Thomas Theodor Heine und Münchens Künstlerleben am Ende des vorigen Jahrhunderts


Thomas Theodor Heine und Münchens Künstlerleben am Ende des vorigen Jahrhunderts

Wohl kein Künstler ist unter unsern gebildeten Volksschichten allgemeiner bekannt wie Thomas Theodor Heine. Man kann sagen: Sein Monogramm kennt fast jedes Kind.

Geliebt ist er wenig, desto mehr gefürchtet und weil er nicht vor dem Allerheiligsten, das ein jeder besitzt, haltmacht, sondern auch hier grausam an unser Herz faßt, von vielen bitterlich gehaßt.

Als Heine Mitte der achtziger Jahre von Düsseldorf nach München übersiedelte, stand diese Stadt als Kunstzentrale des ganzes deutschen Reiches auf ihrem Höhepunkt. Kunstjünger aus aller Herren Länder waren hier zusammengeströmt; wenn sie auch äußerlich durch ihre Rassen voneinander verschieden waren, so hatte sie doch seelisch ein gemeinschaftliches Band umschlungen, das teils aus demselben Streben nach den höchsten Zielen der Kunst – freilich wie sie jeder für sich verstand – und teils durch das gemütliche ungenierte Leben, das hier möglich ist, gewebt war.

Heine aber blieb ein Fremder; sein Sarkasmus und beißender Witz kennzeichnete ihn schon damals; seine Äußerungen wurden fleißig kolportiert, aber erweckten ihm auch viele Feinde.

Kunstpolitisch waren die Münchner Maler, Bildhauer und Architekten zu einer Münchner Künstler-Genossenschaft vereinigt. Alle vier Jahre arrangierte diese Gesellschaft eine[85] große internationale Ausstellung im Glaspalast. Je nachdem eine Arbeit auf diesen Internationalen als die hervorragendste angesehen wurde, bestimmte sie die Mode, und für die nächsten vier Jahre malte sich ein jeder in dieser Art satt. So bestimmte durch die Ausstellung von Anno 83 der »Bettler« des Bastien Lepage die Art und Weise der Münchner Kunst, bis wieder im Jahr 87 andere Ideale auftauchten.

Gesellschaftlich hatten sich nebst den Stammtischen in den verschiedensten Gastwirtschaften hauptsächlich zwei Vereine gebildet:

Die »gesellige Vereinigung«, von den Malern kurz das Spital genannt: ein Anhängsel der großen Genossenschaft und die Allotria, wo Lenbach thronte, umringt von seinen Adjutanten und dem eignen Vereinsdichter Gustav Schwabenmaier. Die Allotrianer bilde ten sich schon lediglich durch ihre Mitgliedschaft ein, etwas Höheres zu sein als jeder andere Sterbliche. Dieses Vorrecht wurde auch stillschweigend von den übrigen anerkannt.

Dachau und Heimhausen, Ortschaften in der Nähe Münchens, lieferten seit Jahren den Malern Anregungen für ihre impressionistischen Motive; Enthusiasten pflegten diese Stätten das bayrische Barbizon und Fontainebleau zu nennen. Das Freundespaar Dill und Hölzel aber übersetzte diese biedere deutsche Gegend sogar bis heute in das Schottische. Das war durch die Internationale von 87 gekommen, wo die Schotten es den Münchnern angetan hatten. Von da ab »schottenhammelte« alles, wie man witzelte.[86]

Die rammsnasigen gescheckten Pferde des beliebten Lehrers Diez und seine famosen Stegreifreiter wurden in elegische Schimmel und augenverdrehende fromme Rittersleute umgeändert; so entstand etwa ein heiliger Georg. Oder die harte blaue Luft des bayrischen Gebirgsplateaus bekam auf den Bildern das bewußte tiefe Blau mit hängenden gelben Wolken, wie man auf den Arbeiten der Schotten gesehen hatte. Die Modelle, welche so lange auf das fröhliche Lachen und den drastischen Habitus von kneipenden Wilderern oder auf das verschämte, aber vielversprechende Lächeln eines Tiroler Mad'ls, etwa Kathis oder Zenz'ls eingedrillt waren, mußten sich zu rhythmi schen großen Bewegungen und Gesten verstehen.

Diese Moden wurden von Heine ignoriert. Er hielt sich mehr an die französischen Impressionisten, die er vielleicht in Düsseldorf kennen gelernt hatte. Den Münchnern nämlich waren die Original-Künstler zu jener Zeit durch den vergötterten Bastien Lepage nur aus zweiter Hand bekannt, denn dieser hat sie auf seinen Bildern versüßlicht und dem Publikum mundgerecht gemacht.

Heine malte Menschen bei ihren Beschäftigungen im Freien oder in Innenräumen.

Was er aber auch malen mochte: eines fiel sofort auf: seine Arbeiten zeichneten sich stets durch eine Fertigkeit im künstlerischen Sinne aus, die nicht vollendeter gedacht werden kann. Kein Tasten noch Suchen, welches die Jugendwerke berühmter Künstler so rührend macht.[87]

Wir hatten zufällig Gelegenheit, in der letzten Künstlerbunds-Ausstellung in Berlin diese Erfahrung zu machen: Da war ein kleines Interieur von ihm aus dem Jahr 1887. Uhde hätte es nicht in seiner glänzendsten Zeit vollendeter machen können.

Auch andere Bilder aus diesen Zeiten beweisen dasselbe.

Das raschfließende Wasser der Amper bei Dachau mit den Spiralenspiegelungen der Weidenbäume und dem scharfen Grün des Ufers hat niemand richtiger dargestellt als er in seinem »Angler«.

Das Porträt eines jungen Malers mit Pudel in sonnigem Garten ist von einer Bravour, daß es sich nur durch eine delikatere und fast feminine Behandlung, die übrigens bei seinen sämtlichen Werken charakteristisch ist und daher wohl eine angeborne Eigenschaft ist – von den stärkeren Bildnissen derselben Art des Manet unterscheidet. Auch kommt in diesem Werke seine persiflierende Eigenschaft bereits zum Ausdruck durch die eigentümliche Kopfbedeckung und Handstellung, die er seinem Opfer gegeben hat.

Intelligenz und virtuoses Talent halten sich bei ihm die Wage: Er kann alles, was er will.

Andre Künstler bringen ein ganzes Leben hin mit mühevollem Ringen nach Vollendung in derselben Gattung. Was hat Rembrandt gekämpft, um die Lichtwirkung bis zur äußersten Höhe zu gestalten: welche kolossale Distanz ist zwischen seiner ersten Anatomie im Haag und seinem magistralen Fragment desselben Motivs im Museum von Amsterdam[88] oder den Bildnissen des Frans Hals aus seiner frühen Zeit und seinen beiden letzten in Haarlem. Ich glaube behaupten zu können, daß sich in solchem Streben und Ringen ein wärmeres Herz dokumentiert, was in der Kunst als Genie bezeichnet wird.

Ihm ist diese Art nicht gegeben und so führte ihn seine große Begabung, in welcher der Verstand über wiegt, neuen Bahnen zu. Alles, was ihn jetzt an seine erste Manier erinnerte, nannte er kurzweg Patzerei oder im besten Fall eine gute Anlage.

Die Japaner und die Meister der Gotik regten ihn an, die absolute Form und reine Linie zu kultivieren. Er emanzipierte sich von der Ölfarbe und bevorzugt von nun an farbige Stifte und trockenwirkende Farben. Seine weiblichen Figuren werden dünn und lang, im Sinne des Boticelli und der englischen Präraffaeliten mit einem perversen Stich an Beardsley gemahnend.

Zuerst zeigte sich sein neue Auffassung in den Illustrationen, die er den fliegenden Blättern lieferte. Dieses bürgerliche Witzblatt war noch immer die Alleinherrscherin unter gleichem Genre und Heine fiel aus diesem das Gefühl der Abonnenten hochschätzenden Unternehmen sonderbar heraus. Ob er von den Verlegern lange Zeit beschäftigt worden wäre, ist wohl sehr zweifelhaft, aber die Zeit genügte, um ihn für sein späteres so bekanntes Wirken vormerken zu lassen.

Sein erstes Gemälde aus dieser neuen Epoche ist »Die[89] Exekution«: Ein junger geckenhaft gekleideter Mann wird von einer dünnen Frauenfigur an Rosenketten über einen Steg geleitet, welcher zu einem im Wasser liegenden kahnartigen Schafott führt. Im Vordergrund bis zum Horizont ist das Wasser mit schwimmenden gradhalsigen Schwänen von schwar zer Farbe angefüllt.

Dieses ist der Inhalt des Bildes, aber seine grotesk komische und zugleich diabolische Wirkung kann nicht beschrieben, sondern nur von Angesicht zu Angesicht gewonnen werden. Ein Werk, das auch den Kaiser zu einem lauten Lachen zwang, als er im Jahr 93 vor der Eröffnung noch während des Hängens die Ausstellung am Lehrter Bahnhof in Berlin besichtigte. In dieser Ausstellung war nämlich die Münchner Sezession, zu der ich später kommen werde, zum erstenmal vertreten und »Die Exekution« einer ihrer Schlager.

