VIII.

[129] Am Eingange des von der krausen Ilm durchströmten, sanften Tals, der grünen Hügelwelle, die Goethe zu einem Parke umgedichtet, fand ich Wohnung. Tagtäglich vor den Proben machte ich meinen Spaziergang nach dem Dorfe Oberweimar. Der Weg führte an einem der kleinsten und doch berühmtesten Häuser Deutschlands vorbei: an Goethes Gartenhaus. Es grüßt von leichter Höhe und ist umrankt von Rosen, die der Dichter aus Italien heimgebracht. Es war keine Pose von mir selbst und den anderen, wenn ich, so oft ich vorbeiging, das Haus grüßte: sein Anblick riß mir den Hut unwillkürlich vom Kopfe. Nicht selten begegnete mir auf diesen Promenaden der Großherzog. Regelmäßig hielt die hohe, aristokratische Gestalt, jeder Zoll innerste Überzeugung legitimer Würde; regelmäßig redete mich Serenissimus an mit einer zur Gewohnheit gewordenen Herablassung, aber auch mit herzlichem Wohlwollen. Wiederholt rezitierte ich ihm auf seinen Wunsch mitten im Grün des Parkes ganze Strecken aus meinen Rollen. Über manche, die er von mir[129] gesehen (Richard III., Kaliban, Tartüffe), wollte er meine Ansichten hören. – Es kam mir ein, in Weimar für die Malerwelt ähnliche Vorträge zu halten wie seinerzeit in München. Bei dem dritten oder vierten erscheint zu meinem Erstaunen, just, da ich loslegen will, – ganz à la Friedrich oder Josef II. –, der Großherzog in der Türe und nimmt in der ersten Reihe Platz. Nach dem Vortrag kam er zu mir ans Pult und belobte mich, zumal für einen Gesang aus »Dantes Hölle«, den ich, wie er sagte, »mit großer Plastik gegeben«. »Und Dank«, so schied er, »für die Anregung, die Sie meinen jungen Künstlern geben«.

