Besuchskarten, Besuch und Empfang.

[336] Wir haben uns nunmehr mit den einzelnen Gebräuchen und üblichen Höflichkeitsformen, welche der Verkehr mit der Welt vorschreibt, eingehend beschäftigt und können jetzt zur Anwendung derselben bei den verschiedenen gesellschaftlichen Anlässen übergehen. Bevor dies aber geschieht, haben wir noch jenes kleinen großen Hilfmittels im geselligen Verkehr zu gedenken, das, obgleich uralt, in Deutschland doch nur seit etwa einem Jahrhundert bekannt, allgemeine Verbreitung aber erst in der Neuzeit, das heißt, in den letzten Jahrzehnten, erlangte. Wir meinen die Besuchs-(Visiten)karten. Wie sehr dieselben sowohl den persönlichen als schriftlichen Verkehr erleichtern, eine wie tiefe Deutung ihnen unter Umständen beizulegen ist, berührten wir bereits anläßlich der Besprechung der Formalitäten beim Jahreswechsel. Der verschiedenen Anwendung der Besuchskarten wird in den nächsten Abschnitten noch öfter[336] gedacht werden, wie das ja auch bereits früher bei den Abhandlungen über Familienfeste wiederholt geschah. Wir hätten uns an dieser Stelle mithin nur mit der äußeren Beschaffenheit, nicht mit Verwendung derselben zu beschäftigen.

Die Ausstattung der Besuchskarten ist sehr verschiedenartig und auch die jeweilige Mode hat da ein gewichtig Wörtlein mitzusprechen. Zur Zeit gelten Karten auf möglichst starkem, weißen oder gelblichweißen Papier, nicht zu kleinen Formats, im übrigen aber ohne Goldschnitt und sonstige Verzierung, als sein, doch muß der Name lithographiert, nicht gedruckt sein, wenn sie letztere Bezeichnung ganz verdienen sollen. Es bleibt natürlich jedem unbenommen und ist durchaus nicht als Verstoß gegen den guten Ton zu betrachten, sich reichere Ausstattung der Karten zu leisten – es ist dies eben einzig und allein Sache des guten Geschmacks.

Geburtsrang und Amtstitel gehören unter allen Umständen auf die Besuchskarte, und zwar nicht aus Prahlerei und Titelsucht, sondern zur genaueren Kennzeichnung der Persönlichkeit Fremden gegenüber. Besitztitel hingegen, die doch jeden Tag hinfällig werden können durch Entäußerung des Besitzes – also etwa: »Rittergutsbesitzer« sind zu vermeiden, ebenso etwaige Angabe des Berufs wie »Bildhauer«, »Schriftsteller« u.a. Man könnte mit demselben Recht ja »Schuhmacher«, »Schornsteinfeger« u.s.w. darauf setzen – letzteres ist eben nur für gewerbliche Geschäftskarten[337] üblich. Wo nicht Stand und Rang einen berechtigten Titel ergeben, hüte man sich ängstlich, nach dem Schein eines solchen zu haschen, es wird dies anderen nur ein Lächeln abnötigen. Ein ehrlicher Name genügt auch ohne Titel und wenn es gelingt, demselben Bedeutung oder Ruf zu geben, um so anerkennenswerter für den Träger! Deshalb sind auch Künstler und Gelehrte berechtigt, auf ihren Karten neben dem bürgerlichen Namen den oft viel bekannteren Wahlnamen, (nom de guerre) zu vermerken. Titellose Menschen fügen auf Karten dem Familiennamen auch den Vornamen hinzu, schon des besseren Klanges wegen: steht aber ein Titel voran, wird letzterer fortgelassen. Mithin würde etwa ein Herr, den wir laut Karte als »Wilhelm Friedeberg« kennen lernen, sich jedenfalls sofort solche anschaffen, die auf »Staatsminister Friedeberg« lauten, falls ihm urplötzlich ein so hohes Amt zufiele. Findet aber ein Würdenträger wünschenswert, auch seinen Vornamen auf der Karte zu haben, so wird der Titel erst in zweiter Reihe kommen, also:


Wilhelm Friedeberg

Staatsminister.


Militärpersonen pflegen der Rangbezeichnung Truppenteil und Regiment, bei dem sie stehen, beizufügen. Der »Lieutenant der Reserve« kommt indes jetzt bei Civilpersonen mehr und mehr in Wegfall – gewiß zum Leidwesen so manches Titelsüchtigen, der damit die Besuchskarte so hübsch verzieren konnte.[338]

Damen lassen nur den Namen des Gatten ohne dessen Titel auf ihren Karten verzeichnen, dem sie allenfalls noch den Familiennamen hinzufügen, also etwa:


Frau Elsa Friedeberg

geb. von Arnim.


Statten beide Gatten gemeinschaftlich Besuche ab, werden die dabei verwendbaren Karten lauten: »Staatsminister Friedeberg und Frau.« Die Gattinnen berühmter oder auch nur bekannter Gelehrten, Künstler oder anderer bedeutender Männer, ebenso die hervorragender Industriellen, werden statt des eigenen Vornamens den des Gemahls zu besserer Kennzeichnung setzen, so: »Frau Paul Heyse« oder »Frau Anton von Werner«, »Frau Alfred Krupp« u.s.w. Unverheiratete Damen haben natürlich nur Vor- und Familiennamen zu nennen, denn wenn selbst ihr Vater höchster Würdenträger war, so fällt vom Glanze dieses Ranges nichts auf sie zurück. Vielleicht mit Unrecht; es würde Fremde doch sofort über die Familie und Familienbeziehungen unterrichten, wenn irgend ein Vermerk auf der Karte diese andeutete.

Fühlt die eine oder andere Dame sich doch bewogen, den Titel des – inzwischen vielleicht verstorbenen – Gatten auf ihrer Karte vermerken zu lassen, vermeide sie jedenfalls denselben ins Weibliche zu übertragen und »Frau Professorin S.«, »Frau Sanitätsrätin F.« zu sagen. Man findet das besonders häufig in kleinen Städten, obgleich es durchaus[339] falsch ist; auch im persönlichen Verkehr wird diese, nicht allein altmodische, sondern allen Sprachregeln widersprechende Vergewaltigung der Titel nur gar zu oft angewandt. Die Frau ist doch garnicht Professorin oder Sanitätsrätin, sondern der betreffende Gemahl ist oder war Professor, Sanitätsrat, und nur dieser Titel gebührt ihr in Bezugnahme auf den Gatten. Mit demselben Recht könnte man da auch »Frau Staatsanwältin« sagen und schreiben. Gerade letztere Bezeichnung zeigt wieder einmal, wie hübsch und glatt und angenehm dagegen »Gnädige Frau« in der Anrede klingt!

Aber wir sind bei den Besuchskarten. Wenn Damen einen wirklichen, persönlichen Titel errungen haben – vielleicht den eines akademischen Grades, was ja heutzutage nicht mehr zu den Seltenheiten gehört – werden sie diesen gewiß in berechtigtem Stolz auf ihre Karte setzen, aber durchaus ordnungsmäßig – also nicht:


Frau Dr. Schubert


sondern


Frau Clara Schubert

Dr. phil.


oder


Frau O. Kempin

Professor der Rechte.


Es wird bei solcher Fassung niemand in Zweifel sein, daß es sich hier um persönlichen Titel, nicht um Entlehnung desselben vom Gatten handelt. Ist nun[340] ein solcher weiblicher Doktor oder Professor unverheiratet und fällt das »Frau« auf der Karte fort, ist ja jeder Irrtum von vornherein ausgeschlossen.

Adlige vermerken natürlich ihren Adelsrang auf den Karten und pflegen darüber die Adelskrone zu setzen, die je nach einfachem Adel, Freiherrenrang oder Grafenwürde fünf-, sieben- und neunzackig ist. Ob man auch das Familienwappen hinzufügt, ist Sache des Geschmacks und dem Einzelnen anheimgegeben.

Und nun noch wenige Worte über Verwendung der Karten. Auch darüber ist bereits bei den betreffenden Abschnitten unter Bezugnahme auf die besondere Gelegenheit das Notwendige gesagt, und wollen wir nur noch über den eigentlichen Zweck derselben, das heißt, vom Gebrauch bei persönlichen Besuchen oder zu deren Anmeldung einiges hinzufügen. Es galt früher als sein, bei persönlicher Abgabe der Karte je nach Zweck des Besuches die rechte oder linke Ecke, auch wohl die ganze Seite umzubiegen, doch ist diese umständliche und gänzlich überflüssige Zeichensprache längst altmodisch geworden. Dasselbe gilt von dem Gebrauch, durch einzelne Anfangsbuchstaben und zwar solche französischer Worte anzudeuten, weshalb man gekommen. So bedeutete p. r. v. = pour rendre visite – einen Besuch zu machen; p. f. = pour feliciter – Glück zu wünschen; p. p. c. = pour prendre congé – Abschied zu nehmen: endlich p. c. = pour condoler – Beileid auszudrücken. Selbstverständlich fügte man diesen Vermerk nur bei, wenn[341] der zu Besuchende nicht anwesend. Jeder aber, der freundschaftlichen oder konventionellen Besuch empfängt, wird, und bei besonderen Ereignissen um so sicherer, wissen, was durch einen solchen ausgedrückt werden sollte, ob Teilnahme an Freud oder Leid oder ob nur einfacher Besuchspflicht genügt wurde.

