48 [47] Brief an Maria Franck

Sindelsdorf, 10.2.11


... Am andern Morgen wanderte ich zu Kandinsky! Die Stunden bei ihm gehören zu meinen denkwürdigsten Erfahrungen. Er zeigte mir viel, ältere und neueste Sachen. Letztere alle ungeheuer stark; im 1. Moment fühle ich die große Wonne seiner starken, reinen, feurigen Farben, und dann beginnt das Gehirn zu arbeiten; man kommt nicht los von diesen Bildern und wenn man fühlt, daß einem der Kopf zerspringt, wenn man sie ganz auskosten will. Er hat z.B. ein Bild ›Moskau‹. Man sieht formal so gut wie nichts; aber man fühlt sofort das Schreckliche der Millionenstadt; man glaubt die Wägen über die Brücke fahren zu sehen, das Dröhnen der Eisenbahnen, Feuerbrünste, Luxus und Not; alles dieses fühlt man; man wird bis ins Innerste erregt; man zittert förmlich und sieht alles visionär wie Dostojewsky, dessen Geist ihm zweifellos am nächsten verwandt ist. Ich erwähnte, daß Du Schönberg spieltest, worauf Kandinsky und Münter mich sofort bestürmten, ich sollte ihnen Deine Ansicht sagen. Ich hatte Deinen Brief in der Tasche und drückte mich nun so gut ich konnte darüber aus; und da kam das Überraschende: Kandinsky ist ganz Deiner Meinung und sieht in diesem trüben Gemisch[47] Schönbergs dessen ungeheuerliche Größe; er sagte: Sehen Sie, ich komme noch nicht ohne die ›schönen, reinen‹ Farben aus; ich male noch, gegen meinen Willen, in alten Farbharmonien, um die es mir doch nicht im geringsten zu tun ist. Schönberg hat diesen großen Schritt über mich hinaus gemacht. Ich möchte absolut schmutzig malen, dann erst werden meine Gedanken ganz das ausdrücken, was sie sollen. Meine jetzigen Farben sind eine faute de mieux. Die Franzosen (wie Rouault, Braque, Derain etc.), die dies Jahr mit der Vereinigung ausstellten, enthielten alle schon, grade durch die auffallende Farblosigkeit, ein Stück Schönberg. Das ist alles höchst interessant. Ich stehe ja dieser Kunst noch sehr fern und weiß auch nicht, ob sie mich je locken wird; aber nun beginne ich wenigstens vieles, grade bei den jüngsten Franzosen, bei Kandinsky und Schönberg zu begreifen; ich hatte ja stets schon die Ahnung, daß es etwas sehr feines und fabelhaftes intelligentes in diesen Bildern sein müsse; heute verstehe ich sie vollkommen und werde nicht mehr diese Unruhe vor ihnen haben. Du brauchst ja auch keine Angst um meine Malerei zu haben; sie gefällt Dir ganz gewiß. Niemals werde ich um dekorativer Wirkung willen einen Busch blau machen, sondern nur um das Pferd, das sich von ihm abhebt, in seiner ganzen Wesenheit zu steigern. Aber die Mittel müssen immer mehr rein malerisch sein und auf die größte Möglichkeit gesteigert. Kandinsky hofft sehr auf eine gute Nachbarschaft Murnau-Sindelsdorf. Darauf freue ich mich auch. Besuch werden wir überhaupt manchen bekommen ...

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 47-48.
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