Nachdem mich Salvini in New York, wo er nach der Bernhard am »Booth-Theater« auftrat, als Macbeth durch seine Unmittelbarkeit bis ins Herz gepackt, hatte ich das Glück, den andern großen italienischen Meister kennen zu lernen: Rossi! Am eigenen Leibe, möchte ich sagen, denn bei seinem Gastspiel in Weimar spielte ich mit ihm den Jago – und wenn er als Othello bei der Stelle: »Beweise, Schurke, daß mein Weib verbuhlt«, auf mich lossprang und mich packte, so mußte die Seele eng mit dem Körper verquickt sein, sollte sie nicht herausgebeutelt werden. Eine Abscheulichkeit, wie sie nur das Wandertum der Virtuosen erzeugt, war es, daß Rossi italienisch, wir deutsch sprachen. Bei den großen Aufgaben der Schauspielkunst heißt es, nachtwandlerisch den Spuren des Dichters zu folgen, alles was er tut ist ein unwillkürliches Hinüberschöpfen eigener Mittel in die Dichtung – und so, gesteh' ich, habe ich schon das Wort »Auffassung« nie recht leiden mögen. Spekulation, »Auffassung«, Regieweisheiten usw. werden nichts anderes zusammenbringen als Surrogate, Stümpereien. Rossis Kunst nun war ganz innerliches Empfinden, Anschauen und Erleben; da war alles echt und wahr; da gab es nichts, man mußte mit ihm! – Persönlich war er von bezwingender Güte und Anmut: ein altes[130] Kind! Einmal, an einem häßlichen Winternachmittag, traf ich den Italiener am Parkrand, wie er frierend die Füße aneinanderschlug und sich in seinen Pelz vergrub. »Herr Rossi«, sagte ich, »Sie sind halb erfroren, ich wohne nur wenige Schritte von hier, kommen Sie zu mir, ich bin zwar Junggeselle, aber ich koche Ihnen guten, heißen Kaffee«. – »Bravo, Bravo«, rief er, sprang in die Höhe, klatschte in die Hände wie ein Knabe und küßte mich, »das ist lieb von Dir, Bruder: Kaffee, weißt Du, schlägt kein Italiener ab, also komm!« Bei mir zu Hause in der warmen Stube gefiel's ihm ausgezeichnet: eins, zwei, waren die nassen Stiefel abgestreift und meine Pantoffeln an seinen Füßen; er warf sich auf das breite Sofa und wälzte sich darauf behaglich und pudelwohl. Von dem brennheißen, mörderisch-starken Mokka, den ich braute, schlürfte er wollüstig Tasse um Tasse. Bald war er aufgetaut, wurde gesprächig und erzählte, immer mit dem hübschen, italienischen Anklang, von seinen Gastspielreisen. »Weißt Du«, plauderte er, »bei Euch hier spiele ich gern; aber z.B. drüben in Amerika, das ist gar keine Kunst mehr; da habe ich manchmal, wenn ich im Westen hab' spielen müssen in einem Zirkus oder großen Schlachthaus oder so – Sachen geredet – oh! Z.B. hab' ich auch paarmal reing'rufen ins Publikum ... (er donnerte mit schwungvollem Pathos die klassischen Worte aus »Götz von Berlichingen«) – und bravo haben sie gerufen – »da capo!« Er schüttelte sich vor Lachen. »Da capo, weißt Du, das war das einzige italienische Wort, was sie verstanden haben – und das hab' ich ja g'wußt!« – Anfangs Mai gab es in Weimar eine Tonkünstlerversammlung. Walter von Goethe, der letzte Enkel des Dichters, der das Haus seines großen Anherrn verschlossen hielt wie die Juden die Bundeslade, die sie nur einmal im Jahre dem Volke zeigen, »erweichte seinen harten Sinn« und öffnete, selbst ein Musiker, die[131] geheiligten Räume seinen tagenden Berufsgenossen. Ich wurde herbeigerufen, aufzupassen, daß nichts – »wegkomme«! Hamlet sagt: »Ich könnte in eine Nußschale eingesperrt sein und mich für einen König von unermeßlichem Gebiete halten.« Und wahrlich, eine Nußschale war es, womit der König von unermeßlichem Gebiete des Geistes sich begnügte! Dieses schmale Arbeitszimmer für den auch körperlich Wuchtigen! Das schlichte Bett, der einfache Lehnstuhl! O diese bescheidenen Großen aus der Biedermeierzeit! Da lag auch noch auf seinem Platze das schmale, längliche Kissen, auf dem die Arme Goethes ruhten, wenn er diktierte. Das alles noch so unberührt zu sehen, es hat mich innig ergriffen. – Walter von Goethe war ein gar scheues Wild. In seinen jungen Jahren meinte er, ein Komponist zu sein, und weil man ihn nur »halb mit Erbarmen lobte«, was viel weher tut als ein gesunder Tadel, zog er sich verletzt zurück. Der kleine, gebückte Mann mit dem langgezogenen Gesicht, so faltenreich, wie man es an Zwergen beobachtet, mit dem übergroßen Kopf auf dem gebrechlichen, schmächtigen Körperchen, das schier an Alraunchen erinnerte, zeigte bei jeder Berührung mit der Außenwelt etwas Schüchternes, Ängstliches, Mimosenhaftes. Sein ganzes Wesen glich einer kaum geheilten Wunde, die bei der leisesten Berührung schmerzt. Demungeachtet war es mir vergönnt, als Belohnung für mein gewissenhaftes Aufpassen im Goethe-Haus, ihm bei der kunstsinnigen Frau Hartmuth Balladen von Goethe vorzutragen. Sein Unteil war: »Sie setzen sich erst mitten hinein und gehen dann um und um.« Das waren seine Worte, weiß nicht, was er damit gemeint. Walter von Goethe starb im Frühjahr 1884. Bald darauf ging dem Landtag des Großherzogtums eine Regierungsvorlage zu, das Goethe-Museum zu sondieren. Ich wohnte auf der Tribüne der Sitzung bei und freute mich, wie es mit eins keine Parteien gab, die Landboten sich von den[132] Sitzen erhoben, um ohne Debatte einstimmig die Vorlage zu bewilligen! »Wie das verzauberte Tier, das auf unterirdischen Goldkisten liegt«, so ängstlich hatte der Enkel den Nachlaß des unsterblichen Ahnherrn bewacht. Trotz des Drängens der Goethe-Forscher blieb alles hermetisch verschlossen. Aber – um wieder zu zitieren – »Schätze, verborgene, drängen ans Licht«. Jetzt sollten sie gehoben werden. Der alte Amtsrichter Walther, in dessen Bezirk das Goethe-Haus lag, und dessen Amtspflicht es war, die Nachlässe zu sichten und zu registrieren, war mein Tischnachbar im »Russischen Hof« und verriet uns in seinem gemidlichen Dialekt die erstaunlichsten Dinge. Einmal erzählte er: »Sie haben keene Ahnung, was da alles unten in den vernachelten, halbvermoderten Kisten begraben liecht. Heute früh z.B. kommt ein Buch in einem Futteral an die Reihe; ich ziehe rechts, der Großherzog links – was kommt heraus? Der Götz! – 's erschte Manuskript davon!« –

