Bei der Kaiserin Friedrich in Cronberg

[104] Unsere Sommerferien beschlossen wir in dem geliebten Pontresina zu verbringen. Während meine Frau mit meiner neunjährigen Tochter Marie ihre Mutter in Stuttgart abholte, fuhr ich auf Einladung der Kaiserin Friedrich mit einigen jungen Fachgenossen nach Cronberg, da ich ihr die Anfertigung eines reichillustrierten Katalogs ihrer Sammlungen zugesagt hatte. Einzelne Teile dieses Werkes sollten von früheren Hilfsarbeitern meiner Abteilung, von Fr. Sarre, R. Graul u.a. übernommen werden, nachdem mein Freund Dohme, mit dem ich den Katalog hatte ausführen sollen, leider zu früh seinem langjährigen Lungenleiden erlegen war. Die Kaiserin hatte mich persönlich eingeladen, eine Woche in Schloß Friedrichstein[104] ihr Gast zu sein, um in Muße ihre Kunstwerke studieren zu können. Ich hatte entschuldigend geantwortet, ich müsse meine Familie in die Schweiz begleiten, würde aber auf einen Tag mit meinen jungen Freunden kommen, damit wir uns die nötigen Notizen machen könnten. Die Absage und der Überfall mit ihr unbekannten jungen Leuten schien Ihre Majestät geärgert zu haben. Sie erschien nur auf einige Minuten, um uns zu begrüßen. Als zum Frühstück gegongt wurde, war Graf Seckendorff so freundlich, uns zu sagen, jetzt würden auch wir Hunger fühlen, er könne uns ein gutes Restaurant gleich vorn in Cronberg empfehlen, wohin uns der mitanwesende Bibliothekar Ihrer Majestät, Herr Leinhaas, führen würde; später könnten wir weiterarbeiten. Die Überraschung war keine geringe, war doch unsere Arbeit die reinste Gefälligkeit und ging ganz auf unsere Kosten. Wir hatten bis zu dieser Kneipe eine Viertelstunde Wegs zurückzulegen auf staubiger, schattenloser Chaussee, bei ungewöhnlicher Hitze, wodurch unsere Stimmung nicht gerade gehoben wurde. Erst beim kühlenden Trunke, mit dem uns der Bibliothekar der Kaiserin, ein früherer Hilfsarbeiter des Kunstgewerbemuseums, Leinhaas, regalierte, gewannen wir unseren Humor wieder und schlossen unsere Arbeit im Palais noch vor dem Abend ab.

Quelle:
Bode, Wilhelm von: Mein Leben. 2 Bde, 2. Band. Berlin 1930, S. 104-105.
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