oper »Templer und Jüdin« spielte ich den alten Juden Isaak und war Zeuge einer anderen patriotischen Demonstration. Der mitwirkende Baritonist Reichmann, der später so berühmt werden sollte, wurde an die Rampe geschickt, um für die Stelle »Du stolzes England freue dich, dein König groß und ritterlich« zu singen: »Du stolzes Deutschland freue dich, dein Kaiser stolz und ritterlich«. Diese Geschmacklosigkeit fand bald darauf Revanche: bei einer »Tell«-Aufführung demonstrierte Alt- gegen Neu-Straßburg bei allen Stellen, wo der Dichter von der Fremdherrschaft spricht. Solche Gegensätze zu mildern, die Gemüter zu besänftigen, war Heßler der Mann nicht. Er war unbeliebt und wurde wie alle Streber, die durch die Umwälzung des Krieges emporgekommen waren und Hautgout besaßen, »Reichskalifornier« genannt. Gerne mimte er den Herrenmenschen: auf dem Platze vor dem Theater rief er nicht selten laut, daß man es hören konnte: »Seine Majestät der Deutsche Kaiser hat mich auf diesen Posten gestellt: was Bismarck in der Politik, Moltke mit dem Schwert, das bin ich in der Kunst.« Mich[99] schikanierte dieser Übermensch, dem, ach!, noch so viel bis zum Menschen fehlte, wo es nur möglich war, z.B. im »Urbild des Tartüffe« von Gutzkow, in welchem Stück ich die Tartüffegestalt des Präsidenten gab, sprang Heßler, dem der abgesetzte Charakterspieler noch im Herzen brannte, nach dem ersten Akt auf die Bühne und schrie: »Sie sehen aus wie ein verkohltes Zündhölzchen, legen Sie sich sogleich einen Bauch auf!« – »Bester Direktor«, protestierte ich, »der nächste Akt spielt nur einen Tag später, dem Mann kann doch nicht über Nacht ein Bauch gewachsen sein«. Um indes nicht durch Zank aus der Stimmung gerissen zu werden, entschloß ich mich zu einem Kompromiß und legte mir da, wo nach seinem Ausspruch »ein Loch klaffte«, ein paar Handtücher auf. In der Nähe eines solchen Zornkraters war es auf die Lange nicht auszuhalten, und so entschloß ich mich schweren Herzens, Straßburg zu verlassen und nahm für den nächsten Winter Engagement in Danzig an.

Direktor des Stadttheaters war Georg Lang, der in seinem ganzen Wesen etwas von der rundlichen Behaglichkeit und Anmut seines Vaters, des berühmten Münchner Komikers, besaß. Auch seine Frau, die schöne Soubrette Rattey, ehedem in Berlin, besonders als »Milchmädchen von Schöneberg« gehätschelt und verwöhnt, hatte etwas von der »Molligkeit« ihres Gatten und war mit ihrem pikanten, naseweisen Lächeln, wie man in Wien sagt – zum Anbeißen. Da ich Glück beim Publikum hatte, erhöhte Lang – dieser weiße Rabe – aus freien Stücken meine Gage und gab mir zudem ein Benefize, das ich nicht im Kontrakt hatte. Ich wählte für den Abend »Kabale und Liebe« und spielte den Wurm. Nachdem ich als hagerer Sekretär Luisen aus verhaltener Leidenschaft und Geschmack an der Intrigue den ränkevollen Brief diktiert hatte und zärtlich an sie mit den Worten herantrat: »Verzage Sie nicht, liebe Jungfer,[100] ich habe herzlich Mitleiden mit Ihr, wahrlich herzlich Mitleiden –« lösten sich von den Lippen eines Zuschauers auf der letzten Galerie – (welcher Schauspieler könnte sich ein idealeres Publikum wünschen?!) laut die Worte: »Jawoll, jawoll, du, du!« Genau als wollte er sagen: Schuft, wer glaubt dir das?! Ich blickte unwillkürlich auf, und noch heute sehe ich den jungen Burschen, wie er, die Ellenbogen auf die Brüstung gestützt, den Kopf in die Hände gebettet, die Worte hervorstieß. Er hatte sich so der Sache hingegeben, daß er keine Ahnung besaß, er spräche laut mit. – Es gehörte meine ganze Unklarheit im Denken dazu, den Antrag, im nächsten Winter mit gesteigerter Gage bei Lang zu bleiben, abzulehnen, um nach – Lübeck zu gehen. Nach Schluß der Danziger Saison zog ich zum Sommeraufenthalt nach dem nicht fernen Oliva, einer an waldige Hügel sich lehnenden Ortschaft, nahe dem Strande der Ostsee. Mit den letzten Ausläufern des Danziger Stadtgebietes endet das deutsche Element; die ganze Bevölkerung ringsum ist polnisch. Armes Landproletariat, ausgemergelte Gestalten mit müde hängendem Kopf, die die Blechflasche mit kaltem »Kaffee« gefüllt, morgens ausziehen und oft Stunden und Meilen laufen, um für sechzig, achtzig Pfennig Taglohn vierzehn, auch sechzehn Stunden zu arbeiten. Sie wohnten in langgestreckten, sich dachsartig zur Erde duckenden, rissigen Lehmbaracken, die zum »Gute« gehörten. Den Besitzern waren sie in gewissem Sinne hörig. Denn sie waren verpflichtet, weil sie die Wohnlöcher angeblich billig hatten, dem Herrn zur Zeit der Ernte Feldarbeiten zu leisten. Die »Besitzer« aber waren meist nur kleine, verschuldete Emporkömmlinge mit einem angeheirateten, unzulänglichen Vermögen. Einen Bauernstand gab es nicht. Wenn die armen polnischen Teufel auch für den geringsten Lohn keine Arbeit bekamen, was nicht selten vorkam, so betrieben sie, gleichsam offiziös, den Holzdiebstahl –[101] und mußten sie dafür ins »Kittchen« (ins Loch), dann geschah es mit einer Gewohnheitsmiene wie bei geschäftlichen Dingen. Und so gab's auch kaum ein Haus, an dem nicht eine zerbrochene Fensterscheibe mit Vorladungszetteln zu Gerichtsterminen geflickt gewesen wäre. Noch ein Kuriosum sei hier notiert. Von den Herren im Amt sowie von allen, die deutsch sprachen, sagten die ausschließlich katholischen Polen: »Er spricht lutherisch.« Und die verhaßten Maigesetze des damaligen Kulturkampfes nannten sie: »den Mai glauben«.