Der »Feldprediger« war in Wien, Berlin und vielen deutschen Bühnen mit Beifall zur Aufführung gekommen, und auch das Textbuch wurde gerühmt. Durch Hanslick erfuhr ich, daß Johann Strauß ein ähnliches Libretto von Wittmann und mir in Musik setzen möchte. Die Sommerferien des Hoftheaters waren gekommen, und so reiste ich nach Wien, um mit dem Meister zu beraten. Mit einem Frühzug fuhr ich nach Schönau, wo er zurzeit auf seinem Gute weilte. Ich ließ mich melden und lustwandelte eine Weile im schönen Garten. Da erscheint auf der Terrasse der Villa ein Herr in elegantem »Bonjour« und ruft mir zu: »Bißl matinal, freut mich, aber bißl matinal; na, ich mach mich in der Sekunden fertig.« Die Sekunde hatte, wie es in Bayern heißt, der Fuchs gemessen und währte länger als eine Stunde. Dafür aber hatte der Walzerkönig Wort gehalten, er war wirklich fertig: Die Haare waren gekräuselt, der[133] Backenbart schwarz gefärbt, die Brauen nachgezogen und auch sonst vermochte man in dem elegant geschnittenen Gesicht des Meisters da und dort Retuschen zu bemerken. Er trug jetzt ein braunsamtenes Künstlerjackett und an seinem rechten Arm schepperten goldene Braceletten. Kleine Schwächen! Im übrigen war Strauß ganz liebenswürdiger Wiener und sprach über den Textplan, den ich ihm mitteilte, mit seiner Überlegung. Der Zufall wollte es, daß bald darauf der ungarische Dichter Jokai vorsprach und, wie es sich herausstellte, gleichfalls den »Dolch im Gewande«. Der zusammengedrückte Herr, der in jeder Weise eher aussah wie ein alter Notar eines Provinzstädtehens, zog alsbald aus seiner bauchigen Rocktasche ein umfangreiches Manuskript: ein Libretto für Strauß. Es gab demungeachtet keine Basiliskenblicke und kein Duell. Wir ließen uns vielmehr von unserm charmanten Wirt und seiner schönen Frau zu einem ausgezeichneten Frühstück führen und waren bei köstlichem Vöslauer sehr aufgeräumt. Einmal neigt sich Strauß zu mir und sagt: »Erzählen S' mir, bitte, was von Weimar.« Ich dachte, er wollte das Neueste über das Goethe-Haus und -Museum hören, irrte mich aber – denn ehe ich anhub, fuhr er fort: »Ich hör', daß die Ilm so ausgezeichnete Forellen hat; ist das Fleisch davon wirklich so zart und cremefarben?« – Da ich kein großer Gastronom bin, mußte ich mich entschuldigen, über das Weimar keine Auskunft geben zu können. – Den Sieg trug übrigens Ungarn davon; Strauß wählte Jókais Textbuch.

Am 6. November 1884 brachte Weimar »zur Feier der hundertjährigen Aufführung der Räuber« eine Neueinstudierung des Stückes. Der Intendant von Loën hatte einen Prolog verfaßt, das Haus war festlich erleuchtet, das Parkett den Hörern der Jenenser Universität reserviert. Sie kamen vors Theater angefahren in geschmückten Schlitten und voller Wichs. Fackeln[134] und Lichter glitzerten wie hundert Irrlichter im Schnee. Vor dem Haus, am berühmten Schiller-Goethe-Monument, das mit Lorbeeren gekrönt war, ein frohes, farbiges Bild! Ich stand als Franz Moor auf der Szene. Kein Zeichen des Inspizienten heute, daß der Vorhang hochgehen sollte, sondern ein »Silentium, Hoch« eines Chargierten im Parkett. So ging's den ganzen Abend unter dem Kommando der Burschenschafter. »Ein freies Leben führen wir« wurde von hundert frischen Stimmen unten brausend mitgesungen. Ein Schillerfest! Ein junges Fest! Ein deutsches Fest! Nur einer fehlte: der Großherzog. Dem hocharistokratischen Sinne des alten, vornehmen Herrn war die ganze Sache, die übrigens ohne alte Traditionen nicht möglich gewesen wäre, zu ursprünglich, unbändig – republikanisch-anrüchig.

