Das Briefschreiben

ist eine Kunst – natürlich dasselbe in seiner Vollendung gedacht. Wie sich aber auf keinem Gebiet eine vollendete Kunstfertigkeit ohne Talent erringen läßt, so auch beim Briefschreiben. Es gehört dazu nicht nur allgemeine Bildung, Verstand und Überlegung, sondern auch Menschenkenntnis und Geist – und zwar weniger Tiefe, als Grazie des Geistes. Alles in allem erfordert das Briefschreiben den ganzen Menschen, das heißt, die Gesamtsumme seines Könnens und Seins – etwa wie in der Schule der Aufsatz Prüfstein für die Summe von Wissen und Können ist, welche der Schüler erworben. Und so altbekannt und oft angewandt das Bouffon'sche Wort, das der Stil eben der Mensch sei, auch ist, mag es doch hierhergesetzt werden, da es erschöpfend wie kein anderes das Wesen des Briefschreibens kennzeichnet.

Welch eine hohe Bedeutung dem schriftlichen Verkehr innewohnt, machen sich gewiß die wenigsten klar, da die große Menge nicht viel über Dinge nachzudenken[473] pflegt, die ihr altgewohnt sind wie etwa Sonnenschein und Regen oder der Wechsel von Tag und Nacht. Wir möchten hier nur an die bekannte Geschichte von jenem Indianer erinnern, dem es als ein unbegreifliches Wunder erschien, als ein Europäer zum erstenmal in seiner Gegenwart einen Brief empfing und ihm klar zu machen suchte, daß ein viele hundert Meilen entfernter Freund durch die Schriftzeichen auf dem Papier soeben zu ihm gesprochen. Wenn man ferner bedenkt, daß Menschen, die sich seelisch sehr nahe stehen und räumlich vielleicht ein halbes Leben lang voneinander entfernt sind, einzig und allein auf den schriftlichen Verkehr angewiesen bleiben, um voneinander zu hören und ihre Gedanken auszutauschen – daß sie tot füreinander wären, wenn es eben keine Schriftzeichen und keine Briefe gäbe, wird man geneigt sein, die Bedeutung des Briefschreibens zu erkennen.

Auch unsere Litteratur erfuhr eine wesentliche Bereicherung durch den später veröffentlichten Briefwechsel großer Geister und berühmter Menschen – wir brauchen hier nur an den Briefwechsel Goethes, der Gebrüder Humboldt und Moltkes zu erinnern. Ost haben dergleichen Briefe und Tagebücher – letztere sind im Grunde nur Briefe, welche der Betreffende für sich selber, für eine spätere Epoche seines Lebens schreibt – auch hohen kulturhistorischen Wert, da sie ein getreues Bild der Zeit nach unmittelbaren Eindrücken geben.

Es ist mit dem Briefschreiben wie mit dem Plaudern[474] – mancher lernt's eben nie. Ost sind Menschen von bedeutendem Wissen und Können nicht im stande, einen guten Brief aufzusetzen, während solche von geringer Bildung ein klares, verständliches Schreiben abzufassen vermögen. Den echten rechten Plauderbrief, zu dem Zeit und eine gewisse behagliche Ruhe des Geistes gehört, schreiben bekanntlich Frauen am besten – wie sie ja auch zumeist die Kunst des Plauderns besser als Männer beherrschen. Es darf somit den Litterarhistoriker kaum wunder nehmen, wenn die moderne Zeit eine solche Überfülle von Schriftstellerinnen und solchen, die es zu sein glauben, hervorbrachte – steckt doch eine schriftstellerische Ader mehr oder weniger in jeder Frau.

Wenn nun aber mancher es eben nie erreichen wird, einen vollendeten Brief mit allen Feinheiten des Stils und geistvollen Redewendungen zu schreiben, kann es doch jeder mit ernstem Willen dahin bringen, ein klares, verständliches, auch äußerlich guten Eindruck hervorbringendes Schreiben abzufassen. Und doch wird meist aus Lässigkeit so viel dagegen gesündigt! Da aber im schriftlichen Verkehr Mängel an Wissen und Bildung noch viel schroffer hervortreten als im persönlichen, sollte jeder ernstlich bestrebt sein, dem Briefschreiben sorgfältigste Aufmerksamkeit zuzuwenden. Wie oft ist der vorteilhafte Eindruck, den eine Persönlichkeit auf uns machte, abgeschwächt oder gar vollständig zerstört worden, sobald der erste Brief einlief! Die orthographischen Schnitzer treten eben beim[475] Sprechen garnicht hervor, grammatikalische werden, falls sie nicht zu grober Natur, im springenden Hin und Her der Rede verwischt und gar die Syntax wird auch der gelehrteste Mensch in der Umgangssprache nicht ängstlich berücksichtigen. Wenn es aber dann Schwarz auf Weiß, Buchstabe für Buchstabe dasteht, fällt eben jeder Lapsus störend ins Auge. Wir kennen Fälle, in denen eine flammende Leidenschaft jäh, wie vom kalten Wasserstrahl getroffen, auf der einen Seite erlosch, als die ersten Briefe gewechselt wurden und gedenken z.B. lächelnd der tragikomischen Empörung, mit der ein Backfischchen, das eben seine erste »heilige« Liebe entdeckt hatte und geneigt war, in dem Verehrer – übrigens einem bildenden Künstler von Ruf – einen Gott zu sehen, uns den Brief wies, in welchem zu lesen war: »Angebethete meiner Sele! Ich liebe Sie abgrunttief und himelhoch« u.s.w. Natürlich ward das etwas schwärmerisch beanlagte Kind sofort aus dem Himel – mit einem m – in den tiefsten Abgrunt – mit t – der Verzweiflung gestürzt, sah den Künstler nicht mehr an und widerstand selbst der Versuchung, sich von ihm als Ophelia verewigen zu lassen.

Anderseits hat ein geistvoller und feinsinniger Briefwechsel oft zwischen Menschen, die sich nie gesehen, eine innige Neigung oder wenigstens so enge seelische Beziehungen erstehen lassen, daß sich diese ein ganzes Leben hindurch fortspannen und zur Quelle reinsten Genusses für die Beteiligten wurden.[476]

Auch im gesellschaftlichen und Geschäftsleben spielt das Briefschreiben eine hervorragende Rolle. Wir werden uns später mit den einzelnen Arten desselben noch näher beschäftigen und möchten vorerst einige allgemeine Regeln für den schriftlichen Verkehr geben.

In erster Linie muß man sich bei jedem Brief klar machen, was in demselben gesagt werden soll und dasselbe in möglichst kurze und klare Form bringen. Wiederholungen, schon beim Sprechen ermüdend, stören in einem Briefe noch viel mehr. Dann ist zu berücksichtigen, an wen das Schreiben gerichtet wird, da sich hiernach Form und Redeweise bestimmt. Wenn wir einem Menschen von geringer Bildung schreiben, sind jedenfalls andere Worte und Redewendungen zu wählen, um sich ihm verständlich zu machen, als dies bei einem geistig gleichstehenden der Fall sein würde. Bei Briefen in ernsten Angelegenheiten und solchen an höherstehende Persönlichkeiten werden wir Witz und Laune, so willkommen diese auch sonst überall sein mögen, verbannen und dafür einen gehaltenen, würdevollen Ton anschlagen müssen – der anderseits wieder bei einem Kinde, einem jungen oder uns sehr nahestehenden Menschen nicht am Platze wäre.

Aber nicht nur klar, verständlich und dem Empfänger angemessen soll alles Notwendige gesagt werden, sondern auch milde und schonend. Das geschriebene Wort klingt viel herber und schroffer als ein gesprochenes, das im nächsten Moment durch ein gütiges paralysiert oder vielleicht schon durch einen[477] freundlichen Blick, ein mildes Lächeln abgeschwächt werden kann. Und dann – das gesprochene Wort verfliegt in alle Winde, während das geschriebene unverändert dasteht und volle Kraft behält für alle Zeit. Das sollte man bedenken und nie im Ärger, Zorn oder erster Gefühlswallung Briefe schreiben. Das alte gute Wort, daß man über einem persönlichen Zwist nie die Sonne untergehen lassen möge, ohne ihn beigelegt zu haben, gilt in diesem Falle umgekehrt nicht minder beherzigenswert – immer wenigstens bis zum nächsten Tage warten, bevor man einen Brief beantwortet, der uns erregte! Und ob es noch so sehr im Herzen und den Fingern zuckt, sofort eine geharnischte Antwort zu schreiben – am Tage darauf sehen wir die Sache jedenfalls viel ruhiger an und geben eine andere Antwort, die dasselbe sagt und doch weniger verletzend wirkt.

Verschwiegene Angelegenheiten oder solche heikler Natur soll man, wenn irgend möglich, mündlich zum Austrag bringen und nur, wo dies ausgeschlossen, den schriftlichen Weg wählen. Wieviel Unheil ist durch böse, unberechenbare Zufälle, durch Indiskretionen auf der anderen Seite da schon angerichtet worden! Gewissenhafte Menschen sollten es sich zum Gesetz machen. Briefe schwerwiegenden Inhaltes, welche geeignet, den Schreiber bloßzustellen, sofort zu vernichten, falls nicht das eigene Interesse gebieterisch ein Aufbewahren verlangt. Leider werden es nur wenige sein, welche die Rücksichtnahme auf andere so weit treiben, wie ja[478] überhaupt über den Begriff des Briefgeheimnisses noch merkwürdige Unklarheit und Verworrenheit selbst bei gebildeten und gewissenhaften Menschen herrscht. Es dürfte nicht einmal allen bekannt sein, daß das Öffnen eines Briefes von anderer Hand als der des Empfängers – und sei es selbst der Gattin oder der Dienstherrschaft – als Bruch des Briefgeheimnisses gesetzlich geahndet wird. Menschen von Bildung und nobler Gesinnung werden es nie fertig bringen, Briefe an andere zu erbrechen oder auch selbst dann zu lesen, wenn ein Zufall sie offen in ihre Hände spielt. Indiskretionen freilich, welche der Empfänger eines Briefes durch diesen oder mit diesem begeht, stehen außerhalb der gesetzlichen Strafe und wiegen doch bei allen anständig gesinnten Menschen ebenso schwer als irgend ein ehrloses Vergehen. Jeder Brief ist ein Geheimnis an sich, ein Vertrauensvotum, welches der Schreiber dem Empfänger ausstellt, sich damit oft ganz und gar in des Letzteren Hand gebend. Wer im stande ist, ein derartiges Vertrauen zu täuschen, darf sich nicht wundern, wenn andere nachher an seiner Ehre und Wohlanständigkeit zweifeln und nicht gern ferner mit ihm etwas zu thun haben mögen.

Um es kurz zusammenzufassen: Jeder Brief, der persönliche Angelegenheiten behandelt, sollte nur von dem gelesen werden, an den er gerichtet. Auch an andere darf Mitteilung vom Inhalt nur insoweit gemacht werden, als es sich um gleichgültige oder allgemeine Dinge handelt. Alles Persönliche, was vertraulich[479] besprochen oder auch nur angedeutet wurde, muß strenges Geheimnis bleiben. Ebenso verwerflich ist das Absenden anonymer Schreiben und kein anständiger Mensch wird sich dazu verstehen. Was man schreibt, soll man mit seinem vollen Namen vertreten, oder die schriftliche Äußerung eben ganz unterlassen.

Jeder Gebildete aber sollte es für Pflicht der Wohlanständigkeit erachten, alle einlaufenden Schreiben zu beantworten. Wie die Antwort je nach der Sachlage beschaffen, ist eine andere Frage und kommt hier nicht in Betracht. Der schärfste, ablehnende Bescheid aber wirkt nicht so verletzend als gar keine Antwort und selbst dem Bettler sollte man solche nie verweigern.

Nach diesem allgemeinen Andeutungen möchten wir zu den Einzelheiten des schriftlichen Verkehrs übergehen und uns da zunächst mit den


Quelle:
York, B. von: Lebenskunst. Leipzig [1893], S. 471-480.
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