Der Ölzweig

[186] Meine Eltern fühlten sich so wohl in Hummelshayn, daß fürs erste keine Rede vom Weiterreisen war, der Vater sich sogar zu seiner gewohnten Tätigkeit einrichtete und zu malen begann. Unter anderem entwarf und vollendete er hier ein Gemälde von halb prophetischer Natur, das mir noch lebhaft vorschwebt. Das Bild sollte zunächst den Sturz des Luzifer durch den Erzengel Michael vorstellen. Aber die dämonisch schönen Gesichtszüge des Luzifer erinnerten lebhaft an das Felsenantlitz des Helden von Korsika, wie die des Engels an den Kaiser Alexander – eine Beziehung, die heute vielleicht abgeschmackt sein würde, damals aber um so zulässiger erschien, als man in beiden Imperatoren die historischen Träger sich entgegengesetzter Prinzipien[186] erblicken wollte und nicht abgeneigt war, den nordischen Kaiser als Repräsentanten der großen Hilfe Gottes anzusehen, die man bereits erfahren hatte.

Wenn aber der Sturz Napoleons auch von Rußland her datierte, so konnte er doch nur durch die gemeinsame Anstrengung der Verbündeten vollendet werden. In der Bewaffnung, in den Farben und sonstigen Attributen des Engels fanden sich daher speziellere Beziehungen auf jede der alliierten Mächte, auf England, Österreich, Preußen. Der Schild z.B. mit dem Marien-Theresienkranze deutete auf Österreich, das Adlerschwert auf Preußen, der Greif über dem Helm auf die sich keck erhebende Volkskraft usw.

Man konnte damals noch gerecht sein, weil man unter den gewaltigen und wahren Eindrücken der Ereignisse stand. Man durfte sich gegenseitig gelten lassen, weil man sich gegenseitig noch brauchte. Aber schon ein oder zwei Jahre später wurde alles anders, und ein Bild wie dieses, welches Gott die Ehre gab und jedem seinen Anteil, wäre kaum noch da verstanden worden, wo man am wenigsten geprahlt hat, nämlich in Wien und Petersburg. Um ein Berliner Verständnis zu ermöglichen, hätte der Engel einem preußischen Landwehrmanne gleichen müssen, während John Bull ebenfalls nicht abgeneigt war, sich ganz allein für den großen Michael zu halten.

Als jenes Bild begonnen wurde, war der Ausgang des Krieges, obgleich man sich bereits auf französischem Boden schlug, doch noch sehr zweifelhaft; aber die Ereignisse rechtfertigten die Voraussicht meines Vaters, die Verbündeten zogen in Paris ein, Napoleon stürzte von seinem Kaiserstuhl ins Meer, der Friede wurde unterhandelt, und endlich erlebten wir eine Nacht, deren herzerhebende Feier mir immer unvergeßlich bleiben wird.

Es mochte neun Uhr abends sein, als wir, alt und jung, noch sämtlich auf dem Hofe waren, um uns der Kühlung des Abends zu erfreuen. Über das Staket des Gartens hingen die Blütentrauben des Zytisus und der Syringen, vom Hetzgarten herüber ertönte das Lied der Nachtigall und über das Dorf der ferne Froschteich. Die Eltern saßen im Gespräche beieinander auf der breiten Freitreppe des alten Schlosses, und wir Kinder rannten umher, mit Haselstöcken Kröten erlegend, die um diese Stunde ihre Promenade zu beginnen pflegten – als der pastor loci, ein kleiner, runder Mann, sehr eilig und erhitzt mit Hut und Wanderstab durchs Schloßtor schwenkte.

Ich habe den Namen dieses Herrn vergessen, vielleicht nie gehört, da er bloß der Herr Pastor genannt wurde. Ziegesars hatten wenig Umgang mit ihm, daher man ihn eigentlich nur auf der Kanzel zu sehen[187] bekam, wenn er seine Predigt hersagte. Desto häufiger erblickten wir die Frau, wenn auch nur aus der Vogelperspektive. Unsere Mansardenfenster hatten nämlich die Aussicht auf den Pfarracker, wo sich die Frau Pastorin fleißig zeigte, und zwar in Reiterstiefeln mit hochgeschürzten Röcken und einem dreieckigen Bauernhute auf dem Kopfe. So trieb sie unter Hott! und Hüh! ein Joch Milchkühe mit dem Pfluge vor sich her, oder auch sie düngte, hackte und beschaufelte das Feld. Sie besorgte allein die ganze Ökonomie des Pfarrhofes und war recht eigentlich der Großknecht wie auch der Großherr ihres Mannes, der für einen menschenscheuen und unbeholfenen Weisen galt, mit dem im praktischen Leben nichts Sonderliches anzufangen sei.

Heute war der Herr Pastor aber wie ausgetauscht. Er kam zu Fuß von Jena angerannt, wo er gelehrte Freundschaft begrüßt haben mochte, und brachte den Frieden mit. Diese Nachricht hatte er, einen Teil des Dorfes durcheilend, schon in die Fenster geschrien, und viele Leute folgten. Der nächtliche Schloßhof füllte sich mit Männern, und der Oheim ersuchte den von Freude berauschten, über sich selbst erhobenen Friedensboten, ein Dankgebet zu halten. Da verlieh ihm Gott ein fröhliches Auftun seines Mundes, und er sprach begeisterte Worte. Nach dem Amen aber stimmte er mit allem Volk das herrliche deutsche Volkslied an: »Nun danket alle Gott!« Ziegesars Jäger fielen mit ihren Waldhörnern ein, und weithin schallte der Lobgesang über das Dorf hinaus in die stille Frühlingsnacht.

Wir Kinder hatten den Krieg gar nicht als Last empfunden; jetzt aber war es uns doch zumute, als sei der Teufel aus der Welt gefahren, und da die Großen Hände schüttelnd durch die Reihen der Leute schritten und alles sich beglückwünschte und umarmte, umarmten auch wir Kleinen uns untereinander und die Eltern und den Pastor und die Bauern, und hatten großen Jubel. Die Männer aber hoben ihren Pfarrherrn auf die Schultern und trugen ihn nach seiner Wohnung.

Es war nun Friede in Europa! Und allerwärts ward er gefeiert mit Orgelton und Glockenklang, mit Kuchen und unendlich vielem Schießen. Man glaubte, einer herrlichen Zukunft entgegenzugehen, und eine Zeitlang ließ sich's auch so an – aber diese Erde ist kein Himmelreich; sie ist es nie gewesen und wird es nie werden. Die Franzosen freilich war man los; aber der Geist der Verneinung, dessen Repräsentanten sie gewesen, blieb, erstarkte je mehr und mehr und führte eine innere Feindschaft und einen Krieg der Ansichten und Meinungen herbei, der aufreibender ist als jeder andere und nachgerade unser Staats- und Kirchenleben in seinen Grundfesten erschüttert hat.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 186-188.
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