Das Vorstellen.

[295] Zu jenen feinen Lebensformen, welche den Verkehr in der Gesellschaft wesentlich erleichtern, gehört auch das Bekanntmachen der einzelnen Persönlichkeiten miteinander. So einfach nun die Regeln sind, welche dabei zu beobachten, ist es doch wunderbar, wie oft gerade hiergegen gesündigt wird. Selbst Menschen von tüchtiger Bildung, die viel in der Gesellschaft leben, machen da die ärgsten Verstöße.

Es werden stets die niedriger im Range stehenden Personen den höhergestellten zuerst genannt – im Verfolg dieser allgemeinen Regel natürlich die Herren immer den Damen vorgestellt. Nur wenn erstere sehr alt oder fürstlichen Ranges sind – auch berühmte Künstler oder Gelehrte genießen mit Recht diesen Vorzug – tritt eine Ausnahme ein – freilich geschieht dies im Lande der ausgeprägtesten Höflichkeitsformen, Frankreich, nie. Als z.B. der einstige Kaiser von Brasilien[295] den von ihm sehr verehrten Viktor Hugo besuchte und bei diesem dessen sechsjährige Enkelin fand, stellte der greise Dichter mit hoheitsvoller Geberde den doch auch in würdigem Alter stehenden Kaiser dem Kinde also vor: »Gestatten Sie, meine Liebe, daß ich Ihnen den Kaiser von Brasilien vorstelle.« Und die kleine Dame »gestattete« huldvollst und sogar auch, daß der hohe Gast sie umarmte und auf die Stirn küßte. Im angemessenen Verfolg solcher Vorstellung hätte der Kaiser sich eigentlich mit ehrfurchtsvollem Handkuß begnügen müssen!

Schon in diesem »Gestatten Sie,« mit dem auch bei uns meist die Vorstellungen eingeleitet werden, liegt doch das ganze Geheimnis der rechten Art derselben. Das Vorstellen ist eine Bevorzugung, die dem Vorgestellten zu teil wird, indem wir seinen Namen und seine Persönlichkeit bekannt machen, ihn damit gleichsam der Beachtung empfehlend, denn eine nicht vorgestellte Person gilt eben nicht in der Gesellschaft, wir kennen sie nicht und werden uns in keiner Weise mit ihr beschäftigen. Doch dürfte nicht überflüssig sein hinzuzufügen, daß diese strenge Regel nur für die Gesellschaft, das heißt, für den Salon, gilt; es giebt hundert Fälle im Leben, in denen der Augenblick, die Gelegenheit allein die Gesetze bestimmt, nach denen zu handeln ist und die keiner Schablone unterworfen. Nehmen wir einmal an, es geriete jemand in Lebensgefahr und ein Fremder eilte zur Rettung herbei – und wenn es die Frau Oberhofceremonienmeisterin[296] selber wäre, würde sie sicher nicht vorher fragen: »Mein Herr, wer hat die Ehre, mich retten zu dürfen?« Dies allerdings etwas hochgegriffene Beispiel läßt sich jedoch durch die verschiedensten Abstufungen verfolgen.

Vorläufig aber sind wir noch im Salon oder verweilen doch bei den Fällen, in denen eine Vorstellung unumgänglich. Es kann nur nicht genug darauf hingewiesen werden, dabei die Namen der miteinander bekannt zu machenden recht deutlich zu sprechen, denn wie oft hört man die Klage: »Der Herr oder die Dame ist mir zwar vorgestellt worden, doch weiß ich nicht, wer sie ist.« Wir alle haben uns oft genug in derselben Lage befunden. Und es genügt nicht einmal, den Namen verständlich zu nennen, sondern vermittelt die Bekanntschaft viel eingehender und giebt in den meisten Fällen gleich Anknüpfung für ein Gespräch, wenn Rang und Titel der betreffenden Persönlichkeit – was ja wohl immer geschieht – oder eine sich aus der Besonderheit des Falles ergebende Andeutung der Lebensverhältnisse hinzugefügt wird. So ist bei Vorstellung eines Künstlers oder Schriftstellers, der, wie es häufig geschieht, für sein Auftreten in der Öffentlichkeit einen anderen Namen wählt, auch dieser seinem Familiennamen beizufügen; nicht nur, daß er unter ersterem in den meisten Fällen viel bekannter sein wird, so ist sein nom de guerre, wie die Franzosen es bezeichnend nennen, auch zugleich sein Ehrenname, der Titel, den[297] er selber sich von Genies oder Geistes Gnaden erworben und der ebenso hoch und vielleicht noch höher gilt als solcher der Geburt und des Ranges. Es beweist geradezu Nichtachtung des aus eigner Kraft Errungenen, in jedem Fall aber ein Versagen gerechter Anerkennung, diesen Namen nicht beizufügen und Künstler empfinden dies auch sicher als eine Beleidigung. Wie leicht kann es bei solchem Verschweigen geschehen, daß man in Gesellschaft stundenlang neben dem Verfasser oder der Verfasserin eines Buches sitzt, das man mit brennendem Interesse gelesen und dabei sehnlich gewünscht hat, den Autor einmal persönlich kennen zu lernen. Da aber bei der Vorstellung nur der Familien- nicht zugleich der Schriftstellername genannt wurde, hat man keine Ahnung, daß der Verfasser sich in unserer nächsten Nähe befindet und begnügt sich vielleicht, mit wenig gleichgültig höflichen Worten der gesellschaftlichen Gesprächspflicht zu genügen, während wir die interessanteste und anregendste Unterhaltung hätten genießen können. Bei Tages- oder gar Weltberühmtheiten wird ja ein derartiges Totschweigen unmöglich sein, aber es giebt manch ehrliches Ringen und tüchtiges Können, dem Anerkennung gebührt und das man wenigstens durch Nennen des Namens oder irgend welche Hindeutung auf erworbene Verdienste ehren sollte. Kein erfahrener Gastgeber und keine gesellschaftlich geschulte Wirtin wird sich auch diese Gelegenheit entgehen lassen, den Gästen durch derartige Winke Anknüpfungspunkte für[298] die Unterhaltung zu geben. Natürlich bezieht sich das nicht nur auf den oben angeführten Fall mit Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen; wir können auch anderen Personen gelegentlich begegnen und achtlos an ihnen vorübergehen – weil wir eben nicht aufmerksam gemacht wurden – deren nähere Bekanntschaft uns außerordentlich wichtig gewesen wäre. So führt uns der Zufall vielleicht mit einem Studiengenossen des Vaters, einer Jugendfreundin der längst verstorbenen Mutter in einem befreundeten Hause zusammen – man kennt einander gegenseitig nicht, der Gastgeber aber weiß um diese Beziehungen – wird man ihm nicht zürnen, wenn er es, in den meisten Fällen wohl nur aus Gedankenlosigkeit, verschweigt? Welch eine Freude andererseits, wieviel Stoff zu endlosen angeregten Gesprächen, sobald uns dies bekannt gegeben!

Diese flüchtigen Winke müssen hier genügen; wir werden an anderer Stelle noch Gelegenheit finden, sie anschaulicher zu machen und wenden uns wieder den verschiedenen Formen des Vorstellens zu. Wir hatten die Ausführungen über die Einzelvorstellung noch nicht abgeschlossen und möchten die Regeln derselben noch einmal kurz zusammenfassen: Also nicht den Namen des Höhergestellten, Älteren oder der Dame zuerst nennen, sondern umgekehrt! Ost bleibt es sogar bei der einfachen Namensnennung und zwar, wenn es eine besonders hochgestellte, berühmte oder allgemein bekannte Persönlichkeit ist, der man einen oder mehrere der Anwesenden vorstellt. Man denke[299] sich eine Vorstellung bei Bismarck oder etwa dem Rektor einer Universität – gekrönter Häupter garnicht zu gedenken! – es erscheint in solchen und ähnlichen Fällen doch selbstverständlich, daß nur der Name des Vorzustellenden genannt wird. Beide zu nennen wäre nicht nur unstatthaft sondern auch beleidigend für den Höherstehenden, da es eine Gleichstellung einschließt.