In Lübeck angekommen, war ich sehr betrübt, eine Gesellschaft zu finden, so salopp zusammengesucht, daß sie künstlerisch schon im Entstehen den Keim des Todes in sich trug. Auch finanziell standen wir von Woche zu Woche knapp am Abgrund. – Ein Lichtblick während dieser traurigen Saison war mir Emanuel Geibels Wohlwollen, der mich oft zu sich lud. Seiner politischen Gesinnung nach monarchisch-absolutistisch (was, wie er mir oft erklärte, »das einzig Gesunde« sei), war er in seinem Wesen und Äußeren ganz das Gegenteil eines Aristokraten. Sah man ihn mit seinen grauen Flatterlocken, einen schwarzen Schlapphut auf dem Kopf, in ärgster Kälte ohne Handschuhe durch Lübecks Straßen stürmen, so hätte man ihn eher für einen demokratischen Anhänger des Königsberger Johann Jakobi gehalten, als für einen für Wilhelm I. in die Leier greifenden Poeten. Im April starb Herwegh in Baden-Baden und mir kam ein, eine Geldsammlung zu veranstalten, um in irgendeiner Form dem Andenken des großen, politischen Lyrikers eine Ehrung zu bereiten. Ich bat Geibel, seinen Namen an die Spitze der Liste zu setzen. Obgleich nun Herwegh seinen Bruder in Olymp arg gezaust hatte –


(»Emanuel von Geibel, ach!

Wie lang Dich nähren soll er?[102]

Bezahlt hat dich der Wittelsbach,

Und du besingst den Zoll–er.«),


so tat es Geibel gerne. »Unserm Trompeter!« sagte er mit leuchtenden Augen, »das versteht sich!«

Nach Schluß der Saison reiste ich mit meiner Frau nach München zu kurzem Aufenthalt. Ich war viel bei Gabriel Max. Er malte damals seine gedanken-und farbentiefsten Bilder. Zwei sehr entgegengesetzt klingende Dinge verdarben leider später die große Kunst dieser wahrhaft fürstlichen Natur: der Spiritismus, in den Max sich förmlich eingesponnen hatte, und der Materialismus in Gestalt von Kunsthändlern. Wührend diese, die »Konjunktur« benützend, den Maler der Mode zur Zuvielmalerei verleiteten, lockte ihn das spiritistische Irrlicht auf Seiten- und Sumpfwege. Ich mußte bei »Sitzungen« auch mitmachen und z.B. Tische, die da durch bloßes Händeauflegen in Galopp gerieten – ein betrogener Betrüger – derart springen machen, daß mir der Schweiß von der Stirne troff; in welcher Attitüde mich Max auch einmal auf ein ihm zunächst liegendes Blättchen Papier in 30–40 Sekunden infam-genial karikierte. Bei Max lernte ich Makart kennen, der mich einlud, ihn in Wien zu besuchen. Das sollte bald geschehen, da mich ein gar lieber Anlaß nach der österreichischen Hauptstadt führte: die Verheiratung meiner Schwester Sofie mit Eduard Hanslick. Piloty gab mir eine Empfehlung an Dingelstedt, dem damaligen Direktor des Burgtheaters, mit, der, als er in München war, fleißiger Gast im Atelier des berühmten Malers gewesen. Sie hatte gar keine besondere Absicht, sollte mich nur mit dem großen Manne bekannt machen. Ich gedachte, den Brief ohne Umstände zu überreichen, anspruchslos, wie er mir von einem Künstler mitgegeben wurde. Irrte mich aber erheblich! Dingelstedt saß auf einer Erhöhung, so etwa wie ein ungarischer[103] Stuhlrichter, und bot mir mit kühler Handbewegung ein Armensünderstühlchen unter sich an. Übung vermag viel: das alte Gesicht mit den müden Augenlidern, den spärlichen grauen Bartkotelettesäden hatte – »es war erreicht!« – wirklich etwas von der Decadence eines verlebten Aristokraten. Auch sein Benehmen war wenigstens an jenem Tage – er wechselte nämlich – ganz »du nennst mich Herr Baron, so ist die Sache gut«. Ein blasierter Seitenblick auf den Wurm in der Tiefe, und er schien alles zu wissen. Ein kurzes: »Nun?« – »Direktor Piloty war so gütig, Ihnen zu schreiben –.« – »Sehr schön, habe gelesen, mein Herr, aber wir haben keine Vakanz.« – »Darum, Herr Baron, hat es sich ja kaum gehandelt, aber –.« »Aber Sie wünschen mich kennen zu lernen. Könnte geschehen, – bin nur augenblicklich sehr beschäftigt – vielleicht ein andermal –.« – Damit war ich mit samt Piloty hinausgeworfen.

