Vor dem Seetore

[17] In Dresden mieteten meine Eltern die erste Etage des Döpmannschen Hauses, das vor dem Seetore in der »halben Gasse« gelegen war. Diese halbe Gasse führt den Namen mit der Tat, denn sie erfreute sich nur einer Reihe Häuser, die eben deswegen freie Aussicht auf die gegenüberliegenden[17] Gärten gewährten, und meine Mutter, die, auf dem Lande aufgewachsen, städtischem Lärm abhold war, fühlte sich wohl in dieser blühenden Umgebung. Die Besitzerin des Hauses, eine Witwe Döpmann, trieb Landwirtschaft, hielt Pferde, Kühe, Schweine und Geflügel, wodurch der Aufenthalt im Hofe für mich genußreich wurde. Aus dem Hofe trat man in den Garten, der von der Katzbach, einem schmalen, aber tiefen Wasser durchschnitten war. Diesseits des Wassers war ein ausgedehntes Gemüsewesen, jenseits Wiesen, Obstbäume und Gebüsch. Über die alte Gartenmauer erhob sich aus Holundersträuchern ein Lusthaus, und daneben führte ein Pförtchen aufs Feld hinaus und weiter nach den Höhen von Recknitz und Plauen.

Noch steht mir das alles in so zauberischem Lichte vor der Seele, als wäre es ein rechtes Paradies gewesen, und das war es auch. Es war der schöne Garten Eden, in welchem ich den Morgentraum der ersten Kindheit träumte.

Meine erste, einigermaßen deutliche Erinnerung beginnt mit dem 20. November 1805, an welchem Tage ich drei Jahre alt wurde. Als ich am Morgen die Augen aufschlug, strahlten mich drei kleine Wachskerzen an, die auf weißgedecktem, mit Immergrün garniertem Tische um einen prachtvollen Kuchen standen. Daneben lagen bunte Sachen, unter denen mir eine Arche Noah und besonders ein Bilderbuch erinnerlich ist, dessen Hauptstück den Onkel Nachtwächter mit Spieß und Laterne zeigte. Das Entzücken, das ich empfand, mag Ursache der Unvergeßlichkeit jenes großen Augenblicks gewesen sein. Meine Mutter gab mir die Hand und sagte, daß mein Geburtstag sei. Dann wusch sie mich, scheitelte mir das Haar mit Sorgfalt und kleidete mich an. Der offenen Weste wurde ein Paar weite Hosen angenestelt, die hinten offen und mit Schleifen versehen waren; darüber kam ein türkischer Spenzer mit kurzen Ärmeln und an die Füße ein Paar Schnallenschuhe. So war der Anzug vollendet, der übrigens im Sommer wie im Winter Hals, Brust und Arme bloß ließ.

Nichts in der Welt ist Kindern schmeichelhafter, als sich bei allem, was Pflege heißt, in der Hand der Mutter zu wissen; mir wenigstens war es ein Hochgenuß, wenn meine Mutter mich selbst anzog oder mich zu Bette brachte, was sie auch in der Regel tat, wenigstens solange ich noch das einzige Kind blieb. Später freilich mußte ich es mir gefallen lassen, daß mir dergleichen Dienste von einer Kinderfrau geleistet wurden, welche Frau Venus hieß. Diesen hochberühmten Namen führte sie übrigens keineswegs wegen irgendeiner Ähnlichkeit mit jener Göttin, sondern bloß deshalb, weil ihr seliger Eheherr »Herr Venus« geheißen hatte.

Frau Venus war eine ehrsame Witwe und wurde bisweilen von ihren[18] beiden Söhnen besucht, welche, obgleich bedeutend älter als ich, doch ganz willig mit mir spielten. »Die anderen Jungens«, wie ich sie im Gegensatze zu mir selber nannte, waren meine ersten Freunde. Ich bewunderte ihre Kraft und Unerschrockenheit, und ich liebte es, mich in ihrer Gesellschaft auf der Straße zu zeigen; doch entwuchsen sie mir schnell, und ich verlor sie wieder aus den Augen.

Näher stand mir bald ein anderer Knabe von meinem Alter, mit dem ich fortan täglich spielte. Seine Mutter, die Witwe eines Predigers aus dem Erzgebirge, namens Engelhard, welcher auf einer winterlichen Berufswanderung seinen Tod im Schnee gefunden hatte, war ebenfalls ins Döpmannsche Haus gezogen, wo sie, wie eine rechte Witwe, still und eingezogen lebte und sich und ihren Sohn mit Strohhutflechten er nährte.

Mein Freund Ludwig Engelhard erschien mir in jeder Hinsicht vorzüglicher als ich und als die anderen Jungens, denn meine Mutter stellte mir ihn stets als Beispiel vor. Ich schloß mich ihm daher sehr herzlich an, und wir verkehrten miteinander aufs verträglichste. Nur eines einzigen Streites entsinne ich mich, der auch sogleich in Prügelei ausartete; und allerdings war es empörend, wenn Ludwig behaupten wollte, daß sein Vater den meinigen wie nichts bezwungen haben würde, wenn er noch lebte – meinen Vater! mein Ideal von Kraft und Würde! Frau Venus riß uns auseinander, und Ludwig ging zerzaust zu seiner Mutter. Die meinige aber stellte mir das begangene Unrecht so beweglich vor und wußte mich dermaßen zu erweichen – zumal sie mir zu bedenken gab, wie so gar elendiglich der Vater des armen Jungen im Schnee erstickt sei –, daß ich, von Leno geleitet, reumütig zu Engelhards hinausging und wegen meiner Heftigkeit Abbitte tat. Seit der Zeit waren wir erst rechte Freunde, und überhaupt gibt's keine wahre Freundschaft, die sich nicht erst wund gerissen und wieder ausgeheilt hätte an dem Bewußtsein gesühnter Schuld.

Zur Sommerzeit spielten wir, von Leno und, seit diese in die Küche avanciert war, von Frau Venus beaufsichtigt, in Hof und Garten; im Winter war das Zimmer meiner Mutter oder die angrenzende Kinderstube unser Tummelplatz. Hier stellten wir unsere Tiere auf, kutschten, balgten und, was uns ganz besonders Vergnügen machte, hier »schinderten« wir auch. Dies »Schindern« ist ein Dresdner Ausdruck, den mich, sowie die ganze Sache, Ludwig lehrte, und bedeutet soviel als auf dem Eise hingleiten. Nun war im Kinderzimmer zwar kein Eis; wir hatten aber zum Verdruß der Kinderfrau eine Planke der Diele durch fleißiges Glitschen so abgeglättet und poliert, daß sie von Erwachsenen nur mit Vorsicht betreten werden konnte. Diese Planke nannten wir »die Schinder«, und noch sehe ich meinen Freund Ludwig, wie er mit hochgerötetem[19] Gesicht und fliegenden Haaren als Meister darauf hinglitt. Auf diese Weise lernte ich frühzeitig, noch ehe ich aufs Eis kam, mich darauf behaben, ähnlich wie man in französischen Schwimmschulen ohne Wasser schwimmen lernt.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 17-20.
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