75 [71] Brief an Wassily Kandinsky

Sindelsdorf, 27.4.1912


Lieber Kandinsky, betreff Campendonks Zeichnