Mein Geheimnis

[91] Daß Halle ein Ort ist, wo junge Leute was profitieren und zu neuen Anschauungen gelangen können, muß schon aus dem Vorhergehenden erhellen, und dennoch bin ich mit dem Wichtigsten noch im Rückstand.

Meine Mutter, die in ihrer Kindheit mit abstraktem Religionsunterrichte, den eine alte Gouvernante erteilte, schrecklich gelangweilt worden, mochte wünschen, uns vor gleicher Belästigung zu bewahren. Im Einverständnis mit dem Vater und unseren Miteltern Volkmanns war die Religion daher von unserem Schulplan abgesetzt. Das Heilige sollte nicht wie lateinische Grammatik traktiert werden; es durfte nicht zur Schulplage werden, sollte uns vielmehr Herzenssache, Erhebung, Trost und Freude bleiben – und allerdings, wenn die Mutter gelegentlich in stillen Feierstunden mit uns Kindern von göttlichen Dingen sprach, so war dabei kein Leiden, nur herzerhebende Erbauung. Daß diese Unterhaltungen, die wir alle liebten, nichts anderes als die Religion zum Gegenstande hatten, ahnten wir nicht im geringsten. Unter Religion dachten wir uns vielmehr etwas ganz Apartes, für Kinder Unzugängliches, wovon nur zu reden unsererseits die äußerste Affektation verraten würde. Als daher Ludwig Engelhard einmal unter den Lehrgegenständen seiner Schule auch der Religion gedachte, so schien uns dies für seine Jahre ebenso unpassend, als wenn er in der Astrologie oder Kabbala unterrichtet würde, und wir befragten unseren Lehrer, ob es wohl wahr sein könne.[91]

Um uns also die Religion nicht zu verleiden, verschonte man uns mit ihrer schulgerechten Unterweisung, und aus ähnlichen Gründen mochten wir denn auch in keine Kirche kommen, mit Ausnahme der katholischen, die Senff der geistlichen Konzerte wegen, welche dort gegeben wurden, ab und zu mit uns besuchte. Der mit den Eltern ganz einverstandene Lehrer mochte denken, daß wir von der Predigt doch nichts verstehen, uns langweilen und endlich einen Widerwillen vor öffentlichen Gottesdiensten in unsere reiferen Jahre mit hinübernehmen würden, vor welchem Nachteil man uns bewahren wollte. Daß gerade das Gegenteil damit erreicht wurde, lehrte später die Erfahrung.

Obgleich ich nun in Halle mitten in einem Pfarrhause lebte und dieses wie ein Sperlingsnest am Gotteshause angeheftet war, wurde ich hier dennoch nach denselben unkirchlichen Grundsätzen behandelt; und als am ersten Sonntagmorgen, den ich hier verlebte, die anderen alle zur Kirche gingen, schien es mir ganz selbstverständlich, daß ich zu Hause blieb. Ich wußte es nicht anders und hatte kein Verlangen nach einer Sache, die ich nicht kannte. Allein gelassen, schrieb ich vorerst einige Zeilen an meinem Tagebuche und schlenderte dann aus Langerweile im Hause herum, bis ich zufällig die offene Bodentreppe fand.

Rumpelkammern und Bodenräume haben für Kinder ein bedeutendes antiquarisches Interesse. Ich machte mich sogleich ans Werk, den alten Trödel des Hauses zu durchstöbern, als meine Aufmerksamkeit sich plötzlich einem anderen Gegenstande zuwandte. Mir war's, als hörte ich sprechen. Ich horchte auf: da schwieg die Stimme, aber es umschwebte mich ein wundervoller Klang, immer mächtiger anschwellend gleich den Orgeltönen, die ich zu Dresden in der katholischen Kirche gehört hatte. Darauf ging es in Harmonien über, und bald durchbrauste ein mächtiger, vollstimmiger Gesang aus Hunderten von Kehlen den einsamen Boden – ich aber stand da mit offenem Mund und Ohren wie ein Behexter. Doch bald erwachte der von Senff gepflegte Forschungstrieb: ich mußte der Sache auf den Grund gehen und examinierte die Lokalität so lange, bis ich dort oben an der Giebelwand eine viereckige Öffnung gewahrte, die nicht ins Freie zu gehen schien. Von dort drang offenbar der Tönestrom herein. Ich baute mir ein Treppchen von ein paar Kisten, kletterte hinauf und schmiegte meinen kleinen, biegsamen Körper in die tiefe Fensterbrüstung, die ich fast gänzlich ausfüllte. Da hockte ich wohlgeborgen wie eine junge Mauerschwalbe und blickte in den oberen Raum der Moritzkirche, sogar bis auf die Kanzel, wenn ich mich vorbog, was übrigens des Hinunterfallens wegen vermieden wurde.

Ich war bis dahin, wie gesagt, ein Fremdling im Hause meines Gottes gewesen, ich hatte keine Idee von einem öffentlichen Gottesdienst gehabt[92] und wußte weder, was ein Choral, noch was eine Predigt war. Von alledem ward ich heute zum ersten Male Zeuge, und was ich dabei empfand, ist unaussprechlich. Kinder sind eines hohen Aufschwungs ihrer Gefühle fähig, und möglich, daß ich bei aller meiner Religionslosigkeit in meinem Mauerloche andächtiger war als irgendeiner der exzentrischen Schreier, die da drinnen Gott mit lauter Stimme priesen. Hätte ich mitten in der Gemeinde gesessen, so wäre ich vielleicht weniger gerührt gewesen, aber dieser Gottesdienst hatte für mich zugleich den Reiz der Heimlichkeit, die von Salomo gepriesene Niedlichkeit des gestohlenen Brotes, und »keine Kohle, kein Feuer kann brennen so heiß, als heimliche Liebe, von der niemand nichts weiß«, welche Liebe man auch in Andacht transportieren kann.

Da schwieg die Orgel, und es begann die Predigt. Ich beugte mich neugierig vor und stürzte zwar nicht hinunter, wohl aber erblickte ich die ehrwürdige Gestalt des alten Senff in seinem schwarzen Chorrock. Ich konnte alle seine Worte hören, und sie dünkten mich sehr fromm und gut, obgleich ich schwerlich verstand, wovon die Rede war; doch ist das Nebensache, wenn man sich nur erbaut.

Als das Amen gesprochen wurde und die Kirchengebete begannen, fühlte ich übrigens, daß es genug sei. Ich schob mich aus meinem harten Neste heraus und kletterte herab, dehnte und streckte mich mit Behagen und gelobte mir, mein köstliches Geheimnis für mich zu behalten. Dies gelang auch bis zum nächsten Sonntag, wo Lorchen mich hier entdeckte und es nicht leiden wollte, daß ich ferner in das Loch kroch. Sie saß noch mit mir auf der Kiste, bis der Gesang zu Ende war; dann kam ich niemals wieder her.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 91-93.
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