Ist eine Gesellschaft versammelt, wird nur der Name des hinzukommenden Gastes genannt. Nichts lästiger und störender für den Wirt sowohl als die Anwesenden, die oft endlose Reihe der Namen immer wieder herunterschnarren, oder anhören zu müssen. Zudem ist es völlig zwecklos, denn wenn der An kommende überhaupt einen Namen deutlich heraushört, weiß er doch sicherlich nicht, welcher Persönlichkeit derselbe zukommt, falls er dieselbe nicht zufällig bereits kennt. Wünscht der Gastgeber einige der Gäste näher bekannt oder besonders aufeinander aufmerksam zu machen, wird sich später immer noch Gelegenheit zur Einzelvorstellung ergeben.

In vornehmen Häusern ist hier und da bei großen Gesellschaften üblich, daß der die Thür öffnende Diener die Namen der Eintretenden mit lauter Stimme nennt – was bei dem allgemeinen Stimmengewirr meist ja vergebliche Liebesmüh' sein dürfte. Jeder Gast wird sich in solchen Fällen später einzeln den Persönlichkeiten vorstellen lassen müssen, an deren näherer Bekanntschaft ihm gelegen und wendet sich mit dieser Bitte am besten an den Gastgeber, doch können auch[300] andere Anwesende die Vorstellung vermitteln. Es ist Sache des Wirtes oder in dessen Vertretung der Dame des Hauses, die Namen der Gäste bei deren Eintritt bekannt zu geben – falls nicht die oben berührte Form der Namensnennung durch den Diener Hausgebrauch.

Bei kleineren Gesellschaften, in denen die Anzahl der Gäste gering, nennt man besser auf beiden Seiten die Namen, den des Hinzukommenden immer zuerst, auch wenn letzterer der Höhergestellte. Daß die Vorgestellten einander eine Verbeugung zu machen haben, die je nach Alter und Rang eine leichtere oder tiefere sein wird, ist bekannt. Für Damen genügt ein Neigen des Hauptes den Herren gegenüber, auch brauchen sie sich nicht vom Sitz zu erheben, falls es nicht ein sehr alter oder besonders hochgestellter Herr ist, der ihnen vorgestellt wird. Bei gegenseitiger Vorstellung erheben sich die Damen und führen jene tiefe salonmäßige Verbeugung aus, die unter dem Namen Hofknix allgemein bekannt. Selbstverständlich gilt dies nur für im Alter oder Range gleichstehende Damen; eine alte oder sehr vornehme Frau wird jüngeren Mitschwestern oder gar jungen Mädchen keine tiefe Verbeugung machen, sondern sich mit Kopfneigung begnügen. Das sonst für unerläßlich gehaltene »Sehr angenehm« oder »Sehr erfreut« ist jetzt nicht mehr üblich, gilt wenigstens nicht als sein. Ist es uns besondere Ehre oder Freude, eine Persönlichkeit kennen zu lernen, wird sich der geeignete Ausdruck der Freude und Befriedigung[301] schon finden, ohne daß wir zu vorgeschriebenen alltäglichen Redensarten unsere Zuflucht zu nehmen brauchen.

