Anderweitige Folge

[368] Je unverständlicher meiner Mutter die kirchlichen Bedürfnisse und Strebungen des Vaters wurden – und zwar um so unverständlicher, je ernstlicher er sich dem Christentume zuwendete –, um so verständlicher und lieber wurden ihr jetzt seine Bilder. Der Geschmack meines Vaters hatte sich während eines mehrjährigen Aufenthaltes in Rom unter den Einflüssen einer Zeit gebildet, welche in ihrer Hinneigung zu klassischer[368] Kunst mehr noch als die Mediceische den Namen einer Renaissanceperiode verdiente. Man war in der Anschauungs-, Denk- und Darstellungsweise der alten Welt dergestalt verbissen, daß man, das dazwischenliegende Christentum ganz ignorierend, den Mythenkreis der Griechen für den allgenugsamsten Stoff hielt, alles dasjenige daran auszusprechen, was überhaupt noch einer Aussprache wert schien. So hatte sich denn auch mein Vater vorzugsweise in allegorisierenden Darstellungen mythologischer Gegenstände wohlgefallen und in diesem Genre viele Bildwerke geschaffen, welche jedoch, obschon sie ihrem Meister einen Namen machten, doch gerade diejenige Person nie recht befriedigen wollten, an deren Beifall ihm besonders gelegen war, und das war meine Mutter. Seiner Frau, hörte man ihn klagen, könne er nun einmal nichts zu Danke machen.

Diese schwer zu befriedigende Frau erkannte zwar sehr wohl, und mit nicht schlechterem Verständnis als die meisten sogenannten Kenner, den künstlerischen Reiz und Wert in jenen Bildern; aber die Gegenstände standen ihr meist nicht an. Der Knabe Ganymedes, vom Adler zum Olymp getragen, schien ihr ein Frevel am Ganymed, am Adler und am Olymp. Ein anderes Bild, Diana und Endymion – zwei nackte Personen beiderlei Geschlechts, in nächtlicher Einsamkeit zusammengeführt – beleidigte ihr Zartgefühl, wie es dagegen ihr Mitleiden erregte, daß jene arme Psyche, die so sinnig den Schmetterling auf ihrer Hand betrachtete, nicht wenigstens einen Zipfel des sie umgebenden Faltenreichtums zu ihrer Disposition zu haben schien, um ihre Blöße damit zu bedecken.

Nicht daß meine Mutter die Symbolik derartiger Mythen so ganz und gar verkannt hätte: sie wußte so gut als andere, daß zum Beispiel mit der Fabel des Endymion wesentlich nur der schüchterne Zug eines reinen Frauenherzens zu der Unschuld männlicher Jugend und Schönheit gemeint sein sollte, und erkannte auch vollkommen die Zartheit an, mit der mein Vater diesen Gegenstand behandelt hatte; dennoch aber hielt sie dergleichen Züge und Bezüglichkeiten der Darstellung kaum wert, wie sie denn ihrer ganzen Richtung nach in der griechischen Kunst, wenn sie auch noch so sauber auftrat, doch wenig anderes zu erkennen vermochte als eine Apotheose des Natürlichen, welches sie in seiner Nacktheit am liebsten unerörtert ließ. Sie sprach daher sehr wiederholt den Wunsch aus, daß es dem Vater doch gefallen möge, sich nach anderen Stoffen umzusehen, die würdiger und dankbarer seien als jene frostigen Allegorien einer untergegangenen Welt. Hohe, begeisternde Tatsachen wollte sie sehen, am liebsten erbauliche Momente aus den Geschichten der Heiligen Schrift, in welchen sie, je länger je mehr, die tiefste, auf alle Lebensverhältnisse passende Symbolik fand.[369]

Aber wenn der Meister ihr denn auch ab und zu einmal den Willen tat und sie damit stets hoch beglückte, so hielt er doch im allgemeinen historische Gegenstände für wenig malerisch. Es sei genug, meinte er, daß Tatsachen einmal geschehen seien, und weiter sei damit nichts anzufangen. Auch in der heiligen Geschichte hatte er die längste Zeit nur eine Reihe von Begebenheiten gesehen, deren historische Wahrheit ihm zweifelhaft war und deren tiefere Bedeutungen er nicht erkennen konnte, da ihm die innere Welt, deren Stimmungen sie entspricht, noch fremd geblieben. Endlich gab er noch zu bedenken, daß man dem Geschmacke der Käufer doch auch Rücksichten schulde, denn das Publikum, glaubte er, langweile sich an frommen Bildern, die es nicht verstände, und ihm selber sei nichts unerwünschter als eine zu feste Anhänglichkeit seiner fertigen Bilder ans Atelier.

Das war nun allgemach sehr anders geworden. Indem mein Vater anfing, christlicher Erkenntnis Raum zu geben, schwanden auch seine früheren Bedenken gegen christliche Motive, nach denen das neuerwachte Bedürfnis seines Herzens trotz der vorausgesetzten Langeweile des Publikums ihn jetzt häufiger greifen ließ. Das Repertorium der Werkstatt ward nach und nach ein anderes, da der Geschmack des Meisters ein anderer geworden. Die neuerkannte Wahrheit erschloß ihm eine neue Welt von Ideen, die sich fortan zu Bildern gestaltete, aus denen Buße, Glaubenszuversicht und jenes himmlische Erbarmen sprachen, dessen nur die Christusliebe fähig macht. Belege hierfür sind seine drei Johannisbilder, des Täufers, des Evangelisten und des Sehers, sein letzter Christus, sein Petrus und sein verlorener Sohn, mit dessen leider unvollendeter Darstellung er selbst ins Vaterhaus einging, und viele andere Bilder und Skizzen aus der letzteren Zeit. Und wunderbar! so wenig schien das Publikum durch die veränderte Richtung seines Lieblings gelangweilt, daß trotz der schweren Zeiten und der allgemeinen Erschöpfung nach dem langen Kriege nur selten ein Stück Arbeit trocken wurde, ehe es verkauft war.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 368-370.
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