Wir haben uns bisher mit jenen guten Sitten und seinen Lebensformen beschäftigt, welche mehr oder weniger Ausfluß von Menschenliebe, Herzensgüte und der Rücksichtnahme auf andere, mithin äußere Bethätigung eines sittlich entwickelten Charakters sind. Für den Verkehr in und mit der Welt aber treten eine Anzahl Regeln hinzu, welche unabhängig sind von der seelischen Beschaffenheit des Individuums und auch vorhanden sein können, ohne daß die äußeren guten Sitten von innerer guter Sittlichkeit erzeugt werden. Leider! Denn dieser Widerspruch hat Scheinwesen, Heuchelei und das ganze Heer jener sogenannten konventionellen Lügen geschaffen, es auch dahin gebracht, daß mancher Mensch, auf seine Ehrlichkeit und innere Ehrenhaftigkeit pochend, den gesellschaftlichen Schliff verachten zu müssen und ihn entbehren zu können glaubt.

Und doch, wie falsch! Auf Haltung und Manieren soll und darf niemand verzichten, der in der Welt lebt, ebensowenig wie ihm das Urteil derselben gleichgültig[269] sein darf, da wir alle demselben unterworfen. Und wenn seine Lebensformen und Gewandtheit im Sprechen und Benehmen schon einen geistig unbedeutenden oder gar schlechten Menschen wohlgelitten zu machen vermögen, wievielmehr müssen sie den geistig hervorragenden und sittlich hochstehenden erheben und seinem Wert zulegen. Die ungeschliffenen Diamanten gelten nun einmal nicht im Verkehr und niemand beachtet sie: erst der Schliff verleiht ihnen Schönheit und Wert, die das Auge erfreuen, und wenn er auch nicht die Kostbarkeit des Steines bestimmt, so erhöht er dieselbe doch. Genau dasselbe gilt vom Menschen und das mögen sich alle gesagt sein lassen, welche die äußeren Formen verachten zu dürfen glauben. Selbst wenn letzteres, wie ja oft geschieht, auf das Bewußtsein inneren Werts und der Erhabenheit über Äußerlichkeiten zurückzuführen ist, dürfte doch, wer genauer hinsieht, klar erkennen, daß auch solcher prahlerisch betonten Verachtung meist sehr menschliche Schwächen zu Grunde liegen. Ein Beispiel mag da für viele genügen. So mancher Herr in gereiften Jahren und sicherer Lebensstellung, der stets Wahrheit und Natur im Munde führt und mit Vorliebe überall den Naturburschen spielt, sich zugleich das Hinwegsetzen über verschiedene, von der Höflichkeit gebotene Förmlichkeit als Vorzug anrechnend – wird uns sicher nicht widerlegen können, wenn wir ihm als die eigentlichen Triebfedern solchen Gebarens vorrechnen: Bequemlichkeit, die sich keinem Zwange unterwerfen will –[270] also Mangel an Selbsterziehung; ferner ein Kokettieren mit geistigen und moralischen Worten, die oft vielleicht nur in der Einbildung bestehen und doch des gesellschaftlichen Firnis entraten zu können glauben; endlich aber Anmaßung, daß es so, wie man sich giebt, gut und recht sein müsse, weil es eben bequem ist, sich so und nicht anders zu geben. Was nun gar die strenge Wahrheit anbetrifft, als deren berufener Apostel sich derselbe wohlweise Herr vielleicht aufspielt – wie oft heißt's da, den Balken im eigenen Auge nicht sehen, während die Splitter in anderer so scharf gegeißelt werden! Man kann sich sehr wohl in kleinen Dingen strengster Wahrhaftigkeit befleißigen und doch, in den Lebensverhältnissen zum Beispiel, eine große Lüge mit herumschleppen, die andere schwerer schädigt, als wenn ihnen dann und wann aus Höflichkeit oder wohlmeinender Rücksichtnahme eine belanglose Unwahrheit gesagt wird.

Wir haben absichtlich einen Herrn für dies Beispiel herangezogen, da sich Frauen im allgemeinen mehr der Höflichkeitsformen befleißigen.

Was heißt überhaupt Naturwahrheit im gesellschaftlichen Verkehr! Haben doch Bildung, Civilisation und eine jahrtausend alte Erziehung des Menschengeschlechts nur das eine Ziel angestrebt, aus dem Naturmenschen einen Kulturmenschen zu schaffen. Und diese Errungenschaften sollte man einfach von sich werfen, sich erhaben dünken über das Streben ungezählter Generationen und sich eigene Gesetze schaffen wollen für den[271] Verkehr der Menschen miteinander, während doch die ganze kultivierte Welt diese Gesetze bereits verbrieft und besiegelt besitzt? Nur ein Geistesgewaltiger, ein Messias könnte das wagen; für gewöhnliche Sterbliche erscheint es lächerlich und wird stets nur ihnen selber verhängnisvoll werden.

Und muß denn Kultur unter allen Umständen Natur in die Flucht schlagen, die Wahrheit zur Lüge machen, Schein für Sein geben? Im Gegenteil doch wohl! Kultur im höchsten und besten Sinne genommen kann die Natur nur veredeln, die Herbigkeit ungeschminkter Wahrheit mildern, das Sein vertiefen.

Bevor wir nun zu den Höflichkeitsformen bei den verschiedenen Anlässen im gesellschaftlichen Verkehr übergehen, möchten wir noch einiger Lebensregeln im allgemeinen Verkehr mit Menschen gedenken, deren Befolgen uns vor manchem Fehlgriff, mancher herben Enttäuschung, vor Undank und Reue bewahren, ebenso aber auch unseren Mitmenschen das eine oder andere dieser Gefühle ersparen kann. Denn wenn irgendwo, so ist auf diesem Gebiet Lebensklugheit, also Lebenskunst geboten, welche nur durch oft sehr teuer erkaufte Erfahrung gewonnen werden wird.

Wir sollen unseren Mitmenschen mit Wohlwollen entgegentreten, sie höflich und mit Freundlichkeit behandeln – alle, ohne Ausnahme, die höher oder uns gleichstehenden ebenso als die geringsten. Beklagenswert jeder, der von vornherein alle Menschen für[272] schlecht und böse hält und ihnen mit Mißtrauen und Kälte begegnet – herzlos und wenig vertraut mit dem Wesen wahrer Bildung der, welcher glaubt, Niedrigerstehenden durch Hochmut und Schroffheit das eigene Übergewicht kennzeichnen zu dürfen. Auch Mangel an Klugheit wird letzteres verraten, denn Höflichkeit und Milde zwingt auch den rohesten Menschen viel leichter, als hochfahrendes Wesen dies zu thun im stande wäre.

Vor dem Zuviel sei aber auch hier gewarnt; leicht wird der denkende Mensch zu unterscheiden wissen, wo Ernst und Strenge mehr am Platze als Güte und Milde.

Wie aber nicht alle Menschen a priori für böse, darf man sie auch nicht durchweg für gut und edel halten. Blindes Vertrauen, idealistischer Glaube an möglichste Vollkommenheit aller, besonders aber geliebter Wesen, hat schon manchem die bittersten Schmerzen und Kämpfe des Lebens gebracht. Vergessen wir nie, daß der Begriff des Menschsein zugleich den menschlicher Unvollkommenheit einschließt, daß es keine Götter auf Erden giebt und daß wir selber zu diesen unvollkommenen Menschen gehören. Vor allem aber hüte man sich, über den Fehlern und Schwächen eines Menschen die guten Eigenschaften, die sich mit wenigen traurigen Ausnahmen bei jedem finden werden, zu vergessen.

Wenn uns des Nächsten Thun schmerzt und verletzt, es uns unbegreiflich und mit seinem sonstigen[273] Sein nicht vereinbar erscheint, sollten wir uns mühen, den Triebfedern seines Handelns nachzuforschen, und werden da in den meisten Fällen zu milderer Beurteilung gelangen, die uns selber den größten Dienst leistet, indem sie uns vor Menschenfeindlichkeit bewahrt. Kein größeres und schöneres Wort als das altbekannte: »Alles begreifen heißt alles verzeihen.«

Sind uns Menschen, die unseren Lebensweg kreuzen, vom ersten Sehen an sehr sympathisch und wir geneigt mit ihnen nicht nur in Verkehr zu treten, sondern ihnen die herzlichste Freundschaft entgegenzubringen, prüfe man doch erst vorsichtig, ob diese Neigung auf beiden Seiten vorhanden. Ein Ausweichen und Zurückweichen seitens des anderen kränkt um so tiefer, je uneigennütziger die Gefühle sind, welche wir entgegenbrachten. Und dies Ablehnen braucht durchaus nicht immer ein beleidigendes zu sein; ganz abgesehen davon, daß Sympathieen sich nicht erzwingen lassen, ist der andere vielleicht schon so sehr von Freundschaft und Verkehr in Anspruch genommen, daß ein Mehr ihm unmöglich.

Aber wenn wir schon von unserem Nächsten nicht gleich Böses denken sollten, dürfen wir noch viel weniger solches von ihm sprechen. Selbst wenn es den Thatsachen entspricht – weshalb es weiteren Kreisen bekannt geben und den anderen dadurch schädigen? Und wenn es nicht wahr, wenn Bosheit, Neid und Tücke jenes menschenwürgende Ungeheuer erzeugten, das böswillige Verleumdung heißt, so[274] ist die Strafe des Gesetzes garnicht hart genug, den Übelthäter nach Gebühr zu züchtigen; die Verachtung aller anständig denkenden Menschen müßte hinzukommen.

Auch vor leichtfertiger Verbreitung nicht ganz verbürgter – oder selbst verbürgter – Gerüchte hüte man sich; jenes Geträtsches aus Langerweile oder Mangel an besserer Unterhaltung, das man Klatsch bezeichnet; denn gar zu leicht kann das Unkraut Klatsch zur verderblichsten Giftblüte aufschießen. Daß übrigens nur Frauen »klatschen«, ist ein ganz unberechtigtes Vorurteil, da auch die meisten, oder doch ein sehr großer Teil der Männer klatschen, und meist viel kleinlicher und gehässiger als Frauen.

An verwerflichsten aber ist jener böse Klatsch, der sich nicht in Worte kleidet und durch Achselzucken, vielsagendes Lächeln oder spöttischen Blick die Ehre des Nächsten zu verdächtigen sucht. Und überall, wo solches geschieht, sollte sich ein ehrlicher Mann oder eine energische Frau finden, die geradewegs auf ihr Ziel losgehen und einfach fordern: »Was ist's damit? Heraus mit der Sprache!« In den meisten Fällen wird sich da ein armselig Nichts ergeben und Beweise gewiß immer fehlen.

Eine vielumstrittene Frage ist, ob wir unseren Freunden mitzuteilen haben, wenn andere Böses von ihnen sprechen. Die einen meinen, es sei Gebot der Wohlerzogenheit und schonender Rücksichtnahme, ihnen dies geflissentlich zu verschweigen – andere, zu denen[275] auch wir gehören, erachten es für Pflicht, sie darauf aufmerksam zu machen. Denn da böswillige Klätscher auch gewöhnlich feige Heuchler sind, werden sie selber sicherlich alles aufbieten, die Angegriffenen über ihre wahre Gesinnung im Unklaren zu lassen oder sich gar durch besonderes liebenswürdiges Benehmen bemühen, als ehrliche und wohlwollende Freunde zu erscheinen. Und diese bewußte Täuschung sollte ein Eingeweihter ruhig mit ansehen, es dulden, daß Freunde ihren unerkannten Feinden herzlich begegnen, ihnen bieder die Hand drücken und sie vielleicht zu Vertrauten verschwiegener Angelegenheiten machen ohne Ahnung davon, daß sie hinterher bespöttelt, verlacht oder gar verleumdet werden? Da ist es doch wohl Ehrensache und Freundespflicht, den Vertrauenden die Augen zu öffnen und sie zu warnen; es braucht dabei ja weder kleinlicher Klatsch wieder holt noch verletzende Äußerungen wiedergegeben werden, sondern genügt, Winke zu geben, die unsere Freunde aufmerken lassen und sie befähigen, Wahrheit von Falschheit zu unterscheiden.

Ebenso sei man vorsichtig im Anvertrauen ernster Angelegenheiten, selbst bei Menschen, die zu unseren erprobten Freunden gehören. Nicht jeder hat das klare Bewußtsein, daß Verschwiegenheit Ehrenpflicht ist und wenn solche auch im Augenblick der Mitteilung feierlich gelobt wurde, so stumpft doch die Zeit den Ernst dieses Versprechens ab, nicht aber die Bedeutung des Mitgeteilten. Dann wird es unter »strengster Discretion« weitergetragen, bis es vor aller Welt als[276] offenes Geheimnis daliegt. Oder aber die Jahre führen ein Erkalten einst sehr inniger Beziehungen mit sich und nur wenige werden da gewissenhaft genug sein, auch dem nun Fernstehenden zu halten, was sie einst dem Freunde gelobt. Für die meisten gilt in solchen Fällen das bequeme, vieldeutige Wort Macchiavellis, daß ein gegebenes Wort eine Notwendigkeit der Vergangenheit, das gebrochene aber eine Notwendigkeit der Gegenwart sei.

Zur Lebensklugheit im Verkehr gehört auch, nur dann Rat zu erteilen, wenn man darum angegangen wird – selbst aber auch hierbei vorsichtig zu sein. Guter Rat wird meist nur befolgt, wenn er den Wünschen des Fragenden entspricht; dieser hätte dann aber ebensogut nach eigenem Ermessen handeln können. Folgt er dagegen gegen seine Neigung dem erhaltenen wohlgemeinten Rat und erreicht damit nicht, was der Ratgeber nach menschlicher Voraussicht erhoffte, wird sich der ganze Ärger über das Mißlingen gegen denselben wenden.

Überhaupt soll man bei menschenfreundlichem Thun jeglicher Art nie auf Dank rechnen, sondern stets auf das Gegenteil gefaßt sein – wir werden dadurch vor mancher herben Enttäuschung bewahrt bleiben. Geschieht es doch einmal, daß die seltene Tugend der Dankbarkeit geübt wird, berührt es um so wohlthuender, Nichts so unedel, als schnöde Undankbarkeit – wie traurig demnach, daß sie fast immer des Guten Lohn! –[277]

Wenn all diese flüchtigen Winke, deren weitere Ausführung sich für den Denkenden von selber ergeben, im Verkehr mit Menschen benutzt und noch von uns selbst dazugethan werden: Wohlwollen, Nachsicht, Ehrlichkeit – dann mag immerhin in Befolgung äußerer Höflichkeitsformen ab und zu die vielgeschmähte, konventionelle Lüge unterlaufen, denn Sitte und Sittlichkeit werden dadurch nicht in krassen Gegensatz geraten.[278]


Quelle:
York, B. von: Lebenskunst. Leipzig [1893], S. 267,279.
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