Im Frühling gaben wir die beiden Teile »Faust«, und ich spielte zum ersten Male in Weimar den Mephisto. Auf dem Buche prangte: »Bearbeitung von Dr. Otto Devrient«. Gäbe es eine ästhetische Polizei, sie hätte Bearbeiter und Bearbeitung dingfest machen müssen! Eine dumm-dreistere Versündigung an einem Jahrtausendwerk ist nicht zu denken! Gleich in dem inkommensurablen Prolog im Himmel, da der Teufel mit souveräner Grazie in den Kreis der Himmlischen tritt und sich aufreckt, um mit einer Frechheit zum Küssen dem Herrn eine Wette zu bieten, gleich in diesen schönsten Versen der deutschen Sprache ein bübischer Eingriff. Man höre und staune! Devrients Regiestift streicht den Gott und übergibt dem Engel Gabriel das Referat. Vom Herrn wird infolgedessen immer in der dritten Person gesprochen, etwa wie bei einer Gerichtsverhandlung von einem abwesenden Zeugen: »Er hat«, »er wird«, »er läßt« usw. Und weil das nicht durchaus mit Goetheschen Versen zu fixen ist, so ergänzt sie – was liegt daran – Herr Devrient durch seine eigenen; dichtet auch – wer fragt darnach – da und dort ein[135] paar Vierzeiler dazu. Und so geht es weiter durch den ganzen »Faust«: jedes »anstößige« Wort gestrichen und durch ein sittenreines aus der Sudelküche Devrients ersetzt. Z.B. Goethe: »'s ist eine der größten Himmelsgaben, so ein lieb Ding im Arm zu haben.« – Im Arm – fi doncam Arm zu haben verbessert Devrient. Und bedenkt nicht, daß Gretchen auf diese Weise schwerlich zu ihrem Kinde hätte kommen können! Worte wie »die Hur'« – ja, was denkt sich Goethe von einem Hoftheater – zum Höchsten: »die Dirn« usw. Und die Mucker Weimars schmunzeln mit salbungsvollem Fettmaul, und die Universität in Jena erhebt Devrient zum Ehrendoktor. Ich fragte nicht viel, säuberte ohne weiteres in meiner Rolle den Text von dem Ungeziefer honoris causa und sprach unverfälschten Goethe. Von vielen Seiten wurde ich darum als ein Pietätloser, der die weimarische Tradition nicht respektiert, heftig angegriffen. Da kam mir überraschende Hilfe: eine von Gottes Gnaden. Der Großherzog, dem ich im Park begegnete, lachte mir schon von ferne zu und sagte: »Recht taten Sie, lieber Wohlmuth, ganz recht, Goethe in Weimar wieder goethisch sprechen zu lassen.« – Und noch einer von Gottes Gnaden spendete mir Beifall: Liszt! Der herrliche Derwisch, der wie ein König nahm, ohne zu betteln, wie ein König gab, ohne wiederzufordern, lebte zur Zeit in Weimar als Gast des Großherzogs. Er hatte die »Faust«-Aufführungen gesehen und suchte mich auf, um mir seinen Beifall zu spenden. Fatalerweise hatte just an diesem Tage meine Wirtin im Garten Wäsche zum Trocknen aufgehängt – und der König der Musikanten mußte sich durch Hemden, Unterröcke usw., mit denen er allerlei bedenkliche Kämpfe zu bestehen hatte, Bahn brechen, bis endlich die knorrige Abbé-Gestalt mit der berühmten, weißen Mähne, die ein ausgedienter niedriger Zylinder krönte, siegreich aus dem letzten windgeblähten Damenhöschen auftauchte.[136] Er sagte mir viel Liebes, das ich natürlich hier nicht wiederholen möchte. Und es war nicht das erste Mal, daß ich mich seines Beifalls freuen durfte; spielte ich eine Rolle von Bedeutung, und schielte nach seiner Loge, so sah ich die weiße Mähne leuchten und war stolz. Mindestens zweimal in der Woche mußte ich zu ihm, um ihm Shakespeare und deutsche Balladen vorzutragen. Nicht oft genug vermochte er den rasenden Todesgalopp Lenorens von mir zu hören. Er hatte zu dieser deutschesten Ballade mit allen Schauern des Todes diskrete Musik gemacht, die den »Unkenruf in Teichen«, die »donnernden Brücken«, das unheimliche »Husch, husch, husch des nachprasselnden Gesindels« stimmungsvoll malt, – setzte sich ans Klavier und begleitete meinen Vortrag. Bei solchen Gelegenheiten lernte ich das damalige musikalische Jung-Deutschland kennen: Felix Weingartner, Mottl, d'Albert, Reisenauer u.a.m. Sie machten dem verehrten Meister viel Freud', aber auch viel Leid. Zumal da sie allesamt wohl reich an Talent, aber arm am Beutel waren. Wie oft hörte ich ihn seufzen: »Toute ma poche, toute ma poche.« – Auch Otto Lehfeld, der mir lange nicht grün war, und einmal, da er hörte, ich hätte in einer seiner früheren klassischen Rollen Beifall gefunden, seinen neuen Regenschirm dafür strafte, indem er ihn im Park an einer hohen Eiche wütend zerschellte, – kam nach dem »Faust« zu mir. Es riß an der Glocke, die Türe flog auf, und der alte, rassige Hüne mit den sprühenden Augen im überscharf gezeichneten, dunkelfarbigen Gesicht, stand vor mir. Er faßt meine Hände und eifert: »Ich danke Euch, Kollege, ich danke Euch, daß Ihr den »Faust« gesäubert habt von dem Unrat – –.« Und nun entlud er über Otto Devrient eine solche Flut von Schimpfworten, daß selbst der spitzköpfige Thersites in »Troilus und Cressida« eingestanden hätte: Donnerwetter, der kann's doch noch besser.[137]