Aber nicht allein Heine, auch die andern Münchner sehnten sich nach Veränderung. Die Leidenschaft für die Schotten war im Schwinden. Man sah sich bis auf das Freundespaar in Dachau, das, wie oben gesagt, heute noch weiter »schottelt«, nach anderen Vorbildern um; auch traten einige Jüngere wie Stuck u.a. durch ihre talentvollen Arbeiten in den Vordergrund des künstlerischen Interesses.

Es lag etwas in der Luft: »man steckt die Köpfe zusammen und ruft Hum!«

Man will zwischen den alle vier Jahre wiederkehrenden internationalen Kunstausstellungen solche einführen, die national und jedes Jahr wiederkehrend sein sollen.[90]

Zwar schüttelten einige im Spital, die lieber am Kneiptisch als an der Staffelei saßen, ihr schweres Haupt; aber das Feuer der Jüngeren, unterstützt durch die Beredsamkeit des alten Akademieprofessors Lindenschmidt, schlug alle Bedenklichkeiten zu Boden und so wurde der Gedanke zur Tat: Man hatte wie in Paris eine alljährliche Kunstausstellung.

Das erste derartige Unternehmen fiel, glaube ich, in das Jahr 1889 oder 90.

Lindenschmidt, der sich als Schöpfer dieser Ausstellung fühlte, wollte auch durch ein Bild sein Zusammengehören mit den Jungen bezeugen.

Er stellte ein Kolossalbild aus, »Arm und reich« betitelt; eigentlich sollte es aber den Sieg der hellen Farben über die dunkeln bräunlichen allegorisch verherrlichen: Hellgekleidetes junges Volk ergötzt sich an Spiel und Tanz in einem sonnendurchglühten Garten, während rechts an einem niedrigen Zaun entlang ein asphalttriefender Weg sich hinzieht, auf dem ein armes Weib in dunkeln Gewändern, auf dem Haupt ein Reisigbündel, an der Hand ein zerlumptes Kind, müde hinschreitet.

Dieses Bild erntete aber nur höhnisches Grinsen anstatt des erhofften Erfolges und ist still in den Orkus gesunken, aus dem ich es auf kurze Zeit herausholte, um die damalige Situation besser zu beleuchten.

Daß diese Neuerung andere im Gefolge haben mußte, war keinem Hellsehenden verborgen. Durch die Möglichkeit[91] des jährlichen Ausstellers wurde die Schaffenslust der Strebenden fortwährend in Atem gehalten. Folgerichtig kamen diese arbeitenden Künstler obenauf und eigneten sich in vielen Fällen die Führung an zum Ärger derer, die jetzt immer noch wie früher gewohnt waren, nur so viel mühselig zusammenzukitschen, wie sie zu ihrer Lebensnotdurft brauchten; denn bezahlt wurden ihre Machwerke und zwar meistens im Kunstverein, von dem sie gleich Pensionären regelmäßig ihre Ration erhielten.

Von diesem Kunstproletariat gab es und gibt es aber in München und Berlin eine schwere Menge. Vermöge ihrer minderwertigen Potenz waren sie auf den Ausstellungen entweder sehr schlecht oder gar nicht vertreten, aber kraft ihrer Zugehörigkeit zu der Genossenschaft hatten sie dieselbe Stimmberechtigung wie die ernst Arbeitenden.

Beschwerden über strenge Jury, die Mißtrauensvoten sehr ähnlich sahen, blieben, von dieser impotenten Majorität geführt, nicht aus. v. Uhde, welcher an der Spitze der Jury von 92 war, faßte derartige Intrigen als persönliche Beleidigungen auf, dazu kamen Zwistigkeiten wie bei jeder richtigen Revolution finanzieller Art, auch Feindseligkeiten zwischen der Korporation und ihrem damals allmächtigen Geschäftsführer Rat Paulus; und die Parteien stießen bei der im Oktober zusammengerufenen Generalversammlung so stark aufeinander, daß ein weiteres Zusammengehen ausgeschlossen war. Das Endresultat war, daß die Revolutionspartei erklärte, kein Teil oder Erbe an der Genossenschaft[92] haben zu wollen. »Jung-München sammle sich zu seinen Zelten.« Den nächsten Tag ging man an die Gründung einer neuen Vereinigung, die von da ab als Münchner Sezession genug in der Welt von sich reden gemacht hat.

