VII.

[122] Trotz aller Eile kam ich zu spät: Klein hatte wieder mit dem Burgtheater abgeschlossen. Um mir Genugtuung zu bieten, bewilligte man mir ein »Ehrengastspiel«. In dieser Form spielte ich im Monat Juni im alten Burgtheater u.a. den Harpagon, Hassan (»Fiesco«) und den Bösewicht Mathias im »Sonnwendhof« von Mosenthal. – Jauner engagierte mich dann an das von ihm gegründete »Ringtheater«. Es wurde von Wien, der warmherzigen Theaterstadt, wie in einer Familie ein neues, liebes Mitglied, wohlwollend aufgenommen – ja, sogleich ordentlich verhätschelt. Beaumarchais »Figaros Hochzeit« (das Lustspiel) mit Mitterwurzer als Figaro war eine Vorstellung, die sich über die Konvention erhob. Gerne spielte ich die kleine Rolle des Basilio. – Während einer Aufführung des Schauspiels »Der Compagnon« von L'Arronge, just da ich mich auf der Szene befand, entstand Unruhe im Publikum, infolge eines verdächtigen Brandgeruches. Dreimal mußte das Spiel unterbrochen werden, dreimal gelang es Direktor Jauner von einer Parterreloge aus, die Aufregung der Zuschauer durch die Versicherung, es liege nichts Verdächtiges vor, zu beschwichtigen. Und doch! – Dieser Argwohn, er war wie ein Ahnen einer furchtbaren Katastrophe! Anfangs Dezember brachte das Ringtheater die Erstaufführung von Offenbachs »Hoffmanns Erzählungen«. Es gab einen großen Erfolg. Hanslick prophezeite in der »Neuen Freien Presse« eine lange Reihe von Wiederholungen. Ich wollte auch die zweite Aufführung anhören[122] und patschte gegen sieben Uhr im Schneegestöber über den Opernring dem Ringtheater zu. Beim neuen Universitätsgebäude sah ich durch den Schleier der fallenden, großen Schneeflocken nicht fern einen Glutschein – und in demselben Augenblick fiel auch an meiner Seite das Wort: »Das Ringtheater brennt!« Es ist klug eingerichtet von der Natur, daß wir ein Unglück im Augenblick, da wir es erfahren, nicht mit all seinen Konsequenzen fassen, sonst würde es uns schier tödlich treffen. Ich erinnere mich, daß ich mehr neugierig als erschüttert weitereilte. Bald stand ich vor dem Theater und sah mit Tausenden in das flammenspeiende Haus. Plötzlich hörte ich meinen Namen rufen – ich wende mich, und ein zitterndes, junges Geschöpf steht an meiner Seite, das mit seinen zarten, nassen, eiskalten Fingern meine Hände krampfhaft faßt: »Einer von uns, einer von uns!« rufend. Es war ein Ballettmädchen, das ich kaum kannte, und eine Stunde früher hätte sie sich wohl nicht erinnert, daß ich ihr »einer von uns« wäre! Der Anblick der armen Kleinen war herzzerreißend. Ein Gazekleidchen, das sie beim Feste im zweiten Akt hätte tragen sollen, war alles, was sie am Leibe hatte. Ohne Schuhe, im Trikot stand sie im garstigen Eiswasser; die entblößten Schultern versuchte sie mit ihren nackten Ärmchen zu decken; die aufgelösten, blonden Haare klebten an ihren Wangen, die naß waren von kalten Schneeflocken und heißen Tränen. »Mein Mutterl ist da oben«, wimmerte das arme Geschöpf, »im vierten Stock: sie verbrennt!« Sie schluchzte, daß das ganze dürftige Körperchen davon geschüttelt wurde. »Sie hören ja, daß alles gerettet ist«, beschwichtigte ich die Jammernde. Dieses geflügelte Wort, das ein k. k. Polizeirat einem kaiserlichen Erzherzog, der zur Unglücksstätte angefahren kam, beruhigend gesagt, war erst vor wenigen Minuten flügge geworden und verbreitete sich mit der großen Schnelle der Lüge.