68 [61] Brief an Wassily Kandinsky

Berlin, 10.1.1912


Lieber Kandinsky, Ihr lieber schöner Brief enthielt nicht, was er versprach: nämlich Arps ›Köpfe‹. Keine Spur davon. Ich war ordentlich böse. Sonst enthielt er soviel Freudiges und Glückliches, daß mir ganz warm um's Herz wurde. Mit Verlegern für Arp scheint mir hier nicht viel zu machen sein. Cassirer sprech ich wahrscheinlich morgen oder übermorgen. Ich war kürzlich dort, wurde aber nicht – vorgelassen! Cassirer war eben von einer Reise zurück und von zu viel Arbeit umgeben. Ich ging wütend weg und hab mich noch nicht wieder entschließen können, ihn telephonisch um eine Unterredung zu bitten. Ich mach es schon noch.

Eben kommt der 2. Brief mit den ›Köpfen‹. Vielen Dank! Ich stelle sie mir beim Schreiben am Schreibtisch auf; sie sind ganz famos. Manchmal streifen sie, meine ich, etwas zu stark die Karikatur, was mich dann im Genuß stört. Die Idee, ihn Buchstaben zeichnen zu lassen, ist fein.

Nun zu Berlin: ich kenne die Stimmung gegen Pechstein und seinen Kreis sehr wohl, auch hier in Berlin, und ich werde noch viel streiten zur Verteidigung dieser Leute und vor allem ihrer Kunst. Anbei eine kleine Auswahl von Photos; wie wenig sie von dem lebendigen, herben Hauch der Originale und vor allem von dem starken Willen, der wie ein Wind durch diese Ateliers fährt, geben, wissen wir ja. Aber einen Begriff davon geben sie Ihnen vielleicht. In dem allem steckt schon zu viel, als daß man irgendwie daran vorübergehen könnte (vor allem wir nicht), ohne diesen Kollegen die Hand zu drücken. Gestern sah ich cc. 500 Holzdrucke und Zeichnungen bei ihnen durch und wählte einen guten Stoß davon zur Sendung nach München. Nichts ist schwieriger, als unter diesem Reichtum (bitte nicht Warenhaus) etwas herauszuschälen; denn das fühle ich wohl: das einzelne, davon herausgenommen, verliert; vielleicht ist dies Symptom nicht ganz erfreulich, aber ich meine, man muß sich damit abfinden; vielleicht verliert es auch nur für mich, – wer weiß, wie es andere ansehen. Im Grunde meiner Seele klar bin ich mir überhaupt nicht über diese Berliner, aber ich fühle mich unzweifelhaft vor einem ungeheuren quellenden Reichtum, der zu unsern Ideen nicht weniger gehört als die Idee der Stillen im Lande.

Daß Sie und ich die Zügel unseres blauen Pferdes in der Hand behalten, das haben die Berliner vollkommen begriffen. Von irgendwelcher Anmaßung oder Sturmlaufen für Ausstellungen hab ich nicht das geringste gespürt. Man fühlt sehr, daß sie uns unge mein respektieren und andrerseits gar nicht das Bedürfnis fühlen, auf unsre Tische zu springen. Gegen manche Kollegen der Neuen Sezession mögen sie ja anders gehandelt haben, – von uns, nicht zum wenigstens von mir, werden die Knaben Erbslöh und Co. genau dasselbe erzählen (›er hat die Vereinigung als Sprungbrett benutzt etc.!!‹)[62]

An Ihre Adresse gehen nun Schwarz-Weiß-Sachen (Holzdrucke, Radierungen, Zeichnungen, Aquarelle) von 1.) H. Nauen, 2.) Nolde, 3.) Pechstein, Kirchner, Heckel, Mueller, 4.) Melzer. Heckel und Mueller sind mir bis jetzt ziemlich problematisch geblieben. Heckel ist leider nicht hier. Seine Sachen haben oft etwas grausig Häßliches, er arbeitet auch ziemlich ungleich, wenigstens äußerlich ungleich, schwerverständlich, mit Linien, die trauernd wie schwere Zweige und müde Lasten im Bild hängen; der Sinn seiner Bilder scheint mir irgendwo ganz weit hinten im Bild zu liegen, mehr ein Grollen, als Worte oder Schweigen, – beides letztere, banalere fehlt.

Mueller ist mir als Mensch riesig sympathisch, hat eine reizende Frau, die ein paar fabelhafte Terrakotten gemacht hat. Er selbst ist scheu und liebenswürdig zugleich, – ich glaube, ›er ist ein Träumer stets und hängt am Weibe‹, seine Sachen sind weich, oft furchtbar unsicher und manchmal wunderschön. Von beiliegenden Photos ist nichts vom letzten dabei; dafür hab ich aber eine schöne Sache nach Rußland geschickt. Man muß schon Augen haben dafür; aber ich denke, in Moskau sind die Herren klug. (Für die Sendung des Ausstellungsgeldes sorge ich). Ich strenge mich, bei Betrachtung all dieser Kunst, furchtbar an, sodaß oft meine Nerven zittern. Glauben Sie mir, wenn ich nur eine Spur ›Warenhaus‹ witterte oder die Gefahr, unsren Bl. R. durch diese Berliner zum Warenhaus zu machen, – mir wären meine Nerven und Augen zu lieb, um sie daran aufzureiben.

Erschrecken Sie auch nicht, daß eine solche Menge von Blättern für die Ausstellung bei Goltz kommt. Erstens einmal wollte ich mir die schier unmögliche Aufgabe, auf den ersten Hieb schon eine endgültige Auswahl zu treffen, erleichtern. Und dann möchte ich Goltz einmal zeigen, was es in Deutschland an zeichnenden Künsten gibt. Vielleicht bekommt er Mut, sein Lokal zu halten, was ja auch für uns glänzend wäre. Ausstellen tun wir dann, was uns paßt, das wissen die Leute auch.

Entschuldigen Sie, daß ich Sie nochmals um die englischen Adressen bat. Erst als ich sie las, fiel mir ein, daß ich sie doch schon besitze.

Einliegend Programm Skrjabin; Maria und ich waren dort; leider konnten wir nur die erste Hälfte mitanhören; unser Eindruck war ziemlich flau; sehr geschmackvoll und harmonisch, aber so ›gewohnt‹, wenigstens schien es uns so, daß wir uns immer gegenseitig fragten, was Sie uns eigentlich von Skrjabins Kunst erzählt hatten. Wir mußten uns zu unsrer Schande gestehen, daß wir nichts tatsächliches davon behalten hatten, als daß er eine Rolle in Rußland spielt.

Die kleinen étuden und préluden warfen einen ziemlich schnell von einem Sentiment ins andere; rechnet man dieses Sentiment weg, blieb eine angenehme leichte Harmonie und ein leider etwas nüchterner Vortrag (obwohl von seiner Frau vermutlich, was uns beim[63] Hören kaum glaublich schien) im Ohr zurück, – nicht im Gehirn, – was natürlich an unsren Gehirnen liegen mag und wird. Ich bin furchtbar neugierig auf den Artikel.

Der Prospekt [Aufzeichnungen und Schriften Nr. 6, d. Hrsg.] geht mir immer im Kopf herum; ich arbeite daran, – eine schwierige Sache, wenn man etwas Nettes machen will; und das muß es werden.

Nun Schluß, ein andermal mehr! Heut eine Kritik aus der ›Vossischen‹ [vom 10. 1. 1912, d. Hrsg.], die im großen und ganzen ganz anständig klingt, besonders für Sie (wenn man an die ›Vossische‹ denkt!); ich bin Kunstgewerbler. Die Vereinigung als quantité négligeable behandelt!, Münter ›wunderschön‹, was wollen Sie mehr??

Herzliche Grüße von uns beiden, Ihr

F.M.

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 61-64.
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