Makart war kürzlich aus Kairo zurückgekommen und gruppierte in loser, gefälliger Weise die heimgebrachten Skizzen und Naturstudien in seinen großen, märchenhaft-schönen Atelierräumen, für die ihm Kaiser Franz Joseph vor einigen Jahren, nahe dem Ringgürtel der Stadt, Grund und Boden geschenkt hatte. Alles, was da in Wien kunstverständig war oder dafür gelten wollte, gab sich in dieser in Farbe schwelgenden Werkstatt des großen Koloristen ein Rendezvous. Die Spitzen der Stadt, die der Kunst und des Adels reichten einander die Tür. Die Majorität bildete die Frauenwelt; die wunderschöne, blonde Gräfin Kathinka, Gemahlin des zigeunerbraunen Ministerpräsidenten Andrassy, die Fürstinnen Esterhazy oder Metternich, und wer nennt sie – in Zauberhüllen, geboren von dem leidenschaftlichen Willen, dem noch freien Herrn des Hauses die Sinne wirbelnd zu machen, kamen und gingen. Makarts Kunst brauchte diesen Rausch; in Purpur geboren, war ihr Paolo Veronesesche[104] Pracht und Glut, Element, Atem, Nahrung. Und doch – da bestand ein Widerspruch –: wer hätte sich in diesem Trubel, verbunden mit blinder Abgötterei, sammeln, verpuppen sollen zu einem Insichgehen, zu stiller Arbeit, ohne die auf die Dauer selbst das Genie nicht bestehen kann. Makarts Kunst erstarb in diesem Wirbel. Der Meister gab einen Begrüßungsabend. Perser Teppiche und goldig leuchtende Gobelins deckten die Tische; man speiste auf Meißener, Alt-Wiener oder chinesischem Porzellan, mit Renaissance- oder Rokoko-Bestecken aus Silber und Gold, trank aus phantastisch geschliffenen, venezianischen Kristallgläsern und füllte sie aus getriebenen Krügen und Humpen aus der Blütezeit der Augsburger Silberschmiedekunst. Ein jeder Tisch anders und alle zu einem Kunstwerk zusammengestimmt. Mir aber, dem kleinen Komödianten, der noch vor einigen Wochen in Lübeck in dem bescheidenen Gäßchen Marderloch gehaust, kam es zu, der – um mich einmal ganz gewählt auszudrücken – Creme der Wiener Gesellschaft eine Deklamation zu geben nach Art meiner Münchener Vorträge. Ich hatte Glück, kam in die Zeitungen und wurde aufgefordert, zu einem wohltätigen Zweck den Vortrag öffentlich zu halten. Ludwig Speidel, der die Wiener Kritik meisterte und in Händen hielt, stark und sicher wie ein Wagenlenker der Ilias die Zügel, war zugegen und lobte mich. Aus der langen Kritik, die auch manches auszusetzen hatte, will ich mir erlauben, die ersten drei Worte, die mich stets stolz gemacht, zu zitieren. Sie lauteten: »Ein geborener Schauspieler – –«. Ich lernte den großen Schwaben in späteren Jahren persönlich kennen. Auf gedrungenem, massigem Bau saß ein unverhältnismäßig großer, grauer Lockenkopf. Trotz des wenig schönen, stark geröteten Gesichtes, der knapp anliegenden, goldenen Brille hatte das Haupt etwas mächtig Gebietendes. Speidel hatte die sonderbare Gewohnheit, zugleich mit dem gespreizten[105] Zeige- und Mittelfinger seiner Rechten häufig ein und dieselbe Stelle am Haaransatz der gewölbten Stirne zu reiben, wodurch zwei sich scharf abhebende, hellweiße Streifen im Haar entstanden, den beiden leuchtenden Strahlen gleichend, welche die Kunst in ähnlicher Form Moses aufs Haupt setzt; so daß Speidels pompöser Schüdel mit dem des großen Gesetzgebers erstaunliche Ähnlichkeit besaß. Ihn sprechen zu hören war Labsal durch Inhalt und Form: Die Stimme hatte einen vollen, warmen Klang, und selten öffnete er den Mund, ohne daß eine scharfsinnige, geistvolle Bemerkung über die Lippen gekommen wäre.

Nicht selten kommt es vor, daß die Frauen, die sich der Bühne widmen, auf dem Wege zu diesem Beruf ihren eigensten entdecken: sie heiraten. Meine Schwester Sofie, die wir schon in meinen Dramen aus der Kinderstube als Sängerin kennen gelernt, wollte sich in Wien der Oper widmen. Sie lernte Hanslick kennen, und er nahm sie zur Frau. Die rührende Novelle, wie dies geschah, hat der Meister in seinem monumentalen Werke »Aus meinem Leben« geschildert; lassen wir ihn selbst plaudern:

»An einem Frühlingsnachmittage trat, von ihrer Schwester begleitet, eine junge Sängerin bei mir ein, mit dem Ersuchen, sie anzuhören. Eine Schülerin der Marchesi, sollte sie demnächst in der öffentlichen Prüfungsproduktion des Konservatoriums auftreten. Ich akkompagnierte ihr die Romanze der Mignon aus der Oper von Ambroise Thomas. Mit ineinander gefalteten Händen, das dunkellockige Haupt etwas zurückgelehnt und die blauen Augen gen Himmel gerichtet, sang sie »Kennst du das Land?« Ihre Stimme klang so warm, der Vortrag so tief empfunden, zugleich so dramatisch, daß ich, davon sympathisch berührt, ihrem Talente eine schöne Entwicklung prophezeite.[106] Gerne folgte ich ihrer Einladung, sie im Kreise ihrer Familie aufzusuchen. Da habe ich denn häufig mit ihr musiziert, insbesondere einige Rollen wie Agathe, Mignon, Margarethe, Amneris ihr am Klavier begleitet. Nicht nur ihr Talent, ihr ganzes Wesen interessierte mich, das, bescheiden, schweigsam, schüchtern, nur im Gesang einen ungeahnten Aufschwung nahm. In der Opernproduktion, welche die öffentliche Schlußfeier des Konservatoriums bildete, sang und spielte sie (im Kostüm und mit Orchesterbegleitung) die Kerkerszene aus Gounods »Faust« mit hinreißender Wärme und Wahrheit. Der erste Preis im dramatischen Gesang wurde ihr einstimmig zuerkannt. Der Ruf von diesem neuaufgetauchten, vielversprechenden Talent verbreitete sich bald. Dr. August Förster, im Begriffe, die Direktion des Leipziger Stadttheaters zu übernehmen, kam in Begleitung seines Kapellmeisters Josef Sucher zu der jungen Sängerin, hörte sie singen und engagierte sie. Der bereits unterzeichnete Kontrakt ist trotzdem nie in Kraft getreten und daran war kein anderer Schuld als ich. Sofie Wohlmuth, so hieß das Mädchen, wurde meine Frau.« – Hanslick, damals just fünfzig, war nicht groß, von behaglicher Fülle, sehr lebhaft und beweglich. Sein seines Gesicht, mit den Brauen wie Vogelnester, den großen Augen voll Herzensgüte, besaß Ernst, Schärfe und Anmut zugleich. Hanslick war der richtige Österreicher, der gerne genoß; aber sein Genießen war kein gedankenloses Schwelgen: es lag Einsicht, Begreifen des Lebens darin, des »Es lebe das Leben«. Wer das Bild Rossinis in seinen älteren Jahren gesehen, kann sich auch eine Vorstellung von Hanslick machen: beide ein klein wenig eitel auf ihr hübsches – mit Erlaubnis der Alldeutschen – Exterieur, beide göttlich runde Epikuräer. Mir ist der edle Mann bis zu seinem Tode Freund und Bruder gewesen und hat gar viele meiner Dummheiten durch seine Güte, seinen Rat und seinen Einfluß[107] wieder gutgemacht. – Nach der Hochzeit reiste ich wieder nach München. – Tirol hatte eine große Überschwemmung heimgesucht, und mit Entsetzen las man von den Verwüstungen im Ziller- und Tauferertal. Defregger hing mir eine Ledertasche, mit Banknoten gefüllt, um und sandte mich als seinen grand-aumônier in seine geliebte Heimat. Unter außerordentlichen Beschwerden durchwanderte ich am ersten Tag das verwüstete Zillertal, da und dort die zerrissensten Existenzen mit kleineren oder größeren Banknoten notdürftig flickend. Nicht selten mußte ich, um weiter zu kommen, über nasse Steinblöcke klettern, die diese Sintflut von den Höhen mit der Wucht kämpfender Titanen ins Tal geschleudert. Sie schlugen oft, so wurde mir erzählt, mit solcher Vehemenz aneinander, daß die Nacht für Augenblicke hell erleuchtet war, und die entsetzten Bewohner zwischen Wasserfluten vor Feuergefahr zitterten. Da wo Bergriesen das Zillertal schließen, übernachtete ich in einem hochliegenden Stall mit meinem Führer, einem Wirte aus »Zillergrund«, dem ein anstürmender Wellenschlag in einer Minute Hab und Gut und seine Lieben weggeschwemmt hatte. Ich lag auf Streu, zog frierend meinen Überzieher enger an mich und sah durch geborstenes Mauerwerk ins Freie. Trat der Mond aus den Wolken, so tauchte für Minuten gespenstig die ganze grauenhafte Pracht der Verwüstung vor mir auf. In meinem unruhigen Halbschlummer hörte ich die Seufzer des Wirtes. Wie unsere Erzväter, wenn sie von ihrem Besitze reden. Weib, Vieh und Kind in einem Atem nennen, so lamentierte auch der Naturmensch an meiner Seite: »Oh, mei' Mutterl, mei' Küh, mei' Weib, mein' Schaf', mei Bua.« Träume haben viel von der Verworrenheit des Stimmens der Instrumente vor Beginn eines Musikstückes. Hier, aufgereizt von allem, was ich tagsüber gesehen, waren sie alpartig und zerrissen! Ich sah aus[108] Gletschern Wasserströme stürzen, die zu Seen mit wilden Wellen wuchsen und Ortschaften wegschwemmten – plötzlich weckte mich eine Sturmglocke ... aber sie hing friedlich am Halse der einzigen Kuh, die dem Wirte geblieben war und sich vielleicht soeben eine Fliege vom Halse gescheucht hatte. Vor fünf Uhr schon sprang ich von meinem Lager auf und machte am Ufer der Ziller Toilette. Dann überstieg ich mit meinem Schlafkameraden das zehntausend Fuß hohe Hörnlejoch und gelangte ins Tauferertal, wo ich weitere »Vergelt's Gott in Himmel auf« für den Spender in München einkassierte. – Für den Winter nahm ich wieder Engagement in Danzig bei Lang. Im Sommer spielte ich dann einige Wochen auf Helgoland in einem kleinen, artigen Holztheater. U.a. gab ich die Titelrolle des Trauerspiels »Roger Dumenoir«, das keinen Geringeren zum Verfasser hatte als den englischen Gouverneur der Insel. Das Stück begann recht anheimelnd: es zeigte den Helden Dumenoir auf dem Friedhof, eine Grube schaufelnd, in die der Gemütsmensch seine zu einem Stelldichein zitierte Geliebte werfen wollte, nachdem er ihr zuvor mit einer mitgebrachten Hacke den Garaus gemacht. Der Dichter-Gouverneur war im übrigen ein charmanter Herr, der für die Deutschen viele Sympathien zeigte: er hatte die deutsche Schauspielerin Rudloff geheiratet und subventionierte aus persönlichen Mitteln das Deutsche Theater auf der Insel. Nitr verlieh er für meine bluttriefende Leistung eine Art Ordensauszeichnung, die er autorisiert war, zu vergeben; aber – schnöder Undank! – ich glaube, sie blieb auf der Insel liegen. – Für den Herbst nahm ich Engagement in Magdeburg an. Da ich mir aber die Gagenreduktion, zu der Direktor Sch. behauptete, sich gezwungen zu sehen, für meine Person nicht gefallen lassen wollte, so war ich nach acht Wochen mit Magdeburg fertig. – Ich weiß nicht, wie es mir plötzlich einkam, ich könnte[109] meine Erlebnisse bei den kleinen Truppen in Dörfern und Märkten in einem heiteren Büchlein schildern! Leipzig nicht fern – auf, nach der berühmten Bücherstadt! In einem engbrüstigen Zimmerchen, wie das des »armen Poeten« von Kotzebue, schmierte ich mit Eifer, bis ein kleiner Band beisammen war, den ich »Streifzüge eines deutschen Komödianten« nannte. Joh. Ambr. Barth nahm das Buch in Verlag und ließ ein größeres Kapitel daraus in der »Gartenlaube« abdrucken. Keil, der Besitzer des damals so berühmten Blattes, klopfte mir wohlwollend die Backen und zahlte mir ein phantastisches Honorar. Auf diese Weise kam ich mit Literaten Leipzigs in Berührung; auch Wilhelm Liebknecht lernte ich kennen. Wenigen dürfte es bekannt sein, was für einen stolzen Stammbaum der rote Mann nachzuweisen imstande gewesen wäre: von mütterlicher Seite vermochte er ihn geradlinig Blatt für Blatt bis Luther hinauf zu belegen. Freilich befanden sich unter seinen Ahnen keine Raubritter, sondern bloß Ritter vom Heiligen Geist: Gelehrte, Magister, Universitätslehrer. Der rechtschaffene, biedere Alte mochte mich gut leiden und wurde nicht müde, an Abenden in seinem Hause »Bet' und arbeit'« von Herwegh oder »Trotz alledem« von Freiligrath von mir zu hören. Das war so recht Wasser auf seine Mühle. Zur »Taufe« seines Sohnes war auch ich geladen. Sie bestand in einer bescheidenen Schmauserei, bei der der geniale Drechslermeister Bebel eine frische, gar nicht gedrechselte Rede hielt. Ich rezitierte zum Nachtisch u.a. »Die Disputation« von Heinrich Heine. Nachdem ich geendet, meinte Bebel: »So was sollte heute einer schreiben; sofort säß' er im Loch.« Übrigens saß er ein paar Monate später wirklich im Loch, wo ich ihm eine Anstandsvisite abstattete. –