[123] Es war wie ein Hohn auf die schreckliche Wahrheit im brennenden Hause und – nicht einmal originell; denn schon Torquemada und Peter Arbues riefen, dieweil tausend Juden brannten: »Sie sind alle gerettet!« – Erst durch langes Zureden gelang es mir, das Mädchen zu bewegen, ins nächste Kaffeehaus zu treten, wo bereits ähnliche Unglücksgestalten um den Ofen kauerten. Ein wenig heißer Kaffee, den sie genoß, durchwärmte die erstarrten Glieder. Ihre Mutter hat die Ärmste natürlich nicht wieder gesehen. Wie wäre das auch möglich gewesen! Ich besah mir einige Wochen später alle Räume des Hauses, in das so viele zu einem lustigen Spiel geladen wurden, um selbst mitzuwirken in einer fürchterlichen Tragödie. In dem Ruß, der fingerdick die Wände der Gänge deckte, war der Todeskampf der Opfer förmlich eingraviert. Man sah deutlich, wie sie sterbend ihre Fingernägel in die Mauer gegraben hatten. Entsetzliches Gekritzel! – Gegen drei Uhr früh dachte ich daran, nachzusehen, wie es in unserer Garderobe mit meinem Handwerkszeug (Schminkschatulle usw.) stehe. Die Soldaten, die den Kordon um das Theater bildeten, ließen mich nicht durch; einer, ein Slawe, der mich nicht verstand, erhob sogar den Säbel, um dreinzuhauen; auch er schien heute »alles retten zu wollen«. Endlich gelang es mir dennoch, durch List den Bühneneingang zu erreichen. Da zog er vorbei der gräßlichste Leichenzug, der gedacht werden kann. Eine endlose, sich immer und immer wieder erneuernde Reihe von Opfern. Der Tod hatte sie in seine Farbe gekleidet: sie waren alle schwarz, was sich beim Fackellicht grausig abhob von der Todesblässe der Leichenträger. Unsere Garderoben waren von der Wut des Feuers verschont geblieben; dennoch habe ich meine Habseligkeiten nicht wiedergesehen. Jedes Gewerbe hat seine Glanzmomente; Diebe leben von solchen, da Jubel oder Entsetzen ihre Mitmenschen verwirren. Während Hunderte ihre[124] letzten Seufzer zum Himmel senden, füllen nebenan ein paar arme Schelme unter Lebensgefahr ihre Taschen mit Theaterrequisiten. Alle unsere Schubladen erbrochen! Auch die meine leer wie ein ausgeblasenes Ei; doch nein, ein einziger Gegenstand war zurückgeblieben, von allen einer: meine Leibwattierung: alles war für mich gerettet! – Im Souterrainlokal einer nahen Wirtschaft tagten wir nachmittags. Eine unheimlich bange Schwüle und Stille herrschte in dem niederen, nur von wenigen Gasflammen trüb erleuchteten Kellerraum. Wer kam, drückte dem andern stumm die Hand. Das Unglück liebt es, sich absurd zu kleiden: Die erste Anstandsdame streifte mit ihrer langen Seidenschleppe, die gestern noch die Bretter des Ringtheaters fegte, die Lumpen einer armseligen Kehrfrau, welche dasselbe gründlicher mit einem Besen zu besorgen hatte. Chormädchen, noch immer in der Balltoilette von gestern steckend, die ihnen das Theater für alles, was es ihnen nahm, sterbend vererbte, kauerten frierend an den Wänden. Hier stolze Mimen im Pelz, frisiert wie das Schild eines Haarkünstlers, dort ein Theaterarbeiter ohne Rock, den verbrannten Arm im zerrissenen Hemdärmel. Die Versammlung wählte aus ihrer Mitte drei Vertrauensmänner, die zunächst die Geschäfte des verwaisten Personals zu leiten hatten. Auch mein Name fiel. Tags darauf verteilten wir, das gewählte Theaterkomitee, im Büro eines Polizeirates die ersten Gelder, die bereits für das Personal gespendet waren. Zuerst wurden die Namen der Mitglieder verlesen. Meldete sich