Die verschiedenen Begrüßungsformen.

[279] Der Gruß gilt zugleich als ein Ausdruck des Wohlwollens und der Höflichkeit. Aus der Art, wie er geboten, läßt sich der Grad des ersteren, ebenso der unserer gesellschaftlichen Bildung erkennen. Verschiedenartig fast bei allen civilisierten Völkern, – die uncivilisierten garnicht zu gedenken – sind auch innerhalb der Grenzen nationaler Sitte seine Formen vielgestaltig.

Freunde und Bekannte grüßen einander beim Begegnen auf der Straße und an öffentlichen Orten. In Deutschland Herren die Damen zuerst, gegenseitig immer der jüngere oder tiefer im Range stehende zuerst. Dasselbe gilt von Damen untereinander. Junge Mädchen haben verheiratete Frauen stets zuerst zu grüßen, ältere unverheirate Damen dagegen heutzutage nicht mehr die Verpflichtung, dem Frauentitel als solchen Ehrerbietung zu erweisen und etwa eine[279] ganz junge Frau zuerst zu grüßen, falls letztere nicht sehr hochgestellt. Unter gesellschaftlich gleichstehenden Damen entscheidet durchaus das verschiedene Alter beider darüber, wer den Gruß zu bieten oder zu empfangen hat.

Herren haben Damen stets zuerst zu grüßen, auch wenn diese später hinzukommen. Im geschlossenen Raum geschieht dies durch Erheben und tiefes Verneigen, auf der Straße durch Abnehmen des Hutes, Militärpersonen grüßen in der bekannten, jedenfalls viel bequemeren Weise. Aber nicht die mechanisch ausgeführte Bewegung allein genügt: der Grüßende hat dabei das Gesicht dem Begrüßten zuzuwenden und eine verbindliche Miene zu zeigen, letzterer ebenso zu danken. Bei Damen genügt ein Kopfneigen, eine Bewegung des Oberkörpers wäre nicht am Platze. Freunde werden sich den Gruß je nach der Tageszeit zurufen, die Hand bieten und – in der Großstadt, wo ein Begegnen nicht so häufig, geschieht es gewiß – ein paar Worte miteinander plaudern.

Begleiter eines Grüßenden haben mitzugrüßen, auch wenn sie die betreffende Persönlichkeit nicht kennen, ebenso einen Gruß mit zu erwiedern, den der andere empfängt. Wünscht man jemand beim Grüßen besonders zu ehren, tritt man wohl zur Seite und bleibt mit abgezogenem Hut stehen, bis er vorüber – wie es beim Begegnen fürstlicher Personen oder der allerhöchsten Herrschaften geschieht. In letzterem Falle werden auch Damen sich tief verneigend zur Seite[280] stehen bleiben und die Verbeugung genau so tief ausführen wie im Salon.

Der Gruß vom Wagen herab geschieht seitens der Damen durch Kopfneigen, Herren lüften den Hut oder senken die Peitsche, falls sie selbst kutschieren. Reiter grüßen je nach schnellerer oder langsamerer Gangart durch Neigen des Hauptes oder Senken der Reitpeitsche. Militärs- und Sportsleute werden so genau die vorgeschriebenen Begrüßungsformen kennen, daß es überflüssig erscheint, darüber ein Wort hierherzusetzen.

Beim Eintritt in ein Theater oder Konzert, Café, Restaurant, oder irgend ein öffentliches Lokal unterläßt man einen, allen Anwesenden geltenden Gruß, ebenso beim Besteigen der Pferdebahn. Beim Einsteigen ins Coupé bot man sonst wohl leicht allgemeinen Gruß, in neuerer Zeit fällt das mehr und mehr fort. Treffen Reisende an der Gasttafel zusammen, grüßen sich Tischnachbarn oder Personen, die sich bereits öfter begegneten, ohne vorgestellt zu sein, durch Verneigung. In sehr großen, internationalen Gasthöfen beschränkt sich dieser Gruß auf die nächsten Nachbarn oder unterbleibt ganz; namentlich sind es da Engländer, welche es überflüssig finden, Mitreisenden diese kleine Höflichkeit zu erweisen, die doch in jedem Fall wohlthuend berührt und gewiß stets freundlich erwiedert wird.

Daß sich Mitbewohner auf Treppen und Flur des Hauses zu grüßen haben, ward bereits an anderer Stelle berührt. Ebenso grüßt man beim Betreten und Verlassen eines Kaufgeschäftes.[281]

Wir gehen nun zu einer vertraulicheren Art des Begrüßens über – zu der des Handreichens. Dasselbe muß stets von der älteren oder höher gestellten Persönlichkeit ausgehen und hat demnach auch die Dame dem Herren die Hand zu reichen, nicht umgekehrt. Es ist dies mehr oder weniger eine Gunstbezeigung und der Herr muß sich abwartend verhalten, ob sie ihm erwiesen wird oder nicht. Damen werden deshalb auch nur Freunden oder näheren Bekannten die Hand bieten, junge Mädchen haben damit noch viel sparsamer umzugehen – für sie genügt, namentlich jungen Herren gegenüber, die Kopfneigung zur Begrüßung. Wir wollen deshalb dem guten deutschen Händedruck sein Recht nicht schmälern, das ja bekanntlich eine ganze Gefühlsscala durchlaufen und vom gewohnheitsmäßigen Höflichkeitsbeweis sich bis zur beredtesten Sprache zwischen Freunden und Liebenden zu steigern vermag.

