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[106] Die durch Geist und Herz, wie durch jeden persönlichen Wert gleich ausgezeichneten Brüder Joseph und Karl von Zezschwitz, beide im[106] höheren Staatsdienst und etwa um jene Zeit durch Amt und Beruf nach Dresden geführt, hatten sich meinen Eltern schnell befreundet. Sie sowohl als ihre liebenswürdigen Frauen gehörten nach Geburt und Neigung der Brüdergemeinde an, welche damals vorzugsweise eine Trägerin reiner und gesunder Gotteserkenntnis war, und nach dieser Richtung hin erschlossen sie jetzt auch unserem Hause ganz neue Kreise von Ideen und Menschen. Durch sie wurden die Eltern mit einer Klasse von Personen bekannt, welche die Welt zu allen Zeiten mit den unliebsamsten Bezeichnungen, als Heuchler, Frömmler usw., zu brandmarken und zu kreuzigen pflegt, und namentlich war meine Mutter aufs freudigste überrascht, gerade unter solchen die trefflichsten Menschen zu finden, einem Geschlechte angehörig, nach welchem sie bis dahin in unbestimmter Herzensahnung vergeblich ausgesehen hatte.
Die hervorragendste Erscheinung unter diesen neu gewonnenen Freunden und Bekannten war eine hochgestellte Dame, eine Burggräfin zu Dohna, geborene Gräfin zu Stollberg-Wernigerode, in welcher meine Mutter die Realisierung ihres höchsten Ideals von weiblicher Anmut und Würde zu erkennen glaubte und die sie daher bald und zumeist vor allen Frauen ihrer Bekanntschaft liebte und verehrte. Wir Kinder blickten zu ihr auf wie zu einem höheren Wesen, und mein Vater wünschte sie katholisch, damit der Papst sie kanonisieren könne.
Auf dem schönen Gute Hermsdorf, zwischen Dresden und Königsbrück, lebte die Gräfin in häuslicher Stille und Zurückgezogenheit mit ihrem gleichgesinnten, streng kirchlichen Gemahl, mit welchem sie nur selten in die Stadt kam, dann aber immer bei uns vorsprach. Sie war eine Frau in ihren besten Jahren, von einnehmendstem Äußeren, mit weichen, dunkeln Augen, etwas bräunlichem Teint und einem Gesichtsausdruck so still und würdig, wie etwa Perugino ihn seinen heiligen Frauen zu geben wußte. Auf ihrer ganzen Erscheinung lag eine Weihe, die mehr oder weniger alle berührte, die sich ihr nahten, und wer von ihr ging, nahm sicherlich auch einen Segen mit.
Nicht, daß diese teuere Gräfin gepredigt hätte wie ihre berühmte Zeitgenossin, die Frau von Krüdener, aber die wunderbare Hoheit ihres durchaus demütigen Wesens, die herzliche Teilnahme im Ausdruck ihres schönen Auges, die Treuherzigkeit im Ton der Stimme und am rechten Fleck ein gutes Wort der Aufmunterung, des Trostes, der Anerkennung oder Bitte, sowie auch eine stets sich gleichbleibende Heiterkeit des Geistes, das waren ebenso unabsichtliche als starke Zeugnisse[107] von der Kraft und Herrlichkeit des Glaubens, der in ihr lebte und Gestalt gewonnen hatte. Die Leiden und selbst die Sünden anderer, auch die an ihr begangenen, fühlte sie als ihre eigenen. Sie hatte daher Entschuldigung für alles und herzliches Erbarmen für jeden Irrenden, insonderheit auch für die Feinde des Namens Jesu, deren Feindschaft sie doch auch selbst nicht selten traf. Denn so hoch die Gräfin von denen verehrt ward, die das Glück hatten, ihr persönlich nahen zu dürfen, so traf dennoch auch sie die Schmach Christi von seiten so mancher, die sie nicht kannten, und die Verleumdung ward nicht müde, recht bösartige Gerüchte über sie in Umlauf zu setzen. Sie war aber darüber weder verwundert noch erbittert, da es ja ihrem heiligen Herrn und Meister nicht anders ergangen und ihr, als seiner Jüngerin, nichts Besseres verheißen war. Dergleichen Persönlichkeiten aber predigen durch ihr bloßes Dasein eindringlicher und besser als alle Eloquenz der Kanzeln; doch wußte die Gräfin auch zu reden, wo sich's paßte, und Rechenschaft zu geben von ihrem Glauben. Zu ihren Freunden sprach sie gern von dem, was ihr das Herz erfüllte, und meiner Mutter öffnete sie den Blick in eine selige Welt trostreichen Erkennens.
Es ist mancherlei geredet und gestritten worden über den Begriff und Wert der Tradition in christlicher Kirche. Man hat einerseits eine Kette von Menschensatzungen als Zeugnisse des Heiligen Geistes dem Worte Gottes gleichgestellt, andererseits ebenso irrtümlich angenommen, daß die Heilige Schrift an sich schon genügsam zu ihrem Verständnisse ausreiche, für solche wenigstens, die den guten Willen zu verstehen hätten. Doch habe ich mehrfältig erfahren, wie der Sinn des geschriebenen Wortes selbst dem reinsten Willen verborgen bleiben konnte, bis das lebendige Zeugnis der gläubigen Gemeinde dem Verständnisse zu Hilfe kam.
Dieses persönliche Zeugnis lebendiger Menschen von ihrem Erkennen, Glauben, Lieben und Hoffen möchte ich mir erlauben, die rechte, zum Verständnisse der Schrift unerläßliche Tradition zu nennen. Sie ist nicht bei dieser oder jener Konfession, wenigstens nicht zu allen Zeiten und nicht immer in gleicher Reinheit: sie ist bei der ganzen gläubigen Christenheit aller Konfessionen, mit anderen Worten, bei der allgemeinen christlichen Kirche. Sie ist das Licht und das Zeugnis des Heiligen Geistes, der bei der Gemeinde bleiben und durch sie zeugen wird bis an das Ende aller Tage.
Meine Mutter war eine jener glücklichen Naturen, die eine natürliche Affinität zum Worte Gottes haben. Von ihrer Kindheit an hatte sie sich mit wunderbarer Liebe zu der heiligen Person des Kinderfreundes Jesu hingezogen gefühlt, dessen Vorbild und Geboten sie nachzuleben strebte,[108] so gut sie konnte. Obschon sie im väterlichen Hause unter Einflüssen hatte leben müssen, die ihrem Verlangen nach geistlichem Wachstum die Nahrung möglichst entzogen, hatte sie dennoch die vereinzelten Strahlen christlicher Wahrheit, die an sie herandrangen, immer ohne Widerstreben in sich aufgenommen. Sie glich einer harmonischen Saite, die mitklingt, wenn verwandte Töne angeschlagen werden, hatte ein sehendes Auge und hörendes Ohr und lernte in der Regel, wo sie gute Lehren fand.
Demungeachtet aber, und obgleich meine liebe Mutter die Quelle in der Hand hielt und die Bibel fleißig las, besonders seit ihr diese durch manches, was sie von Herder gelesen, lieb und wert geworden, hatte sie doch bis dahin gerade die beseligendsten Aussprüche derselben kaum bemerkt, und erst jetzt im persönlichen Verkehr mit gereifteren Christen, und durch diese hingewiesen auf eine spezifisch christliche Literatur, begann ihr allgemach die Decke von den Augen zu fallen. Sie wurde angesteckt durch das Kontagium einer ewigen Heilung und trat ein in die Vorhallen des auf Golgatha erbauten Heiligtums, da Jesus Christus selbst das Hochamt hält.
Wesentlich aus der Hand jener unvergeßlichen Gräfin nahm meine Mutter den Schlüssel zu dem offenkundigen Geheimnis der Erlösung, und nun erst fing sie an, die Heilige Schrift auch zu verstehen, sie als Wort Gottes zu begreifen und zu glauben. Nicht daß sie damals gleich von vornherein zu einer fertig abgeschlossenen theologischen Ansicht gelangt wäre, zu der sie es überhaupt nie brachte: es waren eben nur Anfänge christlichen Anschauens und Erkennens, das seiner Natur nach niemals abschließt.
Inwiefern nun meine liebe Mutter bei solcher Bereicherung ihres inneren Lebens einer Selbsttäuschung erlegen oder nicht, darüber mochten die Ansichten ihrer älteren Freunde auseinandergehen. Ich kenne es aber nicht anders, und zwar nach einer langen Reihe von Erfahrungen, als daß alle diejenigen, denen es durch Gottes Gnade gelang, den Christenglauben zu ergreifen, eine köstliche Perle gefunden zu haben meinten, in deren Besitz sie sich beseligt und versöhnt mit Gott und Menschen fühlten. Umgekehrt aber habe ich es auch stets erfahren, daß Gläubige, die in ihrem Glaubensleben gestört werden, dies immer auch in ihrem Seelenfrieden waren. Was meine Mutter anbelangt, so bekannte sie selbst von sich, nicht etwa, daß sie besser und vollkommener geworden, sondern daß sie in ein Element geraten, in welchem es ihr wohl war und da sie volles Genügen fand. War das Täuschung, so möchte ich allen Menschen solche Täuschung wünschen.
Die stillen Sonntagmorgen, die wir Kinder bei der Mutter zu verbringen[109] pflegten, wurden jetzt immer segensreicher für uns. Wir saßen dann um den runden Tisch, wir Brüder zeichnend, die Schwester mühsam Strümpfe strickend für ihre Puppe, während die Mutter uns irgend etwas Erbauliches vorlas, etwa aus den damals erscheinenden Krummacherschen Kinderschriften, dem »Sonntage«, dem »Festbüchlein« und anderen, oder auch Geschichten aus der Heiligen Schrift. Dann unterhielt sie sich mit uns über das Gelesene auf eine Weise, die wir wohl verstehen konnten, und in solchen Stunden schlang sich um die natürliche Liebe der Familie noch ein anderes, heiligeres Band, das unser aller Herzen trotz mannigfaltiger späterer Verirrung nicht nur untereinander, sondern, wie ich hoffe, auch mit unserer ewigen Heimat auf immer fest verknüpft hat.
Auch der Vater fand sich jetzt bisweilen, namentlich wenn wir auf dem Lande waren, mit irgendeiner leichten Arbeit zu diesen kleinen Hausgottesdiensten ein. Er hatte keinen Widerspruch in seiner Seele und hörte freundlich zu, sich anfänglich wohl nur des ruhigen Beisammenseins mit den Seinen freuend. Da kam es auch über ihn, und allgemach ward auch er von jener wunderbaren Ansteckung ergriffen, die aus tugendhaften Leuten arme Sünder macht und das Herz zu einer Liebe entzündet, die nicht von dieser Welt ist. Doch es mögen dies aber auch nur die ersten Lockungen der Gnade, die ersten Anfänge himmlischer Berufung gewesen sein. Das entschiedene Eingreifen der geoffenbarten Wahrheit blieb einem späteren Lebensabschnitt vorbehalten.
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