der Aufgerufene nicht, so wurde »fehlt« gerufen, aber – »tot« geschrieben. Das Wort erstarb also hier buchstäblich in der Feder. – Namentlich bei Nennung des Orchesterpersonals traten die kleinen, fürchterlichen Pausen häufig ein. – Eine Rührung hatte die ganze Welt ergriffen. In Kürze war eine Million Gulden für die »durch den Brand Verunglückten«[125] zusammengeflutet. Ich schlug dem Hilfskomitee im Gemeinderat vor, dem Personal die Gagen den Winter über auszuzahlen, so, als ob das Theater nicht verbrannt wäre: immer am Ersten des Monats. Ich drang durch. – Auch Pauline Lucca wollte ihr Scherflein beitragen und arrangierte eine Wohltätigkeitsvorstellung, in der sie selbst mitwirkte. In ihrer Wohnung wurden die Plätze verkauft. Ich war auf ihren Wunsch Beisitzender und nahm für ein Billett hundert, aber auch zwei- und dreihundert Gulden ein. Wer hätte auch zurückhalten sollen, wenn sie dabei stand, sie, die Reizende, die den Eindruck hervorrief, als ob die Natur über die ganze hinreißende Persönlichkeit mit einem kecken Schriftzug das Wort Genie geführt. Das Theaterkomitee war aufgelöst, und ich flüchtete mit den Trümmern meiner Habe Ende Februar nach Paris, das ich noch nicht kannte. Ich nahm Wohnung in dem ländlichen Vorort Neuilly und kam zur Stadt nur, wenn ich das »Théâtre Français« besuchte oder bayerisches Bier trinken wollte, das damals Paris zu erobern begann. Durch ein Empfehlungsschreiben der Bernhardt an Coquelin hatte ich das Glück, den Ausgezeichneten kennen zu lernen. »Mon cher Coq!« hieß es in dem Schreiben, »nimm Dich seiner an, er ist sehr remarquable« usw. usw. Coquelin hat den Wunsch seiner Kollegin in herzlicher Weise erfüllt: wiederholt war ich Gast in seinem schönen Heim, durch aparten Kunstgeschmack, ein Stück von ihm« – und spielte er interessante Rollen, so erhielt ich nicht selten Einladung und Sitz. Coquelin war ein großer Komiker ohne die »trockene« Komik, wie wir sie in Deutschland so sehr lieben; sein Wesen war geistsprühender Humor. Und darum liebte ich ihn noch mehr in Rollen, wo ihm nicht (wie bei Molière) durch uralte Traditionen Fesseln angelegt waren, sondern wo Phantasie und Geist sich ungestörter auszuschwelgen vermochten. – Der Frühling kam, der[126] Sommer – und ich hatte noch kein Engagement. Tieftraurig zog ich mich in meinen geliebten Schmollwinkel St. Ursanne zurück. Endlich kam ein Antrag aus Wien. Strampfer hatte mit 1. September das Carltheater übernommen und bot mir Engagement. Gerne nahm ich an. Aber ach! Die Herrlichkeit sollte nicht lange währen. War das Glück ihm nicht mehr treu, war die früher so kräftige und kühne Hand des alten Bühnenpraktikers unsicher geworden, es wollte nichts Rechtes zustande kommen. Wieder war es ein häßlicher Dezembertag, da erfolgte der Zusammenbruch des Theaters! Arbeiter drangen ins Theaterbüro, im kernigsten Dialekt ihre rückständige Gage fordernd; und da sich die Geldmächte ins Direktionszimmer zurückzogen, sprengten sie gewaltsam die Türe. Es war eine abscheuliche Szene! Mir selbst war die Sache zum Segen: ein Ruf nach Weimar kam. Weimar! Welcher Deutsche fühlt sich nicht, wenn dieser geliebte Name an sein Ohr klingt, wie durch einen Zauberschlag gegrüßt und umgaukelt von all den lieben, herrlichen, ihm ins Herz gewachsenen Gestalten aus der Phantasie unserer großen Meister. Ich debütierte mit Erfolg und wurde vom Intendanten des großherzoglichen Hoftheaters