Dasselbe gilt vom Handkuß, der im südlichen Deutschland viel allgemeiner in Anwendung kommt als in Norddeutschland, wo er fast nur in höheren Gesellschaftskreisen allgemein gebräuchlich. Wir hatten dies schon früher, als vom Verhältnis der Kinder den Eltern gegenüber die Rede war, bedauert und können dies bei Besprechung gesellschaftlicher Formen nur wiederholen, denn ein Handkuß wird stets Ritterlichkeit und Ehrerbietung zugleich ausdrücken. Bei uns wird er auf der Straße und an allen öffentlichen Orten fast ängstlich als Begrüßungsform gemieden – für Österreich[282] gilt das Gegenteil – und nur im Hause und in der Gesellschaft in Anwendung gebracht. Und doch ist der Handkuß – wo nicht nähere und innigere Beziehungen zwischen den Beteiligten obwalten – doch gar kein Kuß, sondern nur eine ritterliche Begrüßungs- oder Dankesform, durch einen Hauch ausgedrückt, der die Fingerspitzen eben nur streift. Auch ein Handkuß will gelernt sein und kann unter Umständen lächerlich oder gar beleidigend wirken, je nach der Art, wie er ausgeführt wird. Schon die Armbewegung, welche die ergriffene Hand zum Munde leitet, muß leicht und anmutig vollzogen werden, ebenso das Neigen des Kopfes. Eine Hand vergeblich haschen, sie dann plump und ungeschickt an sich ziehen, um womöglich einen schallenden Kuß auf den Rücken derselben zu drücken – wie tölpelhaft! Ebenso unschicklich wäre, in Fällen, wo der Handkuß eben nur als Höflichkeitsform gelten soll, den Arm über dem Handschuh zu küssen – derlei Variationen, die sich ja ins Ungemessene steigern mögen, bleiben nur sehr Nahestehenden oder Liebenden und sind nie vor fremden Augen auszuführen.

Auch junge Mädchen küssen älteren Damen die Hand zur Begrüßung, sowie bei beglückwünschenden oder dankenden Anlässen. Hohem Alter erweisen auch verheiratete Frauen diese Ehrerbietung, doch gehört dies mehr ins Gebiet des Gefühls, als der Form. Wenn Damen gleichen Alters sich gegenseitig die Hand küssen, wirkt das entweder läppisch oder würdelos, je nachdem.[283]

Und nun zur innigsten und vertrautesten Form der Begrüßung, dem Kuß. Daß nur sehr Nahestehende sie wählen, versteht sich von selbst, öffentlich sollte sie stets vermieden werden oder doch nur bei sehr feierlichen oder bedeutsamen Anlässen in Anwendung kommen. Nur ja nicht bei jeder Gelegenheit Kußsalven tauschen, wie es häufig unter Verwandten und Freunden bei allen denkbaren oder auch undenkbaren Veranlassungen geschieht! Wenn man sich bei jedem Kommen und Gehen küßt, welche Steigerung der Gefühlsergüsse und Zärtlichkeitsbeweise bliebe dann für besondere Gelegenheiten übrig? Auch Gold wird zum minderwertigen Metall, wenn es mit vollen Händen ausgestreut wird!

Wie peinlich und lächerlich aber so ein Küssen der Reihe nach auf den Unbeteiligten wirkt, der eben nicht zu dieser Reihe gehört oder doch nur unfreiwillig hineingezogen wird, weiß jeder, der sich schon in ähnlichen Lagen befunden – und wer hätte das nicht? Es bleibt da beim besten Willen nichts anderes übrig als entweder ein dummes oder ein spöttisches Gesicht zu machen, falls man nicht etwa vorzieht, Rührung zu heucheln ob so verschwenderisch ausgestreuter Liebesbeweise, die schließlich – so billig sind! Es heißt den Kuß, also den Ausdruck höchster Zärtlichkeit und tiefsten Gefühls, entwerten, wenn man allzu freigebig damit umgeht. –

Daß auch Verlobte sich nie in anderer Gegenwart küssen sollten, ward bereits früher gesagt. Wir hätten[284] hier also nur noch der großen Empfangs- und Abschiedsscenen mit Kußbegleitung zu gedenken, die sich täglich auf Bahnhöfen, oft in unsagbar drolliger Weise, abspielen. Sollte das wirklich nicht vorher oder nachher im Hause erledigt werden können, gilt ein inniger Händedruck unter Umständen nicht viel mehr als so ein leichter, gewohnheitsmäßiger Kuß? Ich überlasse meinen Lesern und Leserinnen, über die Frage zu entscheiden. Feinfühlige Naturen werden über die Antwort nicht in Zweifel sein.[285]


Quelle:
York, B. von: Lebenskunst. Leipzig [1893], S. 279-286.
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