Trauerfälle.

[210] Bisher haben wir uns nur mit den frohen Festen und angenehmen Ereignissen des Familienlebens beschäftigt und müssen nun auch der ernsten und traurigen Vorkommnisse gedenken, von denen ja leider kein Haus und kein Menschenleben verschont bleibt. Da sind in erster Linie Krankheitsfälle in befreundeten Häusern, und auch ihnen gegenüber giebt es Gesetze des guten Tons zu beachten, die ja fast immer mit den Geboten des Herzens und der Menschenliebe übereinstimmen.

Sobald man erfahren, daß ein Freund oder Bekannter von Krankheit betroffen, wird schon das eigne Gefühl uns antreiben, baldmöglichst Näheres über sein Befinden zu erkunden. Wir werden mithin, je nach Innigkeit unserer Beziehungen, persönlich anfragen oder uns durch Boten erkundigen lassen, wie es damit steht. Dies schriftlich zu thun, wäre ungehörig, da wir dadurch der betroffenen Familie[210] die Mühe ebensolcher Beantwortung aufbürden, die, wenn der Bekanntenkreis ein ausgedehnter, eine recht große und zeitraubende werden muß. Auch hat die mündliche Anfrage den Vorzug, daß wir den Bescheid sogleich erhalten, während wir andernfalls doch mindestens einen Tag in Ungewißheit bleiben. Wo aber von auswärtigen Freunden derlei schriftliche Anfragen nach dem Befinden eines erkrankten Familienmitgliedes einlaufen, ist es geboten, solche sofort zu beantworten, und zugleich seinen Dank für die freundschaftliche Teilnahme auszudrücken.

Nun kann aber auch die persönliche Nachfrage zur Last für die Familie und einer Störung für den Kranken werden, welche schwerwiegende Folgen für den letzteren im Gefolge führt. Wenn bei großem Umgangskreis die helltönende Thürglocke den ganzen Tag über gezogen wird und den Kranken um Ruhe und Schlaf bringt, wenn ferner ein Dienstbote oder Familienmitglied völlig dadurch in Anspruch genommen ist, auf alle Erkundigungen Bescheid zu erteilen, wird man sehr geneigt sein, diese Zeichen freundschaftlicher Teilnahme für höchst lästig zu halten. Es empfiehlt sich daher, persönliche Anfragen nicht allzuoft zu wiederholen und, läßt man solche durch Diener besorgen, diese anzuweisen, sich gleich ins Gesindezimmer zu begeben, nicht durch Klingeln oder Klopfen zu stören und vor allem sich nur so lange aufzuhalten, als der Auftrag es gebietet.

Ist die Krankheit im Abnehmen, sind die Anfragen[211] in immer längeren Zwischenpausen zu wiederholen. Gestattet dann endlich das Befinden des Genesenden, daß wir ihm selber unsern Besuch machen können, ist dieser, besonders beim ersten Mal ganz kurz zu bemessen und sind aufregende Gespräche ebenso streng zu vermeiden wie etwa ein Verwundern über dessen verändertes Aussehen oder allzu großes Bedauern über sein Leiden. Blumen werden den Genesenden stets erfreuen, Nahestehende dürfen sich auch erlauben, eine Erfrischung oder Näscherei beizufügen. Ist der Kranke völlig genesen, wird es seine Pflicht sein, für alle empfangene Freundlichkeit durch Gegenbesuch zu danken.