Im Frühjahr 1886 war das ganze literarische Deutschland in Weimar zu Gast. Wie die Deputierten der verschiedenen Vereine, die bei uns tagten, sich manchmal gegenseitig vorstellten, davon war ich wiederholt im Hotel bei der Tafel Zeuge: »Schillerverein, mein Herr?« »Oder Goethe?« »Shakespeare?« – »Nein, Schriftsteller!« – Im Hoftheater gab es natürlich große Ehrung: Musik und Prologe. Bei einer Schluß-Apotheose strömte – damals noch etwas ganz Neues – elektrisches Licht ins Parkett, wo sie alle saßen, die Dichter und Gelehrten. Der Effekt war verblüffend! Nicht Dichterlocken leuchteten – Glatzen, Glatzen, nichts als Glatzen! Soviel Billardkugeln wären im ganzen Großherzogtum nicht aufzutreiben gewesen: eine weite, im Licht gleißende Glatteisfläche. – Nur nicht allzu großstädtisch überlegen herniedergeblickt auf das kleinliche Kunstgetriebe und Theaterunwesen in Landslüdten und Märkten! Die »Schmiere« liegt uns näher als man glaubt. Auch in der Residenzstadt kann man sie irgendwo in einer entlegenen Ecke ertappen, naiv, unbefangen, wie in ihrem guten Recht. Nicht selten entsteht sie durch »Abstecher«, die erste Bühnen nach anderen Städten unternehmen. Davon weiß ich etwas zu erzählen aus meiner Zeit in Weimar. Das Großherzogliche Hoftheater spielte wöchentlich ein-, zweimal in Erfurt. Spät abends fuhren wir ab, kamen »drüben« in tiefer Dunkelheit an, wurden beim Licht ausgelassen, danach wieder in stockfinstere Wagen gepackt, zur Bahn gebracht und heim ging's nach der Goethestadt. Mir war es immer, als wäre ich durch ein Ofenrohr hin- und zurückgekrochen. Mitgenommen wurden zu diesen stolzen Mustervorstellungen nur die allernötigsten – um meiningerisch zu referieren – Requisiten, Dekorationen und Schauspieler.