Ebenso fallen diese Vermerke jetzt auch meist bei Übersendung von Karten zu besonderen Gelegenheiten fort. Falls sich der Absender nicht die Mühe geben will, mit einigen deutschen Worten den Zweck der Karte zu bezeichnen, genügt auch das Übersenden einer ganz unbeschriebenen Karte und nie wird der Empfänger über Bedeutung derselben im Zweifel sein. Jede Gelegenheit, derlei Höflichkeitspflichten zu vereinfachen, ohne sie ganz eingehen zu lassen, sollte bereitwillig ergriffen werden und allgemeine Nachahmung finden, da dadurch beiden Teilen Mühe und Zeit erspart wird. Und letztere Erwägung sollte stets ausschlaggebend sein.

Wir gehen nun zu den Besuchen über und zwar zu den, von den meisten Menschen so sehr gefürchteten Anstandsbesuchen. Wie diese Furcht zu begründen, ja, wie sie überhaupt entstehen konnte, ist uns stets unklar geblieben, denn wer auch nur halbwegs alle im Vorstehenden besprochenen gesellschaftlichen Regeln kennt und beherzigt, für den kann ein Besuch – auch in den ungewöhnlichsten Lebenslagen und bei den vornehmsten Personen – keinerlei Unbequemlichkeit oder gar Peinlichkeit mit sich bringen. Über die Schüchternheit,[342] die so oft ganz junge Leute bei ersten Besuchen überfällt, hilft ein wenig Mut und Selbstbewußtsein leicht hinweg und alles übrige macht sich dann so zu sagen von selber. Ist es doch nicht Sache des Besuchers allein, die Unterhaltung zu führen, sondern gleicherweise die des Besuchten, der doch überhaupt dem Gaste in jeder Weise entgegenkommen wird. Es ist mit einem Besuch zur rechten Zeit dasselbe wie mit einer rechtzeitigen Verbeugung; das Erfüllen dieser Pflicht kann unter Umständen sehr nützen, schaden gewiß nie – wohl aber vermag aus dem Unterlassen derselben empfindlicher Nachteil zu entstehen, zum mindesten anderen eine Beleidigung zugefügt werden. Eine derartige Vernachlässigung oder Zurücksetzung enthaltende Beleidigung wirkt oft kränkender als solche, die Bosheit erzeugte, und das sollte man stets bedenken. Namentlich Herren machen sich häufig Familien gegenüber dieser Unterlassungssünde schuldig und zwar meist aus Furcht, ein Anstandsbesuch könnte weitere Verpflichtungen in sich bergen. Dem aber ist nicht so; ein Besuch verpflichtet zu nichts – nicht einmal zu fernerem Verkehr, falls solcher nicht von beiden Seiten gewünscht wird. Es wird uns daher aus angeführten Gründen und noch einigen mehr stets unerfindlich bleiben, weshalb die einfachen Höflichkeitsbesuche so gefürchtet und wenn irgend möglich, umgangen werden.

Es giebt verschiedene Arten derselben. So allen voran der Antritts- oder Vorstellungsbesuch, welcher zu machen, wenn junge Leute als nunmehr[343] Erwachsene in die Welt oder richtiger die Gesellschaft eintreten, beziehungsweise eingeführt werden Junge Mädchen machen diese Besuche in Begleitung der Mutter oder, falls diese nicht mehr am Leben, einer verwandten Dame. Auch der Vater darf sie dabei geleiten, doch wird dieser Fall selten eintreten. Als passender Anzug gilt sorgfältige Straßentoilette, vor allem tadellose Handschuhe. Überschuhe, Regenschirm, ein etwa durchnäßter Regenmantel und auch der Gesichtsschleier sind im Vorzimmer zu lassen oder letzterer doch beim Eintritt zurückzuschlagen. Es ist unpassend und wenig höflich, dem Besuchten mit verhülltem Gesicht entgegenzutreten und doch begehen die meisten Damen diesen Verstoß. Bei freundschaftlichen Besuchen mag der kurze, leichte Halbschleier ja auch hingehen, doch ist er bei allen formellen Besuchen streng zu verbannen. Der Sonnenschirm ist, als zum Anzug gehörig, mit ins Zimmer zu nehmen.