Baron Loën vom Herbst auf drei Jahre engagiert für Otto Lehfeld, der nach langem Zögern ernstlich pensioniert zu werden wünschte. – Nach Wien zurückgekehrt, dachte ich daran, wie die weite Spanne Zeit zu überbrücken wäre. Hugo Wittmann willigte ein, mit mir den Text zu einer komischen Oper zu schreiben, und so entstand »Der Feldprediger«, zu dem Millöcker graziöse Musik machte. – Mein Freund hatte die feinsinnige Sängerin des Carltheaters, Helene Weinberger, geheiratet und wählte Italien zur Hochzeitsreise. Ich aber wurde mitgenommen, wie ich war: d.h. ohne Geld. Das offene Auge der bezaubernden Frau, empfänglich für all die großen Eindrücke[127] rundum, sah es mir an, wie gerne auch ich immer weiter geschwelgt hätte, und so animierte sie von Station zu Station mit ihrem lustigen, gütigen Lachen: »Machen S' eben einen weiteren Pump.« Auf diese Weise wurde ich bis Neapel und Pompeji ins Schlepptau genommen. Hier trennte ich mich von meinen Freunden und reiste zurück. Zuerst nach Bozen, dann ins Pustertal zu Defregger. Er hatte sich auf der Spitze des Berges, an dessen Fuß sein Heimatdorf Dölsach liegt, eine geräumige Blockhütte erbaut. Hier hauste er, 6000 Fuß hoch, schon seit Wochen mit seinem kleinen Söhnchen Hermann. Er war abgestiegen, mir den Weg zu zeigen und kam mir bis Lienz entgegen. Knapp vor Dölsach begegnete uns eine Frau, bei deren Anblick Defregger aufschaut und Halt macht. Sie trug einen kleinen Korb auf dem Rücken und war bäuerlich gekleidet. Obgleich an die Vierzig, deckte noch gesunde, frische Röte die Wangen der kleinen, blonden Frau, und ihre weißen Zähne leuchteten und prunkten. Auch sie hielt und blickte groß mit ihren schönen, blauen Augen. Die beiden betrachteten sich gar merkwürdig. Und so forschend und neugierig, als ob sie sagen wollten: So so, das ist aus dir geworden! Defregger, dessen Stimme die Erregung nicht verbergen konnte, fragte: »Was bist jetzt?« – »Enziangräberin!« – »So? Hast g'heirat?« – »Scho, zwei Pub'n hab' ich; und Du, ich weiß, bist ein großer Professor g'worden!« – Was Stand! Was Zeit! Da standen sich zwei gegenüber, die sich einstmals schreckbar lieb gehabt, einzig nur Niensch und Mensch! – Ich werde die hübsche Szene nie vergessen. Defregger erzählte mir später, wie er vor mehr als zwanzig Jahren zu der hübschen Dirn Fensterln ging, da noch sein Vater lebte. Das Müdel wohnte weit, der Alte war streng: um früh wieder ordnungsmäßig bei der Arbeit zu sein, mußte Romeo in der Lederhose zum Hin und Zurück die ganze Nacht opfern.[128] – Beim Aufstieg zum Blockhaus hielt Defregger bei einer Almhütte und zeigte mir ins Holz geschnittene oder gekratzte Ziegenböcke, die er als Hirtenbub mit einem Messer eingekritzelt. Auf der Höh', wo das Blockhaus stand, war es wunderbar: wenn die Sonne des Morgens, ihres endlichen Sieges bewußt, die schweren Nebel, die die ungeheuren Tiefen deckten, weggedrückt hatte, und die Täler Tirols und Kärntens dem Auge in ihrem leuchtenden Grün sich enthüllten, so war es, als ob durch ein Schöpfungswort eine Welt geboren worden wäre. Nachdem ich drei Wochen bei meinem Freunde Tiroler Luft und Wein gekneipt, verabschiedete ich mich und reiste mit einem Umweg über Wien ins Engagement nach Weimar.

Quelle:
Wohlmuth, Alois: Ein Schauspielerleben. Ungeschminkte Selbstschilderungen von Alois Wohlmuth. München 1928, S. 122-129.
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