Es war Frühling geworden, die »Streifzüge« waren gedruckt. Mit dem Honorar, das Barth zahlte, entschloß ich[110] mich, einen Ort im Schweizer Jura aufzusuchen. Ich wählte das alte französische Städtchen St. Ursanne. In steilen Bergen, wie verschollen, hat sich die kleine Stadt ihr mittelalterliches Gepräge so unberührt erhalten, daß man glauben möchte, sie wäre ein halbes Jahrtausend in tiefem Schlafe gelegen. Auch die Reste einer Raubritterresidenz auf kecker Höhe fehlen nicht. Morsche Mauern verbinden sie mit dem Haupttor des Städtchens. Dieses Tor! Ein Witz, eine Kaprice, ein närrischer Einfall aus Stein und Holz: unten breit und großspurig – sodann turmartig, schlank und schmächtig –, dann mit eins statt der Spitze eine breite Kopfbedeckung: Geßlers Hut auf der Stange! Die Straße, welche die Stadt ausmacht, zwängt sich zwischen steilen Felswänden und einem kecken Bug des reißenden Doubs. Hat man sie in fünf Minuten im Schlenderschritt durchmessen, so erblickt man den steilen historischen Felsen, in welchem der Gründer des Städtchens, der fromme Ire Ursanne, der zugleich mit St. Gallus durch diese Täler zog, um in die Hütten das junge, keusche Christentum zu tragen, mit einem Bären in einer Grotte gehaust hat. Die bei den unzertrennlichen Kameraden, Ursanne und sein Bär, gaben dem Orte Namen und Wappen. Einzelne burgartige Bauten Ursannes zeugen, daß sich der Ort im Mittelalter anschickte, unter den Städten des Jura eine Rolle zu spielen. Heute stehen sie recht großprotzig da in dem winzigen Städtchen, und als wollten sie sich mit ihren originellen Physiognomien lustig machen über ihre gute Herrin und riefen ihr unaufhörlich zu: ei potztausend, was machen wir denn in einem so kleinen, verschlafenen Nest?! Auf jedes Dutzend Bürger kommt in Ursanne ein Wirtshaus; denn die Stadt besitzt deren mehr als der Passionsweg Stationen – und ein jedes ladet, winkt und animiert durch ein altes Schild aus Blech und Schmiedeeisen; das ergibt eine fidele Menagerie in den Lüften[111] aus Schlangen, Löwen, Ochsen, Bären und allerlei Federvieh. Und überall, wohin das Auge fällt, erblickt es gemeißelt, geschnitzt, gemalt das Wappen der Stadt: den aufrecht stehenden Bären mit dem Bischofsstab im Bärenarm. Steht man auf dem steinernen Bogen, der den Doubs überbrückt, so sieht man – ein intim-reizvoller Blick wie der hinter die Kulissen – die ganze Rückseite des verwitterten Städtchens; und Gärten, Wiegen, Bienenkörbe, Spinnrüdchen, Ziegen am Strick usw. spiegeln und schaukeln sich, versinkend und wieder auftauchend in den springenden Fluten des wilden Gewässers. Natürlich fehlt der Brücke ihr heiliger Nepomuk nicht. Auch ein schöner Brunnen schmückt die Stadt, der aus vier aufgerissenen, phantastischen Fratzenmäulern Wasser erbricht. Sein schönster Schmuck ist eine schlanke Säule, auf der der heilige Ursanne mit seinem Bären steht. Der steinerne Heilige faltet die Hände und betet für die lebendigen Sünder aus Fleisch und Bein. Der gerechte Stolz der Stadt aber ist der romanische Dom, mitten in ihrem Herzen; er ist aus grauen Steinen gefugt, rein und unangetastet im Stil, liegt erhöht wie auf einem Postament und taucht stolz-bescheiden auf aus ihn umgrenzenden Linden. Kein Mensch aber überschritt zu jener Zeit das schöne Portal der Kirche, sie blieb gemieden an Wochen- und Sonntagen. Es scheint, daß der damalige »Kulturkampf« in Deutschland ansteckend wirkte: auch aus Bern kamen Gesetze, die die Katholiken des Jura, sonst friedfertig wie »Fridolin, der treue Knecht«, zu Revolutionären aufwirbelten. Sie mieden die alten Gotteshäuser und errichteten sich Kirchen in Speichern und Ställen. Was nur ein jeder »Schönes« im Hause hatte, wurde herbeigeschleppt, um die Scheunen zu schmücken. Was dadurch zustande kam, geschmackvoll war es nicht; aber dennoch: Einfalt und Blumen in Fülle machten den Raum zu einem Tempel, rührend und[112] weihevoll. Und im ganzen Jura, soweit ich ihn durchstreifte, dasselbe Bild: Gras vor der alten Kirchentüre und Priester an den geschmückten Altären der Holzverschläge. – Auf breiter Landstraße, die sich wie ein Doppelgänger an den Lauf des Flusses hält, erreicht man in einem Stündchen die französische Grenze; fast täglich überschritt ich sie und lief nicht selten nach dem Städtchen St. Hipotyle, wo ich in einer Konditorei mit dem närrischen Schild »Au bon Diable« Erfrischungen nahm. – Aber ach! just hier in der lieblichen Idylle Ursannes habe ich die grausamste Handlung meines Lebens begangen: das Herz, das mir in Treue zugetan war – eine rechte Metzgerarbeit – gewaltsam von mir abgelöst.