Einmal gaben wir die von Süßstoff durchtränkte »Philippine Welser« von Redwitz. Ich spiele den König und Kaiser und stehe[138] im dritten Akt auf hohem Throne! Papa Welser soll mir als Geschenk der reichen Stadt Augsburg ein Meisterwerk der Goldschmiedekunst überreichen, das er folgendermaßen rühmt: »Ein silbern Schifflein ist's mit güldnem Mast, diamant am Steuer, Perlen in den Segeln: ein Bild von unserer Stadt, des Handels goldner Wiege« usw. Das sollte er. Aber der Verein, an den wir verpachtet waren, besaß kein Schifflein mit güldnem Mast, und der stolze Abgesandte der Reichsstadt überreichte der Majestät im Hermelin ein – Bierkrügl! Allerdings – was wahr ist, ist wahr – ein Exemplar erster Güte. Auf dem Kruge war folgende Szene dargestellt: Napoleon III. will dem deutschen Michl das Leintuch unterm Wertesten wegziehen, wofür durch einen sinnreichen Mechanismus beim Aufklappen des Deckels Michel dem Beherrscher der Franzosen eine Maulschelle verabreicht. Meine Augen werden beim Anblick der Prachtgabe groß und größer, Zorn will aufsteigen, der verwundete Ehrgeiz bäumt sich und stachelt mich, dem Vater der schönen Philippine das Geschenk vor die Füße zu werfen, aber der Napoleon auf dem Krügel hatte ein so mildes, treuherziges Gesicht, daß es auch mich mahnte, friedfertig zu bleiben und das Spiel nicht zu verderben. Doch der Witz ist allemal stärker als wir selbst; ich konnte nicht anders, ich nahm einen Schluck und sagte loyal zum braven Untertan an den Stufen des Thrones: »Na dann profit, lieber Welser!« – Im letzten Akt wieder an meinem Thronstuhl stehend, da ich meinen Vasallen verkünden soll, daß ich geruhen will, Philippinen ihren bürgerlichen »Ludergeruch« zu vergeben und sie als rechtmäßige Gemahlin meines Sohnes anzuerkennen, habe ich zu sagen: »Wo sind die Herren vom Hof?« – Eine Anzahl der Besten der Nation soll erscheinen. Da aber Würdenträger nicht so leicht aufzutreiben sind wie sinnvolle Bierkrügl, warte ich vergebens. Die Darstellerin der Philippine, die talentvolle[139] Jenike – sie durfte sich das erlauben, denn sie war beim »Baron-Intendanten« in Weimar, wie man in Wien sagt, die »Jenichte« – kommandierte: »Nur weiter, Majestät, die sind in Weimar ...«

In Weimar wurde damals in den neunziger Jahren im Hoftheater in der Woche viermal gespielt. Einmal, an einem Geburtstage Schillers, spielten wir nicht »Wallenstein«, nicht »Wilhelm Tell«, sondern das Kitschstück »Unsere Frauen« von L'Arronge in Erfurt. Das Hoftheater blieb demzufolge an diesem für Weimar besonders feierlichen Tage geschlossen. Das mußte den großen Dichter denn doch verschnupft haben, denn am Tage darauf hielt er in seiner bronzenen Hand ein mächtiges Plakat mit gewaltigen Lettern: »Schönen Dank, Herr Generalintendant für die gestrige Ehrung.« – Man erfuhr bald, daß die »Rächer seiner Ehre« ein Anzahl junger Maler gewesen waren, ich weiß sogar die Namen der beiden Rädelsführer zu nennen: es waren die lustigen Kumpane Meinzolt und Fleischer. Der eine mußte dabei dem andern auf die Schulter steigen, um den Riesenzettel auf dem berühmten Doppelmonument von Rauch anzubringen. – Ach und das »gemiedliche« Weimar von damals! Vier oder fünf Tage hielt Schiller das Plakat in seiner Hand und die Weimarer gingen daran vorbei wie an Geßlers Hut und lachten: »Ganz recht hat er, der Schiller, daß er sich's nicht hat gefallen lassen von dem drecketen Baron.«

Quelle:
Wohlmuth, Alois: Ein Schauspielerleben. Ungeschminkte Selbstschilderungen von Alois Wohlmuth. München 1928, S. 129-140.
Lizenz:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Fräulein Else

Fräulein Else

Die neunzehnjährige Else erfährt in den Ferien auf dem Rückweg vom Tennisplatz vom Konkurs ihres Vaters und wird von ihrer Mutter gebeten, eine große Summe Geld von einem Geschäftsfreund des Vaters zu leihen. Dieser verlangt als Gegenleistung Ungeheuerliches. Else treibt in einem inneren Monolog einer Verzweiflungstat entgegen.

54 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon