Ein guter Lehrer

[403] Mein Vater war um jene Zeit in die Reihe der ordentlichen Professoren eingetreten. Er hatte sich von nun an am akademischen Unterrichte zu beteiligen, welcher unter die verschiedenen Meister dergestalt verteilt war, daß jeder nur für einzelne Monate, und auch dann nur für einzelne Tagesstunden, in Anspruch genommen war. Es war somit kein Dienst, der die eigene Arbeit beeinträchtigt hätte; wohl aber war ein verhältnismäßig hoher, von dreihundert auf tausend Täler steigender Gehalt damit verbunden und die Möglichkeit gegeben, sich um die Ausbildung zahlreicher junger Leute verdient zu machen; daher mein Vater sich der neuen Stellung freute.

Der angehende Professor ordinarius hatte seine Amtsführung im Gipssaal zu beginnen, wo ich seines Eintrittes mit einiger Spannung wartete, wie es denn jedem Sohne ein eigentümliches Gefühl sein mag, zuerst dem eigenen Vater als amtlichem Vorgesetzten zu begegnen. Ich war[403] etwas verlegen, als ich dies liebe Hausgesicht eintreten sah, und erhob mich mit den übrigen, dem neuen Lehrer eine respektvolle Verbeugung zu machen.

Soweit ging alles gut. Aber werden sie diese väterliche Gestalt nicht, wie die mancher anderer Professoren, in lächerlichen Attitüden an die Wände zeichnen? – Kunstwerke, zu denen sich niemals jemand bekennen wollte und die daher auch niemals nach Verdienst gewürdigt werden konnten. Ich hätte schwer Gelegenheit gefunden, einen deshalb zu koramieren. Inzwischen verleugnete sich der Einfluß, den die Persönlichkeit des Vaters auf junge Leute zu üben pflegte, nicht. Sein offenes, zutrauliches Wesen, seine Urbanität und die Meisterhilfen seiner Korrekturen gewannen ihm die Herzen auf der Stelle. Man drängte sich zu diesen Korrekturen, die ebenso fest und sicher als schonend waren, und jeder hatte dabei das Bewußtsein, daß der Meister ihm seine volle Teilnahme schenke und ihn gern fördern wolle. Er machte nicht allein auf Fehler aufmerksam, sondern auch auf den Grund derselben, überall dem Auge durch Verstand zu Hilfe kommend, und legte er Hand an, so wurde es besonders dankbar erkannt, daß er geflissentlich die Sauberkeit der Zeichnung schonte, um die Lust des Weiterarbeitens nicht zu stören. Nur mit leichter Kohle deutete er die nötigen Veränderungen an, oder wo diese bei allzu mangelndem Formverständnis nicht ausreichte, führte er einzelne Details am Rande aus, und zwar mit spielender Leichtigkeit in wenigen Minuten schaffend, wozu wir Stunden brauchten. Daß er's besser konnte als wir, begriff der Dümmste auf der Stelle, doch überließ er's jedem, ob er seinem Rate folgen wollte oder nicht, machte es sogar zur Pflicht, die Korrektur genau zu prüfen und niemals etwas wider das eigene Auge hinzuzeichnen. Auch ein alter Maler könne sich wohl irren, pflegte er zu sagen, und wo nicht, sei doch ein eigener Fehler gar nicht schlimmer als eine fremde Tugend. Aber die Prüfung gab dem Lehrer immer recht. Die Korrektur betrachtend, war man der Meinung, es sei, als ob die unfehlbare Natur sie selbst so hingeschrieben hätte.

Als der letzte Abend des Monats da war, nach dessen Ablauf die Klasse wieder in andere Hände gehen sollte, mochte es stillschweigend bei allen feststehen, sich für so treue Unterweisung zu bedanken. Aber gerade an diesem Abend fehlte mein Vater, da er zu spät mit mir vom Weinberge zurückgekehrt war. Da erschien andern Tags eine Deputation im »Gottessegen« und überreichte unter Koopmanns passender Ansprache eine Dankadresse, die ich ihrer einfach herzlichen Fassung wegen hier folgen lasse:
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Hochgeehrter Herr Professor!

