Lorchen

[87] Die Tage in Halle verflossen angenehm und schnell. Mit Arbeit pflegte mein Lehrer mich nicht zu übernehmen, zu meiner und wohl auch seiner Schonung. Ich schrieb des Morgens mit halbzölligen Buchstaben an meinem Tagebuch, welches von Zeit zu Zeit unter Senffs witziger Aufschrift: »Meister Wilhelms Wanderjahre« an meine Eltern abging. Das war alles; und übrigens tat ich, was ich wollte, wenn ich's nicht vorzog, zu tun, was Lorchen wollte, die sich gern mit mir befaßte und deren sanftem Kommando ich willig unterlag.

Unter diesen Umständen geschah es, daß ich eines schönen Nachmittags beim Kaffee, den ich nicht trinken durfte, und gelangweilt vom Gespräch der Großen, das ich nicht verstand, mit der Hand in meine Tasche fuhr und darin ein Stück Bindfaden fand. Das gab sogleich Ideen. Ich verlief mich in den Garten, zäumte eine zerbrochene Bohnenstange als Reitpferd auf und wandelte ein Nelkenstäbchen mittels angehefteter Parierstange zum Schwert um. Für die Koppel wollte der Faden nicht mehr reichen. Ich steckte daher die Waffe bloß durchs Knopfloch, und so ausgerüstet, sprengte ich meiner Freundin ritterlich entgegen.

Lorchen besah mein Schwert, lobte es und schenkte mir ein schönes himmelblaues Band, das sie mir als Wehrgehenke um die Achsel schlang. Dann brach sie einen Lilienstengel voll duftend weißer Glocken und gab ihn mir mit dem Bemerken, daß Ritter Lilien in der Hand haben müßten. Übrigens – sagte sie – wohne sie dort im Gartenhäuschen, und wenn ich mich müde geritten, sollt' ich sie besuchen.

Ich warf mein Pferd herum, tummelte es durch alle Wege, ließ es über die Rabatten springen und war noch gar nicht müde, als ich schon zum[87] Gartenhäuschen einschwenkte. Lorchen saß mit einem Buche auf der Schwelle. Ihre frischen Farben und ihr dunkles Haar, in das sie mittlerweile ein weißes Röschen eingeflochten, harmonierten lieblich mit ihrem himmelblauen Kleide, und ich sah zum ersten Male, daß meine Freundin schön war.

Sie habe da eine herrliche Geschichte, rief sie mir entgegen, die wolle sie mir vorlesen; wenn ich's möchte. Wohl mochte ich das und ließ mich gern an ihrer Seite nieder, während sie mit heller Stimme den »Handschuh« von Schiller vortrug und mich damit die erste Bekanntschaft des großen Dichters machen ließ. Oh, wie umhüpften diese wohlklingenden Verse mein Ohr, so leicht und lieblich, und umgaukelten die Phantasie mit buntem Wechsel der lieblichsten Bilder. Etwas Schöneres glaubte ich nie gehört zu haben und täuschte mich auch schwerlich.

Lorchen fragte, wie mir's gefallen. »Hübsch!« sagte ich, schwang mich auf die Bohnenstange und jagte wieder durch den Garten. Ich war natürlich der Ritter Delorges, Lorchen die Kunigunde; aber ich dachte: verlassen werd' ich sie deswegen doch nicht. Als ich zurückkam, sollte das Lesen zur Abwechslung an mir sein. Ich nahm das Buch und las standhaft wie ein Kantor, während Lorchen gefaßt gen Himmel blickte und den Lilienstengel, den sie mir abgenommen, auf und nieder wiegte. So ging es Tour um Tour, und ich fand Wohlgefallen an so gelehrter Unterhaltung.

Ähnliche Spiele wiederholten sich fortan fast täglich. Ich raste durch den Garten mit einer Hast, als hätte ich meilenweite Strecken zurückzulegen, um zu dem Pavillon zu kommen, wo Lorchen mich empfing, mich mit Erdbeeren, Stachelbeeren, Pflaumen stärkte und wir dann miteinander in den Zauberhain der Dichtung traten. Wir lasen Schillersche und Bürgersche Balladen und anderes, was ich vergessen habe. In der Tat weiß ich es nicht, wo jenes gute Mädchen die Geduld hernahm, so ausdauernd mit mir dummem Jungen zu verkehren. Freilich stand sie selbst damals den träumerischen Phantasien der Kindheit wohl noch näher als den Interessen reiferer Jahre, und in der Einsamkeit ihres zurückgezogenen Lebens mit zwei alten Leuten mochte meine Gesellschaft ihr lieber sein als keine. Ohne sie wäre ich damals schwerlich vom Heimweh freigeblieben, zu dem ich immer neigte; sie aber gab jenen Tagen in der Fremde Blumenduft und Schimmer und war so allerliebst und gut mit mir, daß ich ihrer freundlichen Gestalt noch heute nicht ohne Rührung denken kann.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 87-88.
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