Im Herbst war ich in Berlin und spielte als Gast an einem »Henne-Theater«. Am Tage meines ersten Auftretens wurde mir eine Karte ins Zimmer gebracht, auf der zu lesen war: »Der allbekannte Liebling der Musen.« Zwar schauderte dem Staubgeborenen vor dem Anblick des Olympiers, doch ließ ich ihn eintreten. Der Göttliche trug »Jägerwäsche« und einen alten Bekannten des Pfandhauses: einen Winterrock, fadenscheinig und mit ausgeweiteten Seitentaschen. Der Musengeküßte war unrasiert, ungewaschen und salopp in der Haltung; eine verkrachte Existenz auf den ersten Blick. Er tat sofort vertraulich und intim und sagte mit pfiffigem Lächeln, in das sich aber versöhnlich ein Zug von Gutmütigkeit mischte: »Verlassen Sie sich auf mir, junger Mann, ich mach's!« Und seine großen Hände demonstrierend, ergänzte der alte Bettler-Claquer: »Betrachten Sie jefälligst die Pfoten; die jenügen, die Bejeisterung jehörig zu erhöhen und haben schon manche Karriere gemacht.« – Dann spielte ich Molièresche Rollen an der »Belle-Alliance-Bühne« und auch bei Emil Klaar am»Residenztheater«.

In den Kunsthandlungen Berlins war damals eine neue[113] Reproduktion des Bildes von Menzel »Christus als Knabe zwischen den Schriftgelehrten« ausgestellt. Der rücksichtslose Naturalismus der Darstellung in dem Werke, der da sagte: schaut, so wird die Sache gewesen sein – packte mich mächtig. Echter, und man gestatte mir den Ausdruck »koscherer«, sind in der Kunst die Juden nie (selbst nicht von Shakespeare, dessen Shylock bis in die Fingerspitzen mauschelt), gezeichnet worden. Ich beschloß den Aufstieg zu dem großen Meister in den fünften Stock. Er malte an dem entzückenden Bilde, wie bei einer Prozession im Salzburgischen der Träger einer heiligen Fahne dieselbe durch das nicht hohe, schmiedeeiserne Rokokotor vermöge einer genial-kecken Niederbiegung der Stange zu schieben versteht. Menzel nahm mich gar freundlich auf und erkundigte sich lebhaft nach den augenblicklichen Arbeiten seiner Münchener Kollegen. Wohlwollend sprach er von Grützner, dem schalkschen Eindringling in Klosterkellereien und Psychologen der Mönchsräusche. Auch von dem Farbendichter Makart in Wien mußte ich ihm erzählen. Von der Farbenschönheit des letzteren sprach er mit heller Bewunderung, in die sich, wie mir schien, fast ein Schimmer von Sehnsucht mischte: »Ich wollt', ich könnt' auch das.« Ich entsinne mich einer den Beurteiler wie den Beurteilten charakterisierenden Bemerkung Menzels über Makarts Bild »Karl V. Einzug in Antwerpen«: »– Ein anderer hätte vielleicht bedacht, daß in dem nördlichen Klima die fast nackten Schönen um den Kaiser frieren müßten oder geglaubt, bei einem oder dem andern der vielen Zuschauer auf dem Bilde durch die nackten Reize der Holden sinnliche Erregungen andeuten zu müssen – keine Spur davon bei Makart; das Genie, unangekränkelt von alledem, kümmerte sich um nichts als um seine Farbe.« – Gerne besuchte ich damals die Hörsäle der Universität. Einmal erlebte ich dort einen interessanten Nachmittag: [114] von Treitschke betrat vor »ausverkauftem Haus« das Katheder. Er gab sich ganz feudal: Zylinder, Glacéhandschuhe – nur leider die abgetretenen Stiefelabsätze verrieten den Herrn Professor. Trotz eines Zungenfehlers sprach er sehr geläufig. Er las preußische Geschichte, bekränzte Gekrönte und prophezeite den Demokraten mit vor Glück leuchtender Miene wieder die Prügelbank. »Preußen den König nehmen«, sagte er u.a., »und dafür eine Volksherrschaft geben, hieße so viel wie einem Menschen sein gesundes Bein abnehmen, um es durch ein hölzernes zu ersetzen.« Nachdem Treitschke zu Ende war, hörte ich, wie einer der anwesenden hohen Offiziere die Bemerkung machte: »Eine größere Verherrlichung des Königtums kann man sich nicht denken.« Anders empfand ein anderer Zuhörer: der anarchistische Abgeordnete Most; er tauchte am Schluß des Vortrags aus einem Winkel auf und schrie: »Hier wird öffentlich Korruption gepredigt!« Glücklicherweise verschwand er bald darauf, sonst hätte es Skandal gegeben. – Der Saal war noch nicht ganz leer, als bereits Hörer des berühmten radikalen Eugen Düring indenselben eindrangen. Ein Antipode trat dem andern auf die Hacken. Der blinde Gelehrte, ein gänzlich fleischloses, mit Haut überkleidetes Skelett, wurde von Frau und Sohn seines altgedienten Pelzes entledigt und zum Katheder geleitet. Der zusammengedrückte Körper des Fünfzigers zuckte nervös; sein faltenreiches Antlitz, auf dem kein kräftiger Bartwuchs gedeihen wollte, hatte mit dem fast zahnlosen Munde etwas von einer alten, keifenden Jungfer; ja mit dem vorhängenden Fangzahn ähnelte es der Phorkyas im zweiten »Faust«. Den Oberkörper über den Tisch gebeugt, die knöchernen Finger krampfhaft geballt, die in unmodernen Stiefeln steckenden Füße einwärts gekrümmt, brach er mit dem Augenblick, da er auf dem Stuhl niedergelassen war, mit seinem Vortrage[115] los, wie wenn eine Schleuse plötzlich geöffnet wird. Seine Rede glich einer daherbrausenden Windsbraut: sie fegte und fegte ohne Rast und Rücksicht. Grinste er dabei ab und zu ironisch, so sah es aus, als zerbisse und zerfleische er seine eigenen Worte. Die Rapidität zornigen Spottes, der Enthusiasmus des Ingrimms gaben ein Brillantfeuerwerk menschlichen Verstandes ohnegleichen! Treitschke und Düring hintereinander! Ob ihre Ideen nicht nachträglich noch wie die Geister der Gefallenen nach der Hunnenschlacht zu erbittertem Kampfe gegeneinanderstürmten?! –