Wo aber eine Krankheit nicht günstigen Verlauf nimmt und ihren Abschluß in der Genesung findet, sondern der Todesengel in einem Hause einkehrt, wird es Aufgabe der Hinterbliebenen sein, das trauervolle Ereignis baldmöglichst bekannt zu geben. Die nächsten Angehörigen verständigt, falls sie am selben Orte wohnen, am schnellsten mündliche Botschaft oder Depesche. Letztere ist indes nur dann zu wählen, wenn die betreffenden Empfänger über steigende Gefahr der Krankheit unterrichtet wurden und sie mithin die Trauerbotschaft nicht unvorbereitet trifft; andernfalls müssen sie durch schonend einleitenden Brief benachrichtigt werden Dann gilt's, die Anzeige, welche die Todesnachricht enthält, an eine oder mehrere Zeitungen zu befördern und im selben Wortlaut briefliche Mitteilungen zu bestellen, um sie allen, die in irgend einer Beziehung zum Trauerhause stehen, zugehen zu lassen.[212] Dieselben müssen, ebenso die Umschläge, mit Trauerrand versehen sein, welches schwarzumrandete Briefpapier man auch während der ganzen Trauerzeit benutzt.

Wie schon wiederholt in Bezug auf Familienanzeigen hervorgehoben wurde, sind auch Trauerbotschaften, welche für die Allgemeinheit bestimmt, möglichst ohne Schwulst und Gefühlsüberschwang abzufassen. Nächststehenden und Freunden werden wir ja einen Einblick in unser wundes Herz nicht wehren, die Welt brauchen wir weder zum Zeugen tiefen Schmerzes zu machen, noch sie eines solchen besonders versichern, wie dies so oft in Todesanzeigen geschieht. Am wenigsten sollte man derlei öffentlichen Mitteilungen irgend einen frommen oder tröstenden Bibelspruch beifügen, denn wen will man damit trösten – die Welt? Sie bedarf dessen nicht, wie es ihr auch gleichgültig sein wird, ob uns ein frommer Spruch leichter über den Schmerz hinweghilft. Eine derartige Anzeige hat sich nur auf den Verstorbenen zu beziehen, nicht auf die Hinterbliebenen; sie meldet daher vollen Namen und Titel (bei Frauen auch den Familiennamen), das erreichte Alter, längere oder kürzere Dauer der Krankheit, auch Art derselben, endlich Tag des Hinscheidens und des Begängnisses, letzterem ist genaue Zeit und Ortsangabe beizufügen. Zu unterzeichnen ist die Todesanzeige entweder von den mit vollem Namen einzeln anzuführenden nächsten Angehörigen, oder aber kurz mit dem alles umfassenden »die Hinterbliebenen.« Nach vorstehenden Andeutungen dürfte es überflüssig[213] sein, das Schema einer Traueranzeige im Wortlaut zu geben.

Alle aber, die solche empfangen, haben – Nahestehende persönlich andere schriftlich – ihre Teilnahme auszudrücken, wie sie nicht verfehlen werden, zur Leichenfeier zu erscheinen. Die übliche Blumenspende als letztes Liebeszeichen für den Dahingeschiedenen sendet man entweder schon tags vorher mit Visitenkarte an die Familie, oder man bringt dieselbe persönlich mit zum Begängnis, wo sie vor der Feier am Sarge niederzulegen und erst nach derselben wieder aufzunehmen und bis zur Gruft zu tragen ist.

Anzug zur Leichenfeier, auch für Nicht-Angehörige, muß tiefschwarz sein; stumpfe Trauerstoffe, Florschleier und Binden sind allerdings nur für die Familie und nächsten Verwandten erforderlich. Daß ein ernstes, würdiges Benehmen geboten ist, bedarf der Erwähnung kaum. Lautes Sprechen schon würde hier stören, geschweige denn irgend eine andere Auffälligkeit des Auftretens. Auch laute Schmerzausbrüche sind zu unterdrücken, da sie gar zu sehr den Schein des Gemachten an sich haben. Nur nächste Verwandte und Freunde treten auch vor der Feier an die trauernden Angehörigen heran, die übrigen Anwesenden begnügen sich mit ernster Begrüßung an der Gruft nach der Beisetzung. Viel Worte, und seien sie noch so gut gemeint und aus vollem Herzen kommend, wären hier nicht am Platze; ein Händedruck genügt.