Einen ähnlichen Krach, wie den, welchen diese Gründung mit sich brachte, hat es in München nie gegeben:

Der bayrische Hof, voran der Prinzregent, hielt es mit der alten Partei und war genau so böse auf die Abtrünnigen, wie der preußische Hof und der Kaiser auf die Berliner Sezession noch heute ist. Ein Jahr lang vermied der Prinzregent Atelierbesuche bei den Neuerern.

Aber noch größere Umwälzungen entstanden unter dem Künstlervölkchen selbst.

Zwanzigjährige Freundschaften, wo man seine letzte Halbe Bier im Notfalle miteinander geteilt hätte, lösten sich auf; an Spieltischen, wo jeder durch jahrelanges allabendliches Zusammenspielen genau wußte, welches Blatt er seinem Mann im Tarock oder Skat ausspielen mußte, sobald dieser abgewimmelt hatte, warf man sich die Karten an den Kopf und trennte sich auf Nimmerwiedersehen.

Es würde zu Weitläufigkeiten führen, wenn man all diese Unverträglichkeiten notieren sollte: wie Lenbach als pontifex maximus die dicksten Bannflüche auf die Mehrzahl seiner Allotrianer niedersausen ließ und andere tausend Sachen mehr.

Die Sezession blieb trotz all dieser Zerwürfnisse bestehen, wuchs und wurde ein Faktor, mit dem man in der Kunstwelt rechnen mußte.[93]

Im Sommer 1893 arrangierte der neue Verein Ausstellungen in München und Berlin zu gleicher Zeit. Den Heiterkeitserfolg, welchen das Heinesche Bild »Die Exekution« allerhöchsten Orts in Berlin verursachte, habe ich oben bereits geschildert.

Was und ob Heine in München in der Sezession ausstellte, ist mir entfallen. Es lag ihm wohl nicht daran, dort vertreten zu sein. War er doch auch einer der ersten, welcher bereits das nächste Jahr aus der Gesellschaft ausschied und sich ganz auf eigne Füße stellte. Er wollte überhaupt nicht mehr ausstellen. Wenn dieser Entschluß auch nicht so ernst zu nehmen war, so wurde er doch zur Wahrheit wenigstens für einige Jahre durch die Projektierung eines neuen Witzblattes, in dem er von dem Verleger als erste Kraft engagiert war. Genannt wurde dieses Blatt: Simplicissimus. Man hatte die französische illustrierte Wochennummer des Gil-Blas zum Muster genommen, aber auch zu gleicher Zeit neben dem allgemein Menschlichen, das dieses Blatt kultiviert, an eine politische Tendenz gedacht in sozialdemokratischem Sinne. Bald wurde aber von dieser ersten Anschauung Abstand genommen und die Geißelung aller Arten von Mißständen im Heiligen Römischen Reiche Deutscher Nation: in der Familie, in der Beamtenwelt und in der Diplomatie auf das Banner geschrieben.

Das von Heine verfertigte Plakat, welches an den Straßenecken in München das Erscheinen des Simplicissimus ankündigte, stellte eine zinnoberrote mächtige Bulldogge auf[94] schwarzem Grunde dar, die ihre Kette gesprengt hat. Das Urbild für dieses Ungeheuer war ein kleiner fetthalsiger und asthmatischer Mops, den Heine einige Zeit besaß. Das ist ein weiterer Beweis dafür, daß am mächtigsten wirkende Gegenstände oft den unansehnlichsten Modellen ihre Entstehung verdanken.

Von dieser ersten Arbeit an bis auf den heutigen Tag sind die unzähligen Zeichnungen Heines für den Simplicissimus das Salz und das Hirn dieses Blattes gewesen; selten hat ihm einer der übrigen Zeichner den Rang abgelaufen, was um so bewunderungswerter ist, da auch die andern Mitarbeiter dieser Zeitung auf höchster Kunststufe stehen. Liebermann nennt den Simplicissimus die letzte Blüte Münchner Kunstkultur.

Wie Heine mit seinen grausam wirkenden Karikaturen in der Welt anstieß und sich manchen Feind geschaffen hat, ist bekannt; sein Zusammenstoßen mit der Staatsobrigkeit wegen Beleidigung der Beamten, des Verstoßes gegen die Sittlichkeit und des crimen laesae majestatis wurde stets zu den interessantesten Feuilletonartikeln aller Tageszeitungen ausgenutzt. Phasen aus diesen Zeiten wären interessant genug, um eigenes Kapitel zu bilden, das aber mehr intim persönlicher Art werden würde und deshalb nicht hierher gehört.

