Im Verkehr mit dem Publikum

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Im Verkehr mit dem Publikum.

Zum Schluß mögen noch wenige Worte dem Verkehr im amtlichen und geschäftlichen Leben, also dem Begegnen zwischen Vorgesetzten und Untergebenen, zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern gewidmet sein, ebenso das Verhalten der Beamten im öffentlichen Dienst dem Publikum gegenüber berührt werden. Eingehende Ausführungen darüber würden nicht nur ein Buch für sich, sondern Bücher füllen, ohne daß die Materie auch nur annähernd erschöpft wäre. Wir müssen uns demnach auf Andeutungen beschränken, die aber doch genügen dürften, manchen Leser zum Nachdenken anzuregen.

Die stets fortschreitende geistige Entwickelung der Menschheit hat auch klarere Erkenntnis aller Lebensverhältnisse gezeitigt und das Selbstgefühl des Einzelnen gesteigert. Es weht ein freierer Hauch durch alle Schichten der Bevölkerung und was dieser aus dem verhüllenden Nebel – welchen alteingewurzelte Vorurteile und das Recht des Stärkeren gebraut – klarlegte, war das Recht der Persönlichkeit, sowie die Daseinsberechtigung eines jeden Menschen. Und wenn letztere leider nicht zugleich eine Glücksberechtigung einschließt – das Glück hier freilich nicht als eine Vereinigung von Glanz, Reichtum und Macht gedacht, was immer nur einzelnen Bevorzugten beschieden sein wird – so verlangt sie doch innere Befreiung und äußere Anerkennung des Menschtums[455] mut vollem Recht. Sobald aber diese Erkenntnis erst in alle Schichten der Bevölkerung eingedrungen, dürfte sich eine befriedigende Lösung mancher sozialen Fragen allmählich von selber ergeben.

Längst haben wir gelernt, daß alle Lebensverhältnisse, die scheinbar die absolute Abhängigkeit auf Seiten des Niedrigergestellten bedingen, schließlich doch nur auf Gegenseitigkeit beruhen. Der eine braucht eben den andern – und umgekehrt. Damit ist aber auch sofort die Art des gegenseitigen Begegnens gekennzeichnet und wem es etwa nicht angemessen erscheint, hier von gutem Ton und Höflichkeitspflichten zu sprechen, mag dafür nur ruhig setzen: Pflicht der Sittlichkeit und Menschlichkeit – es ist genau dasselbe!

Und weil die bei weitem größeren Vorteile in diesem Verhältnis auf Gegenseitigkeit immer auf Seiten des Gebildeteren, Höherstehenden oder Mächtigeren sein werden, sollten gerade diese es sein, welche den Niedrigergestellten stets mit Höflichkeit begegnen und dadurch ein gutes Beispiel geben. Es giebt keine echtere Vornehmtheit keine wahrere Humanität als die, freundlich, duldsam und wohlwollend auch gegen diejenigen zu sein, welche mehr oder weniger von uns abhängen. Aber freilich muß auch das auf Gegenseitigkeit beruhen und darf nie bis zur Entäußerung der Selbstwürde gehen. Wer sich stets nach besten Kräften der Höflichkeit gegen alle Mitmenschen befleißigt, darf mit Recht verlangen, daß ihm in gleicher Weise begegnet werde und von Untergebenen in erster[456] Linie. Wo das nicht der Fall und auch durch wiederholte Mahnungen nicht zu erreichen, trete an die Stelle der höflichen Duldung unnachsichtliche Strenge.

Dies im allgemeinen.

Um noch einige Einzelfälle zu streifen, möchten wir hier nur die bescheidene Frage aufwerfen, wie es wohl zugeht und sich mit den oben angedeuteten Begriffen von gegenseitiger Höflichkeitspflicht aller Menschen untereinander verträgt, daß so oft gerade Beamte, die vom Staat in den Dienst der Allgemeinheit, also des Publikums, gestellt wurden, sich nicht nur unhöflich, sondern geradezu grob und abweisend gegen letzteres benehmen, obgleich ihnen von der anderen Seite mit aller Höflichkeit entgegengetreten wird. Und nicht nur bei niederen Beamten, bei denen es vielleicht mit geringer Bildung zu entschuldigen wäre, läßt sich das nachweisen, sondern leider auch bei vielen höheren und selbst hohen. Wir möchten hier z.B. nur der Art und Weise gedenken, in der manche Richter den Parteien, deren Recht oder Un recht, Schuld oder Unschuld noch völlig im Dunkeln liegt und die mithin nicht von vornherein als sittlich Antastbare oder gar Verworfene zu betrachten sind, gegenüber treten. Oder aber des mürrisch unhöflichen Wesens mancher Postbeamten, namentlich an den Schaltern kleiner Städte – ebenso der meisten Steuerbeamten an amtlichen Zahlstellen und vieler anderer Fälle mehr. Man fragt sich da oft verwundert, ob denn diese Beamten ganz und gar vergessen, daß sie[457] eben des Publikum wegen da sind und für die Erfüllung ihrer Pflichten diesem gegenüber Sold und Gehalt empfangen. Gewiß, viele dieser Beamten mögen überbürdet und im Verkehr mit der so oft unverständigen und zudringlichen Menge abgestumpft sein – es fragt sich nur, ob sie mit barscher Grobheit weiterkommen als mit ruhiger Höflichkeit und ihnen erstere den gewiß oft schweren Dienst erleichtert. Doch gewiß nicht! Noch immer gilt die alte, täglich aufs neue sich bewährende Regel, daß man durch freundliche Höflichkeit, auch bei den rohesten Menschen, mehr erreicht als durch mürrische Widerwilligkeit oder gar verletzende Grobheit. Und so können wir hier nur den Satz wiederholen, welcher diesem Werk als Vorwort voransteht:

Wer auf seine Sitte und gefällige Lebensformen verzichtet und ihrer entraten zu können glaubt, beraubt sich selbst der siegreichsten Waffe im Verkehr mit Menschen.[458]


Quelle:
York, B. von: Lebenskunst. Leipzig [1893], S. 454-459.
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