Ob Herr Senff ein Heiliger gewesen

[66] Mein Umgang mit dem alten Freunde Talkenberg war freilich jetzt so ziemlich auf nichts reduziert, denn für Feier- wie für Arbeitsstunden war ich dem Lehrer übergeben, wohnte mit auf seinem Zimmer, ging mit ihm aus und ein und spielte auch gewöhnlich unter seiner Aufsicht. Das alles war kein Nachteil, denn Senff war ein trefflicher und frischer Mensch, und nichts konnte verfehlter sein als Talkenbergs Annahme, daß ich unter seiner Zucht verprinzeln und die Anwartschaft auf einen rechten Kerl verlieren würde. Senff hatte vielmehr ganz entschiedenen Widerwillen gegen jede Art von Verweichlichung, gegen alles verschrobene[66] und gemachte Wesen wie gegen Affektation und angelernte Manieren. Er wollte, daß wir uns zeigen sollten, wie wir eben waren, gewöhnte uns an strenge Wahrheit unserer Ausdrucksweise und duldete keine Äußerung, die nicht im Einklange mit unserer Empfindung und Einsicht gewesen wäre. Fiel dergleichen bei anderen Kindern vor, so machte er uns aufmerksam und lachte darüber. Freilich wurden bei solchen Wahrheitsbestrebungen so manche hergebrachte Formen konventioneller Höflichkeit mit anderen Affektationen in einen Topf geworfen, und ich wuchs unvermerkt in eine Richtung hinein, die mir im späteren Verkehr mit Menschen hinderlich geworden; denn die Gesellschaft will nichts weniger als Wahrheit, mit der sie nicht bestehen kann. Dafür blieben wir aber auch allesamt von jenem gemachten Wesen frei, das, bei Männern wie bei Frauen widerwärtig, jede freundschaftliche Annäherung unmöglich macht.

In solcher Natürlichkeit verstanden wir Kinder uns vollkommen mit unserem Lehrer und machten es ihm daher auch ganz vollkommen zu Dank. In anderer Hinsicht mußte namentlich ich mich erst gewöhnen lernen. Zwar daß Senff beim Unterricht auf Ordnung halten, mich meistern und durch Besserwissen molestieren würde, hatte ich anders nicht erwartet, daß er aber auch die Anmaßung haben würde, meine Spiele zu beherrschen, das war mir überraschend und außerordentlich zuwider. Doch mochte er gerade damit den besten Einfluß üben, indem er nicht nur eine mir angebotene unstete Leidenschaftlichkeit in meinen Liebhabereien zu zügeln und mir durch sein tätliches Eingreifen allerlei praktische Kenntnisse und manuelle Geschicklichkeiten beizubringen wußte, sondern mich auch nötigte, bei allem, was ich tat, mir meines Tuns bewußt zu werden und mit der gewissenhaftesten Akkuratesse zu verfahren.

Inzwischen war mir die Unbequemlichkeit solches Zwangs einleuchtender als dessen Nutzen. Ich fühlte mich in der gewohnten Freiheit allzusehr beschränkt, und da Senff noch obendrein seiner Neigung, mich bei den Ohren zu zausen, nicht immer Einhalt tat, mich auch hin und wieder mit Püffen und Kopfnüssen regulierte, so vereinigten sich alle diese Umstände, mich irre an ihm zu machen, und ich fing nachgerade an, ihn in meinem Herzen für einen Bösewicht zu halten.

Diese Annahme wurde jedoch beizeiten durch eine seltsame Erscheinung paralysiert. Es traf sich nämlich, da ich meinem Lehrer in der Rechenstunde gerade gegenübersaß, daß ich einen wunderbaren Schein um seinen Kopf bemerkte. Vielleicht, daß der Kontrast seiner dunkelbraunen Locken zu dem hellerleuchteten Hintergrunde einer gelben Wand an der Grenze beider den Anschein einer Lichtverstärkung bewirkte, oder[67] was es sonst sein mochte, genug, ich sah eine Glorie wie um gemalte Heiligenbilder und geriet darüber in die eigentümlichsten Vermutungen.

Die besten Menschen waren bei ihren Lebzeiten für Bösewichter gehalten und hingerichtet worden, das wußte ich aus einem die Martern der Heiligen darstellenden Kupferwerke meines Vaters, und war es daher nicht denkbar, daß auch Herr Senff ein Heiliger und nur von mir verkannt sei, wie jene von ihren Zeitgenossen? Heute wenigstens war doch ein Glanz durch seinen Hirnschädel gebrochen, der solche Deutung zu rechtfertigen schien.

Diese Vermutung teilte ich meiner Mutter mit. Sie erwiderte, man könne das so nicht wissen; indessen hätten Kinder ihre Lehrer immer als geheiligte Personen anzusehen, sie als solche zu verehren und ihnen zu gehorchen. Ich wandte bescheiden ein, Herr Senff raufe mich freilich sehr bei den Ohren; aber die Mutter erwiderte, das würde sich schon geben. Meine Aufgabe sei jetzt die, daß ich mich untadelhaft gegen ihn betrüge, dann würde er zuverlässig auch freundlicher mit mir umgehen.

Nun kann ich mir das ehrende Zeugnis nicht versagen, daß ich von dieser Zeit an wirklich bemüht war, den Weisungen der Mutter nachzukommen, und so gelang es mir denn auch, mich einigermaßen mit der Art und Weise meines Lehrers auszusöhnen. Ich lernte einsehen, daß er es gut mit mir meinte, gewann ihn lieber und halte ihn noch heute wert in meinem Herzen.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 66-68.
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