Neujahr

[204] feiern wir nach einem Gesetz, das nicht Religion und Natur, sondern Menschen gegeben, und darum sind es auch mehr Pflichten gesellschaftlicher Art, die uns dasselbe auferlegt. Es gilt da, allen lieben Freunden und verehrten Gönnern bei Beginn des neuen Jahres unsre Glückwünsche darzubringen. Daß dies persönlich geschieht, kommt zum Glück mehr und mehr in Wegfall, da es für beide Teile eine recht lästige Pflicht bedeutet. Vorgesetzte erlassen dieselbe ihren Unterstellten jetzt überall da, wo es irgend angänglich, höchste Personen und offizielle Körperschaften sind durch ihre Stellung allerdings gezwungen, diese alte und im Grunde doch auch schöne Sitte aufrecht zu erhalten. Wo aber Vorgesetzten und Gönnern Neujahrsbesuche gemacht werden, ist es selbstverständlich, daß dies im sorgfältigsten Gesellschaftsanzug geschehen muß.[204]

Sehr lieben Freunden wird man am Neujahrstage, oder, da an diesem doch nur einige erledigt werden können, in den ersten Tagen des neuen Jahres gewiß persönlich seinen Besuch machen und zwar stets der jüngere dem älteren oder der Herr der Dame. Fernen Verwandten und Freunden schreibt man Briefe, für alle übrigen Bekannten genügen Visitenkarten, deren Einführung man besonders in diesem Fall gewiß als höchst bequeme und angenehme Sitte gelten lassen wird. Bunte Karten, und wären es selbst die elegantesten, gelten nicht für sein; wenn aber eine berühmte oder hervorragende Persönlichkeit auf die einfache weiße Karte eigenhändig ihren Namenszug setzt, ein Maler vielleicht mit wenigen Strichen eine humorvolle oder sinnige Skizze hinwirft, so wird uns das als besondere Bevorzugung gewiß doppelt ehren und erfreuen. Gewöhnlich sendet und erhält man ja die einfachen lithographierten Visitenkarten, denen ein paar freundliche Worte, ein Glückwunsch, oft nur in Buchstaben angedeutet, beigefügt sind. Warum man in letzterem Falle meist das französische p. f. (pour feliciter) anwendet und nicht z.B.: U. G. z. w. (Um Glück zu wünschen) ebenso und besser, weil deutsch, den Zweck erfüllen soll, ist nicht einzusehen und man sollte sich bestreben, sich solcher, echt deutsches Gefühl verletzenden Unsitte zu entwöhnen.

Auch die jetzt sehr in Aufnahme kommenden gedruckten Neujahrskarten, die den summarischen Glückwunsch einer Familie an die andere vermitteln, wirken[205] nicht besonders ansprechend, da sie das Bestreben kennzeichnen, sich einer lästigen Pflicht so bequem als nur irgend möglich zu entledigen. Am angemessensten wird immer die einfache Karte, in Papierumhüllung in den Umschlag gesteckt, bleiben und wieviel besagt sie unter Umständen, selbst wenn ihr kein einziges Wort, kein andeutender Buchstabe beigefügt ist! Bei Menschen, die sich vielleicht das ganze Jahr hindurch nicht sehen und nicht schreiben, meldet sie: »Ich lebe und denke dein!« Andere, deren Name der Titel beigefügt ist, künden von Zeit zu Zeit eine Rangerhöhung und kennzeichnen so in ihrem Verfolg den äußern Lebensgang eines Menschen, ohne daß langatmige Mitteilungen nötig wären. So wies uns einst ein alter Corpsstudent eine derartige Sammlung Neujahrskarten eines Freundes, die mit dem »stud. jur.« begonnen hatten und im Verlauf von zwanzig Jahren durch die verschiedenen Stufenleitern juristischer Laufbahn bis zum »Präsidenten« aufgestiegen waren. Dem »Referendar« war einst der Reservelieutenant beigefügt worden und vor zehn Jahren wies eine der Karten die beigeschriebenen Worte »und Frau« – ein Zeichen, daß der einstige sehr flotte, freiheitsdurstige Studio seine Herrin gefunden und in den Hafen der Ehe eingelaufen. Denn diese Neujahrskarten, welche alljährlich zu senden man sich einst in schwärmerischer Stunde gelobt, waren thatsächlich die einzigen Nachrichten geblieben, welche die sehr entfernt wohnenden Jugendfreunde einander zukommen ließen. »Bleibt[206] einmal innerhalb der ersten drei Tage eines neuen Jahres die Karte aus, so weiß ich, daß mein Freund zur Ruhe gegangen. Einer Todesanzeige bedarf es dann nicht,« sagte dabei der Besitzer dieser Sammlung von Karten ernst. Und so ließe sich noch manche tiefe und poetische Deutung der Sitte, sich zum Neujahr Visitenkarten zu übersenden, beibringen und ob sie manchem überflüssig und lästig erscheinen möge, man schelte sie nicht! Denn wie uns ein Geburtstag kalt und leer erschiene, der uns nicht Gedenkzeichen der Freunde brächte, so auch ein Neujahrstag. Und je größer die Anzahl der eingehenden Karten, je mehr Beweise, daß wir uns Freundschaft und Anerkennung errungen. Es geht damit wie mit manchen andern Dingen im Leben, deren Wert wir erst erkennen, wenn wir sie verloren. Trifft die Karte eines Fernerstehenden, die wir alljährlich mit mathematischer Bestimmtheit zu Neujahr zu erhalten pflegen, ein, so legen wir sie gewiß nach flüchtigem Blick achtlos zu den andern. Bleibt aber einmal diese Karte aus, werden wir sicherlich stutzig werden, uns allerlei Gedanken machen und schließlich geneigt sein, sie recht sehr zu vermissen.

Fürstliche oder sehr hochgestellte Personen lassen zu Neujahr Listen auslegen, in welche Glückwünschende ihre Namen einzutragen haben. Herren, welche das ganze Jahr hindurch zu den ständigen Gästen einer Familie gehören, werden nicht unterlassen, zu Neujahr der Dame des Hauses eine Blumenspende zu senden, wie sie auch den Bediensteten desselben ein Geldgeschenk[207] machen müssen. Überhaupt könnte man Neujahr eigentlich das Fest der Trinkgelder nennen, denn von wem und wofür alles an diesem Tage solche begehrt werden, davon weiß namentlich der Großstädter ein Lied zu singen. So sehr aber auch die Unsitte zu tadeln ist, einem Kellner für jedes Glas Bier, dem Pferdebahnschaffner für jede Fahrt ein Trinkgeld zu geben, was im Verlauf des Jahres eine stattliche Summe ausmacht – ebenso warm ist dafür zu stimmen, Leuten, welche das ganze Jahr über für uns thätig sind, ohne einen Sold von dem einzelnen zu empfangen, zu Neujahr eine Belohnung in Form eines Geldgeschenkes zukommen zu lassen. Wir nennen da z.B. nur die Zeitungsträger, die im Morgengrauen bei Wind und Wetter täglich auf die Minute pünktlich ihren beschwerlichen Gang anzutreten haben, nur damit wir beim Morgenkaffee unsren Lesestoff vorfinden – oder die Briefboten, die ungezählte Male an jedem Tage die fünf und noch mehr Treppen der Häuser auf und ab steigen müssen, um uns rechtzeitig liebe oder wichtige Briefe zu bringen – welch eine Entschädigung müßten sie für die Dienste eines Jahres eigentlich erhalten, wenn der Kellner für jede Tasse Kaffee, die er nur wenige Schritte weit herzuholen hat, ein Trinkgeld empfängt? Man gewöhne sich daher auch in diesem Fall, zu rechter Zeit zu sparen, um am geeigneten Ort geben zu können.

Die in den letzten Jahren aufgetauchte Einrichtung, das Übersenden der Neujahrskarten durch einen Geldbetrag[208] für die Armen abzulösen, können wir nicht unbedingt gutheißen. Den Armen geben, gewiß – immer! Aber müssen wir uns deshalb selbst berauben und auf die Freude verzichten, den Freunden Zeichen des Gedenkens zu geben und solche zu empfangen? Doch wohl nicht. Und darum stimmen wir unbedenklich für beides![209]

Quelle:
York, B. von: Lebenskunst. Leipzig [1893], S. 204-210.
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