Befinden wir uns in Gesellschaft eines oder mehrerer Freunde auf der Straße oder sonst an öffentlichem Ort und begegnen anderen Bekannten, die zu uns herantreten, um ein Gespräch zu beginnen, ist es gleichfalls Pflicht der Höflichkeit, die Betreffenden miteinander bekannt zu machen. Wünscht der zuerst Anwesende diese Vorstellung nicht, wird er etwas zurücktreten und warten, bis die Unterredung beendet, die in solchem Falle ja möglichst abgekürzt werden dürfte. Da aber das Umgehen einer Vorstellung stets etwas Beleidigendes für den einen oder andern Teil in sich schließt, sollte man es thunlichst vermeiden. Eine Vorstellung ist ja doch nichts als eine Form, die zu nichts als allenfalls zum Gruß bei zufälligem späteren Begegnen verpflichtet. Einem unerwünschten Gruß aber kann man sich leichter entziehen, ohne zu verletzen, als einer Vorstellung durch Freunde bei gelegentlichem Zusammentreffen.

Reisende, die dasselbe Coupé besteigen, haben nicht die Verpflichtung einander vorzustellen. Nur wenn man in Unterhaltung gerät oder sich sonst nähere Anknüpfungspunkte ergeben, ergiebt sich ja gewöhnlich später eine Vorstellung von selbst. Handelt es sich um das Bekanntmachen zwischen einem Herrn und Dame, hat nur der erstere seinen Namen zu nennen; die Dame ist von dieser Verpflichtung frei, falls es ihr nicht selber erwünscht ist, dadurch zugleich ihre[302] Lebensverhältnisse anzudeuten. Es scheint dies häufig deshalb nötig, um dem Fremden die Art zu kennzeichnen, wie er einer vielleicht alleinreisenden Dame zu begegnen hat, obgleich das Benehmen der letzteren schon ausschlaggebend dafür sein sollte, welcher Gesellschaftsklasse sie zuzuzählen. In jedem Falle gilt im Verkehr mit der gebildeten Welt die Regel, daß die Dame dem Herrn stets ebenbürtig ist und dies nicht erst durch Namensnennung kund zu thun hat. Dasselbe gilt für das Vorstellen auf Bällen.

Personen in bevorzugter Lebensstellung und hohen Ranges sind meist sehr vorsichtig mit dem Vorstellen auf der Reise völlig Unbekannten gegenüber und entschließen sich dazu erst, wenn sie aus längerer Unterhaltung die Überzeugung gewonnen, es mit einem annähernd gesellschaftlich oder doch wenigstens an Bildung Gleichstehenden zu thun zu haben. Diese Vorsicht ist auch durchaus notwendig, damit nicht später irgend jemand, dessen Bekanntschaft sich als wenig schmeichelhaft herausstellt, sich einer solchen mit angesehenen Persönlichkeiten rühmen oder am Ende gar weiteres Kapital aus einer zufälligen Begegnung und einer übereilten Vorstellung schlagen könnte. Eine gewisse Zurückhaltung Fremden gegenüber, die ja durchaus nicht bis zur Unfreundlichkeit oder gar Unhöflichkeit gesteigert zu werden braucht, ist eben durchaus geboten und zugleich ein Beweis guter Erziehung und Lebensart. Hochstehenden Charaktern wird übereilte Vertraulichkeit jederzeit ganz unmöglich sein.[303]

Dieselben Regeln als für die Reise haben auch für den Verkehr in Gasthäusern oder an der Gasttafel Geltung. Man braucht sich nicht sofort vorzustellen, aber man kann es, sobald es irgendwie wünschenswert oder geboten erscheint. Solange es unterbleibt, wird das Gefühl des Unbehaglichen und der Unsicherheit auf beiden Seiten jedenfalls nicht schwinden und ein verzögertes Vorstellen stets die Fragen auf Seiten dessen, der die Vorstellung des andern erwartet, aufkeimen lassen: Hat man dort die Namensnennung zu scheuen oder hält man dich der Bekanntschaft nicht wert?

Menschenkenntnis und Lebensklugheit werden auch hier stets den rechten Weg für angemessenes Verhalten weisen.


Quelle:
York, B. von: Lebenskunst. Leipzig [1893], S. 295-304.
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