Bedrängnisse und Schrecken

[143] Auf dunklem Grunde erscheinen oft die schönsten Farben, und schlimme Zeiten können den kleinen Freuden, die sie übriglassen, wohl zur Folie dienen. So war auch mein liebes Dresden im Frühjahr 1813 eigentlich kein Ort für Spiel und Tanz und die Zeit so böse, daß ich heute nicht begreife, wie wir Kinder überhaupt nur ungefährdet zueinander über die Straße kommen konnten.

Die mörderische Schlacht von Bautzen war geschlagen. Der Schnitter Tod hatte eine reiche Ernte im Schoße der Erde geborgen, und was er übrigließ, hatten die Ährenleser aufgesammelt. Zwanzigtausend mehr oder minder verstümmelte Muttersöhne wurden in die Dresdner Hospitäler eingespeichert, und viele Hunderte von Wagen, angefüllt mit den Jammergestalten Verwundeter, passierten unsere Fenster täglich. Die Stadt glich einem einzigen großen Lazarette, und aus den allerwärts, selbst in Privathäusern, dazu hergerichteten Lokalen tönte das Geschrei der armen Opfer, die von neuem unter den Messern der Chirurgen bluteten. Selbst wir Kinder wurden jezuweilen unfreiwillige Zeugen solcher Szenen, die noch lange Zeit danach in meine Träume reflektierten. Der Pöbel aber, welcher des Entsetzens nie genug hat, fabelte noch überdem von ganzen Ladungen unheilbarer Kranker, die, um mit ihnen zu räumen, nachts in den Strom geschüttet würden. Man haßte die Franzosen wie den Tod, man traute ihnen alles zu und glaubte alles. Wahrhaftig nein, das waren keine Zeiten für die Gedanken eines Freiers.

Es waren aber nicht allein die Kranken, auch die Gesunden zehrten an[143] dem Mark der Stadt. Die Häuser waren dermaßen mit Einquartierung überfüllt, daß im »Gottessegen« allein ab und zu bei fünfhundert Mann auf einmal lagen und wir uns auf wenige Hinterzimmer reduziert sahen. Auf den Straßen tobte ein ununterbrochenes kriegerisches Durcheinander; zahlreiche, fortwährend aus dem Westen anlangende junge Mannschaft wurde einexerziert, Adjutanten, Kuriere, Ordonnanzen jagten durcheinander, Batterien rasselten, und arme Bauern, die Vorspann leisten mußten, prügelten ihr müdes Vieh und wurden von den französischen Kommissären und Gendarmen selbst geprügelt. Mord und Totschlag fehlten auch nicht.

So schallte eines Abends, da wir eben zu Bette gehen wollten, von der entfernten Ränitzgasse über unseren Garten herüber der furchtbare grelle Schrei: »Herr Jesus Christus!« Dies Wort ward trotz der Entfernung deutlich von uns allen verstanden, und mir fuhr's durch Mark und Bein, als gleichzeitig mein Vater aufsprang und sagte: »Da ist ein Mensch erschlagen!«

Am anderen Morgen erfuhren wir, daß zwei französische Grenadiere sich eines Mädchens bemächtigt hatten; sie rief um Hilfe, und ein des Weges gehender sächsischer Dragoner, der ihr beistehen wollte, war unter obigem Geschrei mit gespaltenem Schädel zusammengebrochen.

Dergleichen Unordnungen erschreckten jezuweilen die Bevölkerung, obgleich man anderseits den französischen Behörden hinsichtlich ihrer Sorge für die öffentliche Sicherheit Gerechtigkeit widerfahren lassen mußte. Sie zeigten guten Willen und mochten tun, was sie konnten; aber die Zusammenhäufung von Kriegsvolk in der verhältnismäßig kleinen Stadt war zu bedeutend, und diese jüngste französische Armee zum großen Teil aus Gesindel aller Art zusammengesetzt. Eine eiserne Disziplin, wie sie die Russen hielten, mochte bei den damaligen Franzosen nicht möglich sein.

Zu solchen Drangsalen kam noch die Furie der Teuerung. Die unentbehrlichsten Lebensmittel waren kaum für Geld zu haben, und die Not erreichte eine solche Höhe, daß der Magistrat den Brotverkauf selbst an sich nahm. Mein Vater mußte in jener Zeit täglich in Person aufs Rathaus gehen, um zu erhalten, was ihm nach gewissenhafter Teilung zukam, und befremdlich genug sah es aus, wenn der treffliche Mann, unter jedem Arm ein Brot, nach Hause kam. Ein Sack Erbsen oder ein Pfund Reis waren damals namhafte Geschenke, die wohlhabende Familien sich untereinander machten.

Ich erinnere mich der Freude, die wir Kinder hatten, als es am 11. Mai, dem Geburtstage meines Bruders, der guten Mutter gelungen war, für Geld und gute Worte den ganzen Vorrat einer benachbarten Konditorei[144] auszukaufen, der doch nur in drei kleinen altbackenen Brottörtchen, das Stück zu einem Sechser, bestand. Damit schloß sie uns in eine Kammer, um zu verhindern, daß die herumlungernden Franzosen die Leckerei nicht wittern sollten. Wir aber dünkten uns an eines Königs Tafel. Die kleine Schwester neigte den Kopf zur Seite und verspeiste ihren Anteil brockenweis mit halb geschlossenen Augen, mein Bruder machte sich vier gleiche Teile und zählte zwischen jedem Teil bis fünfzig, und ich verschlang die ganze Herrlichkeit auf einmal.

Diese Not an Lebensmitteln ward durch den zehnwöchigen Waffenstillstand, der mit Anfang des Monats Juni eintrat, nicht wesentlich gemildert. Immer noch lebte die große Mehrzahl der Erwachsenen mehr von Angst und Ärger als vom Brote. Die ganze Umgegend war verwüstet und aufgezehrt. Dreißigtausend Garden mußten fortwährend allein von der Stadt erhalten werden, und der altangeerbte Wohlstand der meisten Hausbesitzer ging in die Wicken. Zwar brachte der Glanz des kaiserlichen Hoflagers viel Geld in Umlauf, aber kein Brot, und auch jenes floß wesentlich in die Taschen auswärtiger Spekulanten. Die hohen Gäste und die vielen Herrlichkeiten, die man zu sehen kriegte, wie z.B. die besten Kräfte der Pariser Bühne, halfen wohl verzehren, aber nicht ernähren.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 143-145.
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