Ob eine Witwe der Beisetzung des Gatten eine[214] Mutter der des Kindes beiwohnt, wird auf deren Geistesstärke und körperliches Befinden ankommen. Gewöhnlich bleibt sie derselben fern. In höheren Gesellschaftskreisen pflegen Damen zwar der Trauerfeier, nicht aber der Beisetzung beizuwohnen.

Die Anordnung eines Leichenbegängnisses, das namentlich in großen Städten hinsichtlich der kirchlichen und gesetzlichen Formalitäten von unendlicher Weitläufigkeit ist, übergiebt man am besten einem sogenannten Beerdigungscomptoir, welches für die große Mühe einen verhältnismäßig geringen Betrag in Rechnung stellt. Derselbe kann bei dem Kostenaufwand auch des einfachsten Begängnisses kaum in Betracht kommen. Ob man letzteres prunkvoll oder einfach herrichten läßt, ist Sache des Geschmackes und der Vermögenslage, die Anordnung geschieht je nach der lokalen Sitte und rituellen Vorschriften. Bei hervorragenden Persönlichkeiten, die im öffentlichen Leben standen, wird sich das Begräbnis ohnehin, schon durch die Teilnahme weitester Kreise, zu einem glänzenden gestalten. In großen Städten folgt die Trauerversammlung zu Wagen, wenn nicht, wie jetzt fast ausschließlich üblich und auch vom sanitären Standpunkt aus sehr zu empfehlen, die Leiche noch selben Tages nach der Leichenhalle gebracht wird und dort die Trauerfeier stattfindet. Es mag ja für den Moment den Schmerz der Hinterbliebenen verschärfen, den teuern Dahingeschiedenen nun auch sofort aus dem eignen trauten Heim in die kalt-schaurige Halle[215] des Todes schaffen und dort einsam ruhen zu lassen, erspart aber alle jene zwecklosen und deshalb grausamen Aufregungen und Schmerzausbrüche, welche die Anwesenheit der Leiche im Hause unfehlbar mit sich bringen wird. Und darum auch hier: Lebensweisheit! Es wäre unnatürlich, einen teuren Toten nicht beklagen und betrauern zu wollen, und echter Schmerz wird sich ja auch nicht niederzwingen lassen, nur zwecklos sollen wir uns nicht martern und quälen.

Manche Menschen sind freilich der Ansicht, es gehöre sich bei einem Todesfall, Schmerz und Gram in möglichst lauter und auffälliger Weise zu äußern. Nichts verletzt feinfühlige Naturen aber mehr als ein derartiges Gebaren, denn sie wissen nur zu wohl, daß echter Schmerz nicht prahlt mit seinen Äußerungen, sondern sich vor dem Auge der Welt zurückzieht, wie auch Gebet am herzinnigsten emporsteigt, wenn es ungesehen verrichtet wird. Ebenso ist es mit der Trauer. Die Sitte schreibt ja deren äußere Abzeichen vor und wir sind es dem Toten schuldig, ihm nichts vorzuenthalten, was sozusagen zu seinen letzten Ehren gehört. Aber übertreiben, das Trauerjahr auslöschen aus dem Buch des Lebens, sich aller Daseinsfreuden, auch der harmlosesten, enthalten, wäre sehr thöricht und gewiß nicht im Sinne des Dahingeschiedenen. Wir gedenken da immer der schönen und hochsinnigen Worte eines Sterbenden, der, von allen, die ihn kannten, geliebt und verehrt, den ihn weinend umringenden Angehörigen die Weisung gab:[216] »Gedenket meiner stets in Liebe, aber trauert nicht um mich, führet das bisherige Leben unverändert weiter, als wäre ich mitten unter euch.«

Letzteres wird sich ja nun von selber verbieten, denn so ganz kann niemand, auch der Stärkste nicht, sein Gefühl überwinden. Geräuschvolle Vergnügungen oder gar Tanzfestlichkeiten mitzumachen wird jedem wahrhaft Trauernden unmöglich sein, auch wenn die Welt und herrschende Sitte diesen Verzicht nicht forderte. Weshalb er aber nach Verlauf einiger Monate Kunstgenüsse, wie Theater und Konzert, sich versagen sollte, ist nicht einzusehen. Derartige Zerstreuung und Ablenkung ist nicht nur erlaubt, sondern einfach geboten, denn wir sollen unsern Schmerz überwinden und die Pflichten wieder unverändert aufnehmen, welche das Leben an jeden stellt. Das aber kann nur geschehen, wenn wir ernstlich trachten, das innere Gleichgewicht wieder zu erlangen.

Es kommt ja dann ein Tag in jedem Jahr, der ganz und ausschließlich dem Gedenken an teure Dahingeschiedene geweiht ist – der Allerseelentag bei den Katholiken, das Totenfest – der letzte Sonntag vor Beginn der Adventszeit – bei den Protestanten. Die Sitte, an diesem Tag die Gräber unsrer Toten je nach der lokalen Sitte liebevoll zu schmücken, ist schön und poetisch zugleich, ebenso verschieden aber bei den einzelnen Nationalitäten. So gleicht z.B. die Gedenkfeier der Toten in der Türkei mehr einem bunten, fröhlichen Jahrmarktstreiben als wehmütiger[217] Trauer. In Deutschland gilt die Sitte, sich an diesem Tage schwarz zu kleiden, wie auch die Altäre der Kirchen schwarz behängt sind. Alle lauten und geräuschvollen Vergnügungen, besonders Tanzvergnügungen, sind polizeilich verboten, in den Theatern dürfen nur ernste Stücke gegeben werden, Musikaufführungen sind gleichfalls auf solche kirchlicher oder sonst erhebender Art beschränkt. Wer teure Schläfer auf dem Friedhof hat, geht sicher dorthin, die Gräber zu schmücken und im Geist wehmütig Zwiesprach mit den Dahingeschiedenen zu halten. Sind aber die Hügel lieber Freunde und Verwandten an fernem Ort, finden gemütvolle Menschen sicher den versöhnenden Ausgleich, auf eins der zahllosen eingesunkenen Gräber, die keine Hand pietätvoll schmückt, ein paar Blumen zu legen, denn es soll aller Toten gedacht werden am Totenfest, und nichts so traurig, als inmitten all der geschmückten Gräber ein verfallenes, vergessenes Grab, dessen niemand mehr gedenkt. –

Als äußere Zeichen der Trauer schreibt die gute Sitte, je nach dem Grade der Verwandtschaft, verschiedene Formen vor. Die Witwe hat für das erste Jahr tiefe Trauer, das heißt, stumpfe schwarze Wollenstoffe mit Krepp besetzt, Schnebbenhaube aus Krepp und langen, fast zur Erde reichenden Kreppschleier am Hut, anzulegen. In den ersten Monaten vermeidet man Schmuck am besten ganz, später ist solcher aus Jet erlaubt, doch nicht zum Ausputz, sondern nur zu notwendigem Gebrauch wie Uhrkette,[218] Broche u.s.w. Nichts verwischt den Charakter tiefer Trauer in der Kleidung mehr als reicher schimmernder Perlenbesatz, der erst bei der gewöhnlichen Trauer, also nach Verlauf eines Jahres, gestattet ist. In diesen sechs Monaten trägt man dann stumpfe Seide, Spitzen und andere schwarze Gewebe nach Belieben, die weiteren sechs Monate des zweiten Jahres sind der Halbtrauer gewidmet und erlauben das Tragen von Grau, Weiß oder Lila. Die Kleider zur tiefen Trauer sollten stets schleppend sein, es erscheint würdiger und vornehmer.

Witwer trauern äußerlich nur ein Jahr, mit breitem Kreppstreifen um den Hut und in möglichst schwarzer Kleidung. Ist letztere grau oder sonst dunkelfarbig, ist auch der Kreppstreifen um den linken Arm unerläßlich, der sonst in jedem Fall geboten war, jetzt aber meist in Wegfall kommt.

Für Kinder um die Eltern gilt als vorgeschriebene Trauerzeit ein Jahr, dessen zweite Hälfte Halbtrauer oder doch gewöhnliche Trauer gestattet. Eltern dagegen werden um jüngere Kinder ja nur kurze Zeit äußere Trauer tragen, so schmerzlich und unbemessen das Herz auch trauern wird. Bei großen oder gar erwachsenen Kindern gilt ein Jahr als Trauerzeit. Geschwister um einander trauern sechs Monate, ebenso Kinder um Großeltern, um Onkel, Tante und Vetter, je nachdem sie uns nahestanden, drei Monate. Selbst wo Blutsverwandtschaft fortfällt, wird es Fälle geben in denen das Herz gebietet, auch äußere Trauer anzulegen, so unter guten Freunden, Verlobten und[219] überall, wo Menschen sich lieb hatten und durch den Verlust schwer getroffen wurden. Aber auch, wo letzteres nicht zutrifft, kann man veranlaßt werden oder ist es dem Verstorbenen schuldig, seinetwillen Trauergewänder zu tragen – so z.B., wenn wir zu den Erben gehören.

Kinder unter zwölf Jahren läßt man nicht tiefste Trauer anlegen, für das erste Kindesalter gilt weiß mit schwarzen Schleifen als Abzeichen der Trauer

Bei Hofe gelten bekanntlich andre Vorschriften für die Trauer, welche in jedem besonderen Fall öffentlich bekannt gemacht werden, ebenso beim Militär. –

Ist nun aber der Tote feierlich beigesetzt, so sind die mit dem Trauerfall verbundenen Pflichten für die Hinterbliebenen und den Freundeskreis noch nicht erledigt. Wenn die Bediensteten eines Trauerhauses ja schon zur Beisetzung Trauerkleidung oder doch einzelne Bestandteile derselben von der Herrschaft empfangen haben werden, so gilt es nun, diejenigen, welche mit der Pflege des Dahingeschiedenen betraut waren, oder sich dabei besonders verdient gemacht, durch Geschenke, am besten in Geld, zu belohnen. Auch Verwandte und Freunde wird man, falls solches nicht im Testament bereits vorgesehen, durch Andenken erfreuen, und sollten sie noch kein Bild des Heimgegangenen besitzen, ihnen ein solches überreichen. Dann gilt es, die empfangenen Beileidschreiben beantworten und, so schwer letzteres auch sein wird, all die Besuche empfangen, welche die Bekannten des[220] Hauses nach der Beerdigung abstatten werden. Diese Besuche mit ihren Beileidsbeteuerungen, den unvermeidlichen Gesprächen von und über den Verstorbenen werden bei allen wahrhaft Trauernden ja nur die frischen Wunden immer aufs neue bluten machen, und doch soll man Selbstüberwindung genug besitzen, der Marter nicht aus dem Wege zu gehen, indem man die Besucher abweist. Abgesehen davon, daß Teilnehmende ein Recht auf Berücksichtigung haben, wird es auch viel peinvoller sein, solchen am dritten Ort das erste Mal zu begegnen und dort die traurige Angelegenheit berühren zu müssen. Und da es einmal sein muß, sobald als möglich!

