Das Begerhaus

[217] Die Trennung von meinem Bruder ward mir schwerer, als ich geglaubt hatte. Wäre er freilich nur verreist gewesen, etwa auf vierzehn Tage oder auch vier Wochen, so würde ich die zeitweilig gewonnene Ruhe dankbar genossen haben, denn er hatte einen neckischen Geist und übte vielen Schabernack; nun war er aber auf immer fortgegangen und gänzlich losgetrennt vom Hause, mir nur die kärgliche Aussicht hinterlassend, ihn ab und zu besuchsweise wiederzusehen wie einen Fremden.

Nach solchem Abschied lernen Geschwister es erst erkennen, was sie aneinander hatten, und wie der brüderliche Umgang durch nichts, auch nicht durch Freundschaft, zu ersetzen ist. Ich putzte nun des Morgens meine Stiefel allein, trank meine Milch allein und ging allein mit meiner Mappe in die Schule. Manch Brünnlein des Humors versiegte, und tausend kleine Erlebnisse, die außer dem verlorenen Bruder kein anderer so würdigen und belachen konnte, mußte ich fortan für mich behalten. Ich wußte nichts mehr anzufangen mit meinem eigenen Witz. Dazu kam freilich, daß ich mich unwohl fühlte. Schon im Winter hatte ich an bösartigen Beängstigungen gelitten, und die Mutter, welche die Ursache in zu anhaltender Beschäftigung mit der Elektrisiermaschine suchte, hatte diese weggeschlossen, ohne jedoch das Übel damit zu bessern. Jetzt wurde der Arzt gefragt. Er glaubte ein Nervenleiden zu erkennen und verordnete Landluft mit Faulenzerleben. Soviel als möglich sollte ich mich in freier Luft bewegen, graben, hacken und mich vergnügen – eine Kur, die ich, sobald der Weinberg bezogen werden konnte, Gelegenheit hatte, auf das gewissenhafteste durchzuführen.

Unsere neue Sommerwohnung war zwischen den Dörfern Loschwitz und Wachwitz auf der Höhe des damals von Poncetschen Weinbergs gelegen. Es war ein kleines zweistöckiges Haus, nach einem früheren[217] Bewohner das Begerhaus genannt, mit hübschen, geräumigen Zimmern und an den Berg so angelehnt, daß man aus der oberen Etage geradeswegs auf eine Weinterrasse trat, die, von alten Walnußbäumen gegen die Mittagssonne geschützt, dennoch den Blick in die Ferne freigab. Die Lage war unvergleichlich. Etwa dreihundert Fuß hoch über der Elbe, gewährte sie weiten Einblick in ein buntes, traumartig schönes Land. Man übersah den Lauf des Stromes in einer Ausdehnung von wenigstens vier Meilen und darüber hinaus das weite Elbtal mit der fernen Hauptstadt und Hunderten von Dörfern, Kirchen und blinkenden Landsitzen, weithin bis an die Kämme des Erzgebirges und der böhmischen Berge.

In dieses liebliche Paradies zog der Vater mit uns hinaus, um hier eine Anzahl noch unvollendet gebliebener Berliner Bilder mit Muße auszuführen. Er malte Mäntel, Orden, Schals und ländliche Hintergründe, und die Mutter, welche trotz ihrer Kränklichkeit ein unverwüstliches Sprechorgan besaß, las ihm häufig dabei vor, Geistliches und Weltliches, und unter anderem auch die Flegeljahre von Jean Paul, die ihn in so hohem Grade amüsierten, daß er oft den Pinsel mußte ruhen lassen, um sich auszulachen.

Inzwischen erheiterte den rastlos Fleißigen auch noch ein anderer Umstand. Ich weiß zwar nicht, ob angenommen werden dürfe, daß mein Vater damals während seiner Arbeit ein Hühnereichen ausgebrütet habe; so viel aber ist gewiß, daß ihm eines Morgen ein kleines gelbes Kükchen mit krallen Augen aus dem Jabot hervorlugte und mit allgemeinem Jubel begrüßt ward. Er trug es fortan immer an sich wie eine Busennadel und versorgte es mit mütterlicher Zärtlichkeit. Beim Frühstück und nach dem Mittagessen ward es hervorgelangt und auf den Tisch gesetzt, wo es, die Brosämlein aufpickend, von einem zum andern spazierte. So wuchs es gedeihlich im Familienkreise auf und war bereits zur Ahnfrau eines künftigen Hühnerhofes ernannt, als es zum allgemeinen Schrecken zu krähen anfing. Es setzte Schwungfedern an und wurde ein so gewaltiger, menschenfeindlicher Hahn daraus, daß kein Auskommen mehr mit ihm war und er weggegeben werden mußte.

Was mich nun anlangt, so ging ich jeden Morgen auf ein paar Stunden bergabwärts nach dem nahen Loschwitz, um vom pastor loci geschult zu werden. Außerdem war ich ganz frei und konnte machen, was[218] ich wollte. Vergnügen machte mir die Gärtnerei, die freilich wenig schulgerecht betrieben wurde. Ich legte für meine Schwester ein Labyrinth aus Bohnenstangen an, enge, kraus verschlungene Gänge, die sich mit Feuerbohnen bezogen und zum traulich verborgenen Bänkchen führten, das ich gezimmert hatte. Da saßen wir beide, uns der Einsamkeit erfreuend, und sprachen von Geheimnissen.

Auch Wanderungen wurden angetreten, die zum Teil sehr lieblichen Seitentäler des Bergzuges zu durchforschen oder auf den Höhen im Tannenwalde Pilze zu suchen, die dort in großen Nestern wuchsen und in der Küche stets willkommen waren. Bei Gelegenheit solcher Pilzjagd, die den Blick zur Erde zog, entdeckte ich ein eigentümliches Insekt, das ich anderwärts nie wieder angetroffen habe, den sogenannten Ameisenlöwen. Das sandgraue Tierchen ist von der Größe einer Buschwanze und bildet, indem es sich in den lockeren Sand wühlt, einen kleinen, sehr regelmäßigen, etwa zolltiefen Trichter, in dessen Tiefe es, unter Sand verborgen, unsichtbar lauert. Sobald sich nun eine Ameise am Rande des Trichters zeigt, so spritzt das Untier Sand auf, der den kleinen Wanderer ziemlich sicher hinab in die Tiefe reißt. Vergebens sucht er sich wieder herauszuarbeiten, neue Kartätschen erreichen ihn unausbleiblich, und immer rollt er wieder hinab in den Schlund, bis es dem Räuber gelingt, ihn mit seinen gespenstischen Fangarmen zu fassen und zu sich in die Unterwelt zu ziehen.

Um meiner Schwester dies zu zeigen, setzte ich eine Ameise an den Rand eines solchen Höllentrichters. Alsbald begann die Kanonade aus verborgener Batterie, und das arme Tierchen war seinem Schicksale verfallen. Die Schwester tadelte meine Grausamkeit. Wer konnte auch wissen, wie tief Ameisen empfinden und wie schmerzlich dergleichen Opfer von den Ihrigen vermißt werden mochten? Waren es nicht gar kluge kleine Tiere? Sahen wir nicht, mit welcher Sorgfalt sie ihre großen Eier an die Sonne trugen und wieder wegschleppten, wenn es regnen wollte? Bewunderten wir nicht die Riesenstärke dieser Zwerge, und wie sie in Staaten beieinander wohnen, da jeder sein Amt und seinen Beruf zu haben scheint? Da schleppten zwei gemeinschaftlich einen lebhaften Wurm hin, zehnmal größer als sie beide zusammen, andere trugen Tannennadeln zum Bau herbei oder räumten Sandkörner beiseite, und jeder schien zu wissen, was er tat und wollte.

Auf der großen Heerstraße, die zur Hauptstadt führte, entstand Tumult. Der Haufe der ab und zu laufenden Arbeiter trieb auseinander, und es bildete sich ein Kreis, in dessen Mitte zwei ritterliche Kämpen auf Leben und Tod turnierten. Es mußte dies ein Zweikampf sein, wahrscheinlich infolge mündlicher Beleidigung, denn Tatsächliches hatten[219] wir nicht wahrgenommen. Da brach der eine Streiter tot zusammen, die Umstehenden eilten herbei, die Leiche wegzuräumen, und die Strömung auf der Chaussee nahm wieder ihren ordentlichen Verlauf, als wäre nichts gewesen.

Dagegen zeigte mir die Schwester denn auch, was sie entdeckte, ein Rotkehlchennest z.B. in der Weinbergsmauer. Niemand durfte es außer uns wissen als die Eltern und die Köchin, und sonst war niemand da. Wir sahen die Alten brüten, dann füttern und freuten uns an dem Familienleben der kleinen Wesen. Dergleichen Beobachtungen können Kinder auf dem Lande täglich machen und etwas dabei lernen und gewinnen, nämlich ein respektvolleres Erkennen des lebendigen Lebens in der Natur, welche Städtern leichtlich nur als gemalte Kulisse erscheint. Was aber in Form und Gestaltung erfreut, ist doch immer nur das Leben, das sich in ihnen ausprägt.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 217-220.
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