39 [38] Brief an Maria Franck

1.1.1911


... Heute abend bin ich nochmals bei Jawlensky; mit Kanoldt stehe ich jetzt sehr freundschaftlich und nett. Er ist ein riesig frischer und aufrichtiger Mann, den man schnell gern hat. Morgen erwartet mich (vielleicht) ein Ereignis; ich gehe ins Konzert von Arnold Schönberg; du weißt, jener modernste Wiener Komponist, dessen künstlerisches Programm (in ein paar Zeilen dem Konzertprogramm beigedruckt – ich werde es Dir im nächsten Brief aufschreiben) dem Katalog der Neuen Vereinigung restlos vorgedruckt sein könnte. Das unheimlichste bei ihm scheint das völlige Verlassen der Tonalität zu sein, – er macht also nicht mehr einen Quer-Schnitt durch die Stimmreihen, sondern Längsschnitte, was, meine ich, mit den Ideen des Kandinsky eine Verwandtschaft haben muß. Ich bin jedenfalls riesig gespannt und glaube im voraus daran! Wenn Du irgend Gelegenheit in Berlin hast, von Schönberg etwas zu hören, tue es unbedingt, auch um meinetwillen ... Es kann meinen Ideen unendlich nutzen, wenn grade Du diese Musik hörst und über die technische Seite dieser merkwürdigen Kunst etwas nachdenken kannst. Und wo Du mit Musikern zusammenkommst, such über diesen Mann etwas zu erfahren. Ich habe in diesem kurzen Aufenthalt unendlich viel Theorien und Wissenschaften und Kenntnisse zusammengetragen, die mir nützlich sein werden ... Ich bin heute etwas eilig, vor dem Schönberg-Konzert in dem wir uns natürlich mit der ganzen[38] ›Vereinigung‹ treffen, die alle wie ich gespannt sind auf den Abend. Gestern abend war ich mit Helmuth bei Jawlensky und hab mich den ganzen Abend mit Kandinsky und Münter unterhalten – fabelhafte Menschen. Kandinsky übertrifft alle, auch Jawlensky an persönlichem Reiz; ich war völlig gefangen von diesen feinen innerlich vornehmen Menschen, und äußerst patent bis in die Fingerspitzen. Daß den die kleine Münter, die mir sehr gefiel, ›glühend‹ liebt, das kann ich ganz begreifen. Sie wollen mich und Helmuth nun alle in Sindelsdorf besuchen, desgleichen wir Kandinsky und Münter in Murnau. Ach, wie freue ich mich, später mit Dir mit diesen Menschen zu verkehren, Du wirst Dich sofort wohl fühlen, auch mit Münter, glaub ich. Ich bin begierig, was sie zu Deinen Blättern sagen ...

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 38-39.
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