Mein Vater will sich nicht einsperren lassen

[146] Der Monat Juli war zu Ende, desgleichen die Friedenshoffnungen, die sich an die Unterhandlungen in Teplitz, Prag und Dresden geknüpft hatten, und der Wiederausbruch der Feindseligkeiten stand in Aussicht. Es war nicht unwahrscheinlich daß die Verbündeten – gestärkt durch[146] den Anschluß Österreichs und Schwedens – jetzt darauf ausgehen würden, den Feind in seiner Operationsbasis anzugreifen, und mein Vater, der seine Familie den Drangsalen einer möglichen Belagerung nicht aussetzen wollte, entschloß sich, Dresden mit den Seinen zeitweilig zu verlassen. Ein Brief aus Anhalt gab uns die Direktion.

Bei Gelegenheit meiner Harzreise habe ich des freundlich am Fuße des Gebirges gelegenen Ballenstedt schon gedacht. Hier wohnte eine Schülerin meines Vaters und sehr werte Freundin unseres Hauses, die talentvolle, nachmals in weiten Kreisen bekannt gewordene Karoline Bardua. Sie hatte sich zum Zwecke ihres Studiums längere Zeit in Dresden, und zwar in unserem Hause, aufgehalten, wo sie sich der größten Wertschätzung erfreute. Selbst meine Mutter, die sonst für weibliche Genies sehr wenig Sympathien hatte, machte hier doch eine Ausnahme. In der Tat war Karoline auch eine von den Naturen, die in keinerlei Klassenbegriff aufgehen; man konnte sie mit hergebrachtem Maßstab nicht bemessen. Sie war etwas für sich und etwas Ganzes, was jedermann gern respektiert. Gutmütig, lebhaft, keck, ideenreich und hochbegeistert für Menschen und Dinge, kehrte sie sich im persönlichen Verkehr zwar nicht allzu streng an hergebrachte Formen und Redensarten, aber es lag nichts Anstößiges in dieser Freiheit, weil die geniale Frische und höchst achtbare Solidität ihres Wesens jede Überschreitung ausglich. Für die Kunst hatte Karoline Bardua entschiedenen Beruf. An Ausdauer, Fleiß und Konzeptionsfähigkeit übertraf sie ihr Geschlecht und zeichnete sich aufs vorteilhafteste vor allen übrigen Schülerinnen meines Vaters aus, der sich ihrer daher auch mit besonderem Interesse angenommen hatte und sich ihrer Erfolge herzlich freute, solange er lebte.

Jetzt nun hatte uns die dankbare, für ihren Meister und die Seinigen besorgte Schülerin seitens ihrer Eltern eingeladen, nach Ballenstedt zu kommen, wo das schön gelegene Barduasche Haus für alle Raum bot. Auch war jene saubere Bergstadt damals der rechte Ort für kriegsmüde Menschen, denn bis hierher war kein feindliches Bajonett gedrungen. Abgelegen und entfernt von großen Straßen, glich das Bernburgsche Oberherzogtum einer Insel, deren glückliche Gestade der stürmische Ozean nicht überschreiten darf. Freilich hatte der Herzog als Rheinbundfürst[147] auch seine Kontingente stellen müssen. Seine Truppen hatten sich in Tirol und Spanien geschlagen, und seine Kassen mochten den Krieg wohl fühlen; im allgemeinen aber erfreute das Land sich aller Segnungen des Friedens und nahm trotz der erhöhten Steuern an Wohlstand zu, da es seine reichen Ernten bei hohen Preisen vorteilhaft verwerten konnte.

Unter diesen Umständen waren meine Eltern schnell entschlossen und trafen die nötigen Vorbereitungen zur Reise. Vor allem mußte für die rückbleibende Margarete gesorgt werden, die keinen Platz im Wagen gefunden hätte. Sie wurde Schönbergs übergeben, welche gleich uns Dresden verlassen wollten, um sich eventualiter und fürs erste auf dem Bloßen niederzulassen. So hieß ein reizender Weinberg mit stattlichen Wohngebäuden und schönen Gärten, den Herr Schönberg in der Meißner Gegend besaß. Zwar hatte er es schicklich erachtet, dies Besitztum nach dem Namen seiner Frau in »Katharinenhof« umzutaufen, doch kehrte sich kein Mensch an die Verbesserung, selbst nicht die eigenen Kinder. Der alte gerechte Name triumphierte.

Margarete war somit wohlversorgt. Es wurde gepackt, und zwischendurch umarmte man die schwarze Tante und andere Freunde, die Abschied nehmend ab und zu gingen. Bei dieser Unruhe des Aufbruchs fand mich mein Vater eifrig zeichnend. Ich kopierte aus einem Almanach mit mühsamen Sepiapunkten die Gestalt eines kleinen Mädchens, das, am Wasserfalle sitzend, Vergißmeinnicht zum Kranze windet.

Für wen das werden solle, fragte der Vater. »Ach!« sagte ich gedehnt, »die Käthchen hat mich um ein Andenken geplagt.« – »Nun, so mache auch etwas Gutes«, erwiderte der Vater, nahm mir den Pinsel ab und arbeitete mir selbst hinein. Die Zeichnung gelang weit über mein Vermögen, und August übernahm es, sie an ihre Adresse zu befördern.

Es war in der Mitte des August des Jahres 1813, als wir unsere Reise in dem Mietwagen des Lohnkutschers Hempel antraten. Das Reisepersonal bestand aus der Familie und einem Mädchen meiner Mutter mit Namen Rose, die beim Kutscher saß. Ich erinnere mich der Abfahrt nicht mehr; wohl aber mögen meine Eltern Gott gedankt haben, als sie die Stadt im Rücken hatten, die damals ihren schwersten Ängsten, der Schlacht bei Dresden und der späteren Belagerung entgegenging.

Aber auch auf freiem Felde fehlte es nicht an Waffenlärm und Spuren der Verwüstung. Wir fuhren zunächst durch zerstörte Dörfer, und eine Brandstätte betrachtend, hatte meine Mutter sich etwas vorgebeugt. Sie schien aber kein Glück mit Aussichten zu haben, denn sogleich fuhr sie mit dem Ausrufe zurück: »Nun helf' uns Gott, da kommen gar die Türken!«[148]

Auch sahen wir uns in wenig Augenblicken von dichtgedrängten Haufen türkischer Reiter umgeben. Inzwischen erklärte mein Vater sie nur für verkleidete Franzosen. Es war das bekannte Mameluckenkorps, das Napoleon zum Andenken an Ägypten in den Ländern der Christenheit umherschweifen ließ. Meine Mutter schloß die Augen. Vor wirklichen Türken würde sie sich ohne Zweifel mehr gefürchtet haben, aber ihr Anblick hätte sie weniger verletzt als der von Christen, die als Türken gegen Christen zogen und jeden Augenblick gewärtig sein mußten, in ihrem Narrenkleide zu verenden.

Diesem Mameluckenmarsch entgegen konnten wir stundenlang nur langsam vorwärtskommen. Auch waren die Leute zum Teil betrunken, fingen Händel mit dem Kutscher an, schrien, fluchten, flunkerten mit blanker Klinge durch den Wagen und molestierten das Mädchen auf dem Bock, bis mein Vater Plätze mit ihr tauschte. So blieb die Reise bis Leipzig sehr beschwerlich, da wir überall Truppenabteilungen begegneten, die sich auf Dresden zogen. Alle Gasthäuser waren mit Offizieren überfüllt, das Nachtlager in Oschatz ganz abscheulich.

Dafür ward mir am zweiten Abende die Freude in Leipzig, meinen alten Lehrer Senff und den Freund Alfred zu umarmen. Wir blieben einen ganzen Tag bei Volkmanns, und ohne Zweifel sah ich in Leipzig recht viel Neues, doch hafteten nur Dinge, an denen nichts gelegen ist. So z.B. machte Alfred mich aufmerksam auf einen Herrn, der uns gegenüber im offenen Fenster lag und Tabak rauchte. Der Mann sah ganz wohl aus, hatte schwarzes Haar und schwarze Augen, eine große, feingebogene Nase und trug einen dunkelblauen Rock.

Ich solle ja nicht lachen, warnte Alfred, es wäre ein französischer Spion. Einen Spion hatte ich noch nie gesehen, wußte nur, daß man dergleichen aufzuhängen pflegte. Ich sah daher den Mann in seinem blauen Rocke schon am Galgen und gönnte ihm von Herzen diese Erhöhung.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 146-149.
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