Endlich nach jahrelanger Pause erschienen auch wieder Gemälde von ihm. Sie bildeten das Entzücken aller Beschauer, weil sie bei delikatester Technik zugleich als Motive interessierten:[95]

»Wolken, die vorüberziehen«. Ein Liebespaar aus der Biedermeierzeit, das wohl zum erstenmal schmollend nach verschiedenen Richtungen blickt.

»Die Vestalin« ist als Ausdruck perverser Sinnlichkeit wohl das Stärkste, was Heine je geschaffen hat.

Im vorigen Jahr war in der Künstlerbunds-Ausstellung außer dem bereits besprochenen Interieur von 1887 auch ein ganz neues Bild zu sehen: zwei kleine Mädchen mit weißem rosenbekränzten Lamm. Als Motiv könnte es wohl eine allegorische Verherrlichung der Unschuld bedeuten und dennoch, weil der ganze Heine dahintersteckt, ist es von ganz andrer Wirkung.

Interessant war es nun, diese beiden Werke, deren Entstehungszeit ungefähr achtzehn Jahre auseinanderlag, miteinander zu vergleichen: Das Interieur ganz auf Valeurs und Impression gestimmt, mit gespachtelter Farbe gemalt, dagegen das Neue mit glatter Farbfläche und zeichnerischer Behandlung nur auf Silhouettenwirkung berechnet. Wenn nun selbst bei schärfster Beobachtung beide Arbeiten kaum denselben Meister verraten, so haben sie doch den Charme und die Zartheit der Behandlung gemeinsam. Die Art, welche ich aus Mangel an einem mehr zutreffenden Ausdruck als feminin gekennzeichnet habe, wobei ich aber ausdrücklich erkläre, daß ich dieses Wort nicht als tadelnd angesehen wissen will.

Heine, in Leipzig geboren, steht an Jahren im Zenit seines Lebens; noch in den Dreißigern, hat er alles an Ehren[96] und Verdienst, was andere allmählich und mit Mühe dem Schicksal abringen, in hohem Maße erreicht. Die Flächenkunst verbirgt ihm keine Geheimnisse mehr, die es ihn locken würde, sich aneignen zu wollen; so ist er den Spuren Klingers gefolgt, der mit seiner ersten Beethovenskulptur die Konvenienz durchbrach, welche jedem Künstler nur ein bestimmtes Feld angewiesen haben wollte: Seine Teufelsbronze ist von einer Drolligkeit, die ganz sein Eigentum ist.

Seit Dezennien ist ihm der Teufel zu seinem lieben Gott geworden, an dem er immer wieder neu herummodelt, um ihn sich nach seiner Form zu bilden. Kein Fanatiker kann das Bild des Gekreuzigten mehr im Herzen haben, als er sein Luzifersymbol. Im Simplicissimus, in seinen Bildern taucht dieser Dämon immer wieder neu auf. Jetzt in der Bronze scheint er ihn sich vollständig zur Genüge gestaltet zu haben. Dieser langleibige, kropfige Geselle mit schlenkernden Armen und schlürfenden Beinen hat aus der Vergangenheit auf keine Verwandte hinzuweisen und weil er ein so ganz eigner Teufel ist, ist er auch ein vollständiges und ganzes Kunstwerk, durch das sein Schöpfer immer in der Menschheit leben bleiben wird, wenn seine Seele verdientermaßen schon in der Hölle schmort.

Neben diesen echt künstlerischen Werken laufen eine Menge dekorativer Erzeugnisse, die vermöge ihres Geistes ebenfalls zum Besten gehören, das geleistet werden kann.

Unter seinen Plakaten ist wohl das für die Berliner Sezession[97] am meisten bekannt: ein Muse küßt die Stirn der widerstrebenden Berolina.

Der Buchdeckel zu Prévosts Demi-vierges ist als Beispiel unter den übrigen rühmend hervorzuheben.

Wanddekorationen hat er in Auftrag bekommen für den Bierpalast des Augustinerbräus in München.

Es gibt wohl keinen Kunstzweig, in dem er nicht tätig gewesen wäre, und so ist es gekommen, daß Thomas Theodor Heine trotz seiner echt künstlerischen Eigenart in die breiten Schichten des Publikums gedrungen ist und als eine der wichtigsten Personen für die Erziehung des Volkes genannt werden muß.


Thomas Theodor Heine und Münchens Künstlerleben am Ende des vorigen Jahrhunderts

Quelle:
Corinth, Lovis: Legenden aus dem Künstlerleben. 2. Auflage, Berlin: Bruno Cassirer, 1918, S. 82-98.
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