Herren tragen bei familiären Besuchen Oberrock, helle oder doch farbige Handschuh, weiße Kravatte, die je nach Neigung auch durch eine hellfarbige ersetzt werden kann, hohen Hut, der mit ins Zimmer zu nehmen. Daß die Cigarre unter keinen Umständen gestattet ist, bedarf kaum der Betonung. Officielle Besuche aber erfordern Leibrock und weiße Handschuh, sowie weiße Binde, bei Militärpersonen volle Uniform. Zu letztgenannten gehören alle Vorstellungs-und Antrittsbesuche, wie sie Offiziere, die in eine andere Garnison versetzt werden, bei Vorgesetzten und Kameraden[344] abzustatten haben, ebenso Beamte in gleicher Lage. In kleineren Städten werden diese Besuche bei allen, die überhaupt zur Gesellschaft gehören, zu machen sein und sich nicht nur auf Vorgesetzte, Amtsgenossen und Kameraden zu erstrecken haben. Eine Liste der betreffenden Persönlichkeiten, bei denen Besuch unumgänglich nötig, ist in jedem besonderen Falle leicht zu erlangen. Ein Ausschließen der einen oder anderen Honoratiorenfamilie wäre ein ebenso arger Verstoß, als es bei dem leidigen Kastengeist der kleinen Städte Anstoß erregen würde, Besuch bei Leuten zu machen, die nicht für gesellschaftsfähig gelten. Es gilt da also sehr vorsichtig zu sein.

Diese Besuche sind innerhalb einiger Wochen zu erwiedern und nur, wo der Unterschied des Standes oder Ranges ein sehr bedeutender, fällt für den Vornehmeren diese Pflicht fort. Damen haben den Herren natürlich Besuche nicht abzugeben, wie ja überhaupt die gute Sitte vorschreibt, daß sie – es seien denn alte oder sehr nah verwandte – nie allein die Wohnung einzelner Herren betreten. Nur Ärzte, Rechsanwälte und Lehrer machen eine Ausnahme, aber auch dorthin wird sich die junge Dame nie allein begeben.

Hatten die Vorstellungsbesuche den Zweck – was durchaus nicht immer der Fall zu sein braucht – weiteren Verkehr einzuleiten, hat derjenige oder die Familie, welche den Besuch empfing, zuerst mit der Einladung zu beginnen und zwar sollte das nie allzulange[345] hinausgeschoben werden. Eine bestimmte Zwischenzeit dafür anzugeben, ist schwer, da dies ganz auf die Verhältnisse und besonderen Veranlassungen ankommt. Es ist nicht jedem – vielmehr den wenigsten – genehm, innerhalb drei oder vier Wochen eine große Gesellschaft zu geben, nur weil Herr von N. oder Familie S. uns Besuch gemacht und die Einladung zu erwarten hat. Fremde Menschen aber gleich vertraulich zu einem Familienabend zu laden, geht auch nicht an und so wird denn Herr von N. oder Familie S. meist warten müssen, bis sich anderweitiger Verpflichtungen halber die Notwendigkeit ergiebt, eine größere Gesellschaft zusammenzuladen. An einen bestimmten Zeitpunkt kann und soll man sich da nicht sklavisch binden, da mit Erwiederung des Besuchs der Höflichkeitspflicht vorläufig durchaus genügt wurde.

Daß als schickliche Besuchszeit die Stunden von 12–3 mittags und 5–7 nachmittags gelten, ist bereits früher gesagt worden, ebenso, daß man möglichst vermeiden sollte, officielle Besuche am Sonntag zu machen Die Dauer derselben darf sich über eine Viertelstunde nie ausdehnen, als Vorschrift gelten sogar nur zehn Minuten. Daß man sich vorher durch Hineinsenden der Karte anzumelden hat, dürfte jedem bekannt sein, auch, daß deren zwei abzugeben sind, wenn der Besuch dem Hausherrn und der Frau, oder vielleicht der Hausfrau und erwachsenen Tochter gelten soll. Jedenfalls ist dem Meldenden mitzuteilen wen von den Herrschaften man zu sprechen wünscht. Trifft[346] man dieselben zufällig vorher vor der Thür oder auf der Treppe, darf es in keinem Fall zugegeben werden, falls sie in liebenswürdiger Weise etwa umkehren wollten. Die Absicht des Besuches gilt indessen dann voll als solcher; dasselbe ist der Fall, wenn die Herrschaften nicht anwesend und man durch Zurücklassung der Karten bewiesen, daß der Besuchspflicht genügt wurde.

Die Ablehnung eines Besuchs als Beleidigung auffassen, werden nur gesellschaftlich wenig geschulte Menschen. Es können Gründe für dieselbe vorliegen, welche durchaus nichts mit der Persönlichkeit des Besuchers zu thun haben. Erst wenn wiederholt eine derartige Ablehnung erfolgt, hat der Abgewiesene das Recht, der Thatsache eine tiefere Deutung zu geben und anzunehmen, daß der Besuch eben nicht erwünscht. Wo diese Annahme nicht zutrifft und wirklich nur ein Zufall die wiederholte Ablehnung veranlaßte, werden die Abweisenden gut thun, dem Besucher bei gelegentlichem persönlichen Zusammentreffen oder auch schriftlich ihr Bedauern über das Verfehlen auszudrücken.

Zu Vorstellungsbesuchen fordert man nicht auf, besonders sollten dies Damen, sowie Mütter erwachsener Töchter Herren gegenüber streng vermeiden. Wer ein Interesse daran hat, kommt schon von selber und keine Schüchternheit noch sonstige Erwägungen werden ihn davon zurückhalten. Nur Gönner oder sehr hochgestellte Personen haben das Recht, zu ersten Besuchen aufzufordern, da man ohne solche Aufmunterung[347] wohl nicht wagen würde, sie zu belästigen. Im allgemeinen gilt die Regel, daß unter Gleichstehenden ein Besuch jedem bei jedermann gestattet ist. Selbst wenn er nicht freundlich aufgenommen wird und zu weiterem Verkehr führt, kann er doch nie als Verstoß sondern stets nur als ein Zeichen freundlichen Entgegenkommens und guter Lebensart aufgefaßt werden. Daß darin im ganzen eher zu wenig als zu viel geschieht, haben wir bereits angedeutet.

Über Freundschaftsbesuche ist eigentlich nichts zu sagen, man macht sie je nach Belieben. Daß man auch bei solchen nicht ungelegen kommt wird jeder zu berücksichtigen und, geschieht es doch einmal wider Willen, Sorge zu tragen haben, daß die Störung durch allzulanges Verweilen nicht noch empfindlicher gemacht wurde. Wer in Absicht eines kurzen Besuches kommt und zu längerem Bleiben genötigt wird, mag sich ja vorsichtigerweise zu versichern suchen, ob die Bitte einem aufrichtigen Wunsche entspricht oder nur auf konventionelle Phrase zurückzuführen ist. Es giebt Menschen, die so liebenswürdig und dringlich einzuladen wissen, daß man annehmen muß, es sei ihnen außerordentlich viel nicht nur am Besuch, sondern an der Persönlichkeit überhaupt gelegen. Erscheint aber der erbetene Besuch und verweilt auf dringendes Zureden länger als beabsichtigt, empfinden das die überliebenswürdigen – oder wohl richtiger heuchlerischen – Gastbitter als Unbequemlichkeit und scheuen sich wohl garnicht, später darüber Glossen zu machen[348] und von aufdringlichen und unerwünschten Gästen zu sprechen. Solche Menschen sind um so gefährlicher, als der Betreffende meist niemals erfährt, was hinter seinem Rücken gesprochen wird, sich mithin auch nicht in Zukunft darnach zu richten weiß. Pflicht aufrichtiger Freunde wird es daher sein – sofern sie davon hören – ihn in schonender Weise hierüber zu unterrichten. In den meisten Fällen aber wird der Besucher selbst zu entscheiden wissen, ob die Einladung aufrichtig gemeint ist oder nicht.

Über Geburtstagsbesuche ist bereits das Erforderliche an betreffender Stelle gesagt worden, auch, daß diese gelegentlich zu erwiedern sind. Letzteres gilt von den meisten Glückwunschbesuchen, unter gesellschaftlich Gleichstehenden wenigstens.

Besuche, welche den Zweck haben, anläßlich eines Trauerfalles Beileid auszusprechen, werden gleichfalls nach einiger Zeit erwiedert. Daß die Besucher in diesem Falle schwarze oder wenigstens dunkle Kleidung anzulegen haben, ward gleichfalls schon früher angedeutet.

Abschiedsbesuche sind nicht zu erwiedern. Freunde aber werden es sich nicht nehmen lassen, dem Scheidenden einen Blumengruß zum Abschied zu senden, falls sie diesen nicht persönlich bei der Abreise auf dem Bahnhof überreichen.

Auch Dankbesuche schließen eine Erwiederung aus.

Wir haben uns nun jenen Besuchen zuzuwenden, die weniger gesellschaftlicher als vielmehr vertraulicher[349] Art und dennoch bestimmten Regeln unterworfen sind. Wir meinen den


Quelle:
York, B. von: Lebenskunst. Leipzig [1893], S. 336-350.
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