Die Besucher ihrerseits werden so viel Takt und Gefühl besitzen, sich nicht allzu seßhaft zu machen und möglichst schonend über das Schwere hinwegzugehen, das doch nun einmal im Gespräch berührt werden muß. Nur keine schalen Gemeinsätze bei solchen Veranlassungen, nur nicht krampfhafte Versuche, Trost zu spenden, wo doch die Zeit allein solchen zu bringen vermag! Alles kann ein tiefgetroffenes Herz, das unter der Schwere eines Verlusts zu brechen droht, ertragen, nur nicht das Gefalbadere über die Notwendigkeit der Schicksalsfügung oder gar besondere Gnade Gottes, die solchen Verlust auferlegte. Lieber sollte man in solchen Fällen auf das allgemeine Menschenschicksal hinweisen, dessen Grundbedingung von Uranfang an Schmerz und Kampf gewesen, und sein wird, solange es ein Menschengeschlecht[221] giebt. Oder man mag den Betroffenen an die Güter erinnern, die ihm geblieben, an die Pflichten, welche er zu erfüllen hat und die einen ganzen Menschen, keinen schmerzgebrochenen, fordern. Um die Toten sollte man nicht klagen, denn ihnen ist wohl. Selbst wenn einer in Jugendblüte und Glück dahinging – wissen wir denn, welchem schweren Schicksal er entzogen wurde? – Nur wer durch des Todes Pforte einging, ist geborgen vor Schmerz und Leid, denn ein Mensch heißt ein Kämpfer sein – bis zum Ende! Ob nun aber diese Beileidsbesuche Trost oder Pein brachten, zu erwiedern sind sie alle. Eine bestimmte Zeit, innerhalb welcher dies zu geschehen hat, schreibt der gute Ton zum Glück nicht vor, da es ganz von der Gemütsverfassung des Trauernden abhängen wird.

Zum Schluß hatten wir noch die Frage zu berühren, wann Verwitweten die Wiederverheiratung gestattet. Für die Frau schreibt schon das Gesetz eine Frist von neun Monaten vor, doch würde die Welt es ihr sehr verdenken, wenn sie nicht mindestens ein und ein halbes Jahr dem Andenken des verstorbenen Gatten weihte. Wenn sie vor dieser Zeit eine neue Ehe eingeht, wird man daraus auf die Innigkeit der nun durch den Tod gelösten, sowie auf die Gefühlstiefe der Witwe schließen können! Männern verzeiht man leichter, wenn sie bald wieder an die Schließung einer Ehe denken – was übrigens als Beweis gelten könnte, daß man bei ihnen weniger wahres Gefühl, weniger pietätvolle Treue voraussetzt als bei der Frau.[222] Doch werden auch sie in den meisten Fällen nicht vor Ablauf eines Jahres heiraten. Hört man hier und da, daß es schon nach Monaten geschah, wird jeder genau wissen, was von einem solchen Charakter zu halten.

Gedenkt aber ein Witwer sich nicht wieder zu vermählen, weil vielleicht eine erwachsene Tochter vor handen, welche dem Hauswesen vorstehen kann, wird er nicht außer acht lassen, daß diese, solange sie in jüngeren Jahren, also in den Zwanzigern ist, nicht ohne ältere Gesellschaftsdame ihr Auftreten in der Gesellschaft bewerkstelligen, ebensowenig im Hause größerer Geselligkeit vorstehen kann. Es ist also geboten, eine Hausdame zu gewinnen, welche bei der jungen Dame Mutterstelle vertritt; doch ist dies weniger Sache des guten Tons, als zarter Rücksichtnahme auf die Tochter. Wo die Verhältnisse derartige Rücksichten nicht gestatten, wird es auch ohne Hausdame gehen müssen, ohne daß dies dem jungen Mädchen zum Schaden gereichte oder die Welt es unpassend fände. Freilich, solange nicht Unpassendes geschieht – und darauf wird der Vater, dem keine Gattin mehr zu Seite steht, ihm die Erziehungssorgen und Repräsentationspflichten abzunehmen, doppelt streng zu sehen haben. Und dieser bereits die gesellschaftlichen Vorschriften streifende Hinweis mag uns hinüberleiten zu der folgenden Abteilung, welche sich mit der seinen Sitte, der Lebenskunst im Verkehr mit der Welt und Gesellschaft beschäftigen wird.[223]

Quelle:
York, B. von: Lebenskunst. Leipzig [1893], S. 210-225.
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