Wie sehr haben wir gewünscht, Sie noch einmal bei uns im Gipssaal zu sehen! Ohne es vorher verabredet zu haben, hatte ein jeder auf eine herzliche Danksagung gesonnen für die liebevolle Art, mit der Sie uns behandelt und sich unserer Fortschritte angenommen haben. Wir haben es alle tief empfunden – können daher unmöglich unserer Rührung und Dankbarkeit Stillschweigen gebieten. Möchten Sie in unsere Seele blicken! Sie würden sehen (was wir zu sagen unvermögend sind), welch einen tiefen Eindruck Ihre Milde auf uns gemacht hat! usw. – Alle hatten unterzeichnet.

Der Gipssaal stand damals wegen seiner schon erwähnten selbständigen und sich dem Einflusse der Lehrer entziehenden Haltung nicht im besten Ruf bei der akademischen Behörde. Jetzt zeigte es sich indessen, daß dem widerspenstigen Rosse nur der rechte Reiter gefehlt hatte, denn es war nicht möglich, die eben erst beginnende Bemühung eines Lehrers demütiger und dankbarer anzuerkennen, als hier geschehen. Hat aber ein öffentlicher Lehrer erst die Herzen seiner Schüler, so wird ihm alles doppelt angerechnet, und so konnte es geschehen, daß jene günstige Stimmung durch einen an sich kaum nennenswerten Umstand noch gesteigert wurde.

Der lahme Berthold war auf einem einsamen, bei abendlichem Dunkel unternommenen Spaziergang von einigen jungen, ihm unbekannten und wahrscheinlich weinbegeisterten Offizieren, denen er nicht schnell genug ausweichen konnte oder wollte, ohne Umstände in den Graben geworfen und insultiert worden. Dieser an einem wehrlosen Krüppel verübte Übermut empörte die Genossen fast mehr noch als den Geschädigten selbst, und man spürte den Beleidigern eifrig nach, um sie auf eine Weise zur Rechenschaft zu ziehen, die wahrscheinlich zu allseitigem Nachteil ausgeschlagen sein würde. Namentlich war es Schill, der sich vermaß, er wolle diesen Puppen auf offenem Markte an die Köpfe klopfen, einerlei, was daraus folge. Dabei steckte er die großen pommerschen Fäuste in die Taschen seiner Reithosen, als wolle er sie an den daranhaftenden Erinnerungen zu Taten stärken; und allerdings war er ein Bursche, dem alles zuzutrauen war.

Mein Vater, der durch mich sogleich von der Geschichte hörte, trug mir auf, dahin zu wirken, daß unsererseits vorläufig nichts unternommen werde; dagegen tat er selbst persönlich und unverweilt die nötigen Schritte, dem gekränkten Berthold Genugtuung zu schaffen. Dieser saß nun eines Morgens im tiefsten Negligé in seiner Sofamulde und verspeiste[405] eine Pfennigsemmel zum zweiten Frühstück, als er sehr unerwarteten Besuch erhielt. Ein klirrender Offizier trat bei ihm ein, und Berthold, ein neues Attentat erwartend, griff nach seinem Krückstock und erhob sich ernsten Blickes. Doch jener hatte keine schlechte Absicht. Sehr höflich stellte er sich als Brigade-Adjutanten von der Artillerie vor und sprach zuerst sein eigenes, dann auch im Auftrage seiner angeschuldigten Kameraden deren lebhaftes Bedauern über den stattgehabten Vorfall aus, der ihnen allen herzlich leid sei und der eine Erklärung nur in der Dunkelheit des Abends fände, durch welche getäuscht, Berthold für eine andere Person gehalten worden wäre. Endlich teilte er diesem noch seitens seines Generals mit, daß jene Herren drei Tage Wachtarrest erhalten hätten, und fragte, ob diese Buße als zufriedenstellend angesehen werden würde.

Der gutmütige Berthold versicherte, daß ihm die entschuldigende Erklärung des Herrn allein schon genügt haben würde, und leistete für sich und seine Freunde gern das Versprechen, dieser Sache fortan eine weitere Folge nicht geben zu wollen.

Damit war die Sache erledigt, Simon zog seine Fäuste aus den Taschen, und alle hatten das Bewußtsein gewonnen, an ihrem Professor einen väterlichen Freund zu haben. Berthold kam persönlich seinen Dank auszusprechen und sich meinem Vater bei dieser Gelegenheit als speziellen Schüler anzutragen. Dasselbe tat auch Koopmann, und beide sahen jetzt mit mir dem Frühling entgegen, wo wir alle miteinander den ersten Ritt ins lustige Reich der Farben tun sollten.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 403-406.
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