»Wollen Sie nach Amerika gehen?« wurde ich im April des Jahres 1880 in einer der Berliner Theateragenturen gefragt, die in Seitenstraßen der »Linden« so üppig wuchern wie Pilze nach einem Juliregen. Da ich bejahte, sagte der Agent: »Die Direktorin des Deutschen Thaliatheaters in New York, Frau Cotrelli, ist im Büro nebenan, gedulden Sie sich einen Augenblick; Sie können ihre Bekanntschaft machen.« Nach wenigen Minuten öffnete sich die Türe und die neue Neuberin Amerikas, eine volle Blondine, einen Hundert-Dollar-Hut auf dem hübschen Kopf, trat ein. Ich erhob mich, mich vorzustellen – aber siehe da, die stattliche Dame kommt auf mich zu, streckt mir die Hand entgegen und sagt lustig: »Na, wie ist's, Alisi, gehen Sie mit?« Einen Augenblick stehe ich frappiert, jauchze aber sogleich laut auf und küsse der Meisterin freudig die Hände: meine neue Herrin war keine andere als das lustige kleine Mädel aus Stendal, die »Lenore« ohne Studium und Probe. Jetzt freilich als die berühmte erste Soubrette der Neuen Welt machte sie andere Honoraransprüche als ein Glas Grog. Die geschäftlichen Angelegenheiten waren bald »gesixt« und mit einem herzlichen »Auf Wiedersehen drüben« empfahl ich mich von meiner freundlichen Gebieterin.[116]

Ende August bestieg ich in Bremerhaven den Dampfer »Habsburg«, der mich in elf Tagen nach New York brachte. Die Stadt besaß neben dem geräumigen Thaliatheater noch ein kleines deutsches Schauspielhaus, das »Germaniatheater«. Die ganze deutsche Presse verhätschelte die kleine Bühne und schlug auf unsere Köpfe los. Voran in der sehr gelesenen »Sozialistischen Volkszeitung« die Frau des Chefredakteurs und früheren russischen Nihilisten von Schewitsch. Die grausame Kritikerin, eine geborene von Dönniges, die Ehemänner ablegte wie verbrauchte Handschuhe, und vordem allbereits Frau von Rakowitza, Frau Friedmann geheißen, war keine andere als die berühmte Geliebte Lassalles, um die er im Duell fiel. In ihrem pikanten Büchlein »Meine Beziehungen zu Ferdinand Lassalle« erzählte sie, wie sie dem genialen Volksmann in Schäferstunden manch mal zugerufen: »Couche, couche! Etwas ähnliches mußten sich auch alle Mitglieder des Thaliatheaters von ihr gefallen lassen. Durch die Verneinung der Presse wurde die Situation für unser Theater bedenklich, bis anfangs Dezember die Cotrelli ihren Haupttrumpf ausspielte: ein Gastspiel der Geistinger. Diese treffliche Künstlerin war der richtige Star für New York: prachtvolle Erscheinung, glänzende Kostüme und große Wandlungsfähigkeit, die dem Amerikaner gleichbedeutend mit Genialität ist. Heute »Die schöne Helena« oder »Die Gerolstein« – morgen die »Königin Elisabeth« im »Grafen Essex« usw. Nach der Geistinger gaben wir fleißig Anzengruber und Schiller. Im »Wilhelm Tell« spielte ich den Attinghausen. Einmal, während der langen Pause zwischen den beiden Szenen des alten Patriarchen, setzte ich mich auf eine Rasenbank im Hintergrunde der Bühne. Schneider und Friseur waren just dabei, Statisten für ihren Beruf amerikanisch zurechtzurichten. Es war lustig anzuschauen! Das neunzehnte Jahrhundert zog[117] man ihnen gar nicht vom Leibe: Der Mensch, wie er von der Straße aufgelesen war, wurde unten in ein Paar leinwandene Ritterstiefel und oben in einen Waffenrock aus einer Maskenverleihanstalt gesteckt, auf dem die übergebliebenen Knöpfe ein rechtes Einsiedlerleben führten. Darauf klebte der Friseur dem Objekt als Bart ein Stück Wolle ins Gesicht, die aber häufig mit der Farbe seines Haupthaares wenig korrespondierte. Dann ließ er seine Mannen noch reihenweise, vermöge einer dicken Stange Kugellackschminke, unter seiner Faust erröten. »Gestatten Sie mir eine Frage«, redete ich einen dieser ewigen Schweiger an, dessen Gesicht Intelligenz verriet, »was sind Sie außer Ihrem heutigen Beruf?« – »Seit Monaten bin ich nichts als Statist am Thaliatheater. Vor einem Jahre freilich war ich noch sächsischer Offizier. Mein Name ist Freiherr von ... Eine Spielschuld, die mein Exzellenzpapa nicht zu zahlen geneigt war, zwang mich, die Heimat zu verlassen und nach Amerika zu gehen; ich habe Aussicht, in die amerikanische Armee einzutreten.« Ich bedankte mich für die Offenheit des jungen Herrn und stellte an einen etwas älteren, ebenso grausam zubereiteten, die gleiche Frage. »Ich war preußischer Polizeileutnant in Berlin. Im Jahre 1876, bei der Reichstagswahl, stimmte ich mit den 35 Schutzleuten meines Reviers für den Sozialisten Fritzsche und die Sache kam auf.« – »Und wie?« – »Durch unsere Schläue: die von den Sozialisten mit dem Namen Fritzsche bedruckten Wahlzettel, welche vor der Türe des Lokals zur Verteilung gelangten, wiesen wir vorsichtig zurück und schrieben den Volkstribun mit Tinte auf einen Papierstreifen. Die Wahlkommission zählte beim Skrutinium 36 Tintenstimmen für Fritzsche, addierte zu 35 Schutzleuten einen Polizeileutnant, was 36 Staatsbeamte – weniger ergab. Ich aber drückte mich schleunig über den Ozean.« – »Ich bin«,[118] begann darauf aus eigenem Antrieb ein sehr junger Mensch, dem unter der Bartwolle des Friseurs der erste Flaum sprießte, »ein Wiener; in ein Chormädel vom Theater an der Wien hab' ich mich vernarrt. Mein Vater, ein Wachszieher vom Alsergrund, war fuchtig; so hab' ich Geld, wo ich's nur hab' kriegen können, z'sammpackt und 's Mädel dazu und bin durch. Zuerst, versteht sich, nach Italien; dann haben wir uns in Genua nach Brasilien 'nüberschiffen lassen, von da haben wir einen Rutscher nach Mexiko g'macht, wo wir für teures Geld g'schwitzt haben wie im Dampfbad. Dann – warum weiß ich selber nicht – nach Havanna! Einmal, wir waren erst ein paar Tag' da, wie ich vom Wiener Café zurück ins Hotel komm', sind' ich 's Zimmer leer, 's Vogerl ausg'flogen. Damit mir der Abschied von ihr noch schwerer wird, hat mir 's Engerl auch alles Geld mitg'nommen, was noch da war. Wer weiß, was für einen spanischen Sklavenhalter der Fratz zu seinem Sklaven g'macht hat. Mit dem Letzten in meinem Brieftaschel bin ich her und muß mich als Statist in die Affenjacken da stecken lassen, für fünfundzwanzig Cents den Abend.« – »Nun«, bemerkte ich, »Sie haben doch die Welt gesehen, die Tropen.« – »Geh'n S'«, war die Antwort, »in Wien ein Golasch beim Küfuß und ein Seidel Pilsner sind mir lieber wie die ganzen Tropen.« – Der Inspizient kam: »Bitte, auf Ihren Platz: die Sterbeszene!« In zehn Minuten war ich tot und abgeschminkt!

Im »Booth-Theater« gab Sarah Bernhardt ein längeres Gastspiel. Wie es uns doch sofort gefangen nimmt, beglückt, erlöst, wenn einer auf der Bühne aus sich selbst schafft! Bei den ersten Worten, die ich von der Bernhardt hörte, kam es über mich: ja, das ist Geist von ihrem Geiste. Ich sah sie in »Rome vaincu« in einer tragischen Rolle, die sie mit innerer Wucht gab. Ein Griff der gekrampften Hand nach den Eingeweiden,[119] als wollte sie selbstmörderisch in ihnen wühlen, war eine kühne, instinktive Eingebung, groß, weil wahr und psychologisch. In »Le Passant« war sie als junger Troubadour biegsam wie ein Birkenstämmchen und schmuck wie ein Goldfasan. Besonders in diesem Stücke bewunderte ich auch ihre ungewöhnliche Sprechtechnik. Worte und Sätze sprudelten leicht und sicher; es erinnerte an eine Fontäne, die aus Röhren und Röhrchen Wasserstrahlen sprüht und Bälle wirst und wieder fängt. Ich machte die persönliche Bekanntschaft der genialen Frau. Eine ihrer fleißigsten Redensarten war: »Ma maigreur est ma spécialité.« Und wirklich, in diesem Gesicht hatte der Geist, ähnlich wie bei Voltaire, das Fleisch fast völlig aufgezehrt. Eigentlich blieb nicht gar viel darin übrig als das dominierende, große, wundervoll schöne, stahlblaue Auge. Die Bernhardt modellierte auch ganz hübsch, und während ich ihr auf ihren Wunsch ganze Strecken aus Molière vorspielte und vorlas, knetete und knetete sie und machte aus mir einen rechten Satyrkopf. – Im »Wallack-Theater« sah ich Shakespeares »Wie es Euch gefällt«. III. Akt: Der Morgen graut, Nebel, die auf dem stillen Birkenhain liegen, verflüchten, Vögel in den Zweigen jubilieren ihr Morgenlied, ein Wanderer, der unter dem gastlichen Dache eines Baumes ruht, reibt sich den Schlaf aus den Augen und zieht fürbaß! Die Sonne hat völlig gesiegt, die letzten Schleier weggedrückt und spiegelt sich in dem klaren Bach, der rauschend das Gehölz durchzieht und dessen munteres Geplätscher – denn es ist wirkliches Wasser, was wir sehen – den ganzen Akt das heitere Geplauder Rosalindens melodramatisch begleitet. Dazu ein recht mittelmäßiges Spiel – und man wird mir zugestehen, daß ich mit Meiningen recht hatte! Denn da haben wir Meiningen (das schlechte englische Theater) vor Meiningen! – Kein ausgesprochener Engagementsantrag, aber[120] ein deutlicher Wink kam aus Wien vom Burgtheater. Man habe mich für den ausgezeichneten Charakterdarsteller Klein, der diese Bühne verlasse, ins Auge gefaßt. Da hieß es, sich flink auf den Weg machen; und so sah ich mich genötigt, das interessante Buch Amerika nach dem ersten Kapitel zuzuklappen. Einen erhabenen Abschiedsgruß noch wollte ich mitnehmen: die Niagarafälle. Dann bestieg ich zur Rückkehr nach Europa, Mitte April, den Dampfer »Wieland«. Am zehnten Tage nahten wir uns Plymouth, wo das Schiff einen Tag zu halten hatte. Es wurde in den phantastisch zerklüfteten Kriegshafen durch eine förmliche Wildnis von Kreideklippen bugsiert. Ich faßte den Entschluß, den Dampfer zu verlassen, um mir ein Stück Alt-England zu besehen. Nach dem genialen Wahnsinn in den Straßen New Yorks hatte die Stille in den engen Gäßchen der schönen alten Stadt etwas Beruhigendes, schier Biedermeier-Behagliches. Im Stadttheater sah ich von einer deutschen Truppe eine Operette – und hätte davon beinahe nachträglich die Seekrankheit, von der ich auf dem Schiffe verschont geblieben, bekommen. Oben krähten ein paar ausgediente Schneppinen mit einer Stimme, die die Farbe verloren wie bunte Wäsche in heißer Lauge; am Dirigentenpult schlug ein langhaariges Genie in einem Frack, so speckglänzend wie der eines Wiener Vorstadtkellners, mit meterlangen Armen wütend um sich. Aber den »Gründlingen im Parterre«, worunter sich englische Seeoffiziere befanden, gefiel die Sache ausgezeichnet, denn sie trampelten als Zeichen des Beifalls fast den Fußboden durch. Tags darauf beschloß ich, die Hauptstadt Englands aufzusuchen, und nahm mein Billett nach – Stratford, der Geburtsstadt Shakespeares. Ich stieg nahe seinem Geburtshaus, bei Shakespeare selbst ab, so stolz nannte sich mein Hotel. Ich darf mich rühmen, zu den wenigen zu zählen, die nicht an[121] die Wand einer Erinnerungsstätte den Namen gekritzelt. – Schnell ging es darauf über London und Brüssel nach Wien. Die Kaiserstadt trug Galaschmuck: es war das Hochzeitsfest des Kronprinzen Rudolf!

Quelle:
Wohlmuth, Alois: Ein Schauspielerleben. Ungeschminkte Selbstschilderungen von Alois Wohlmuth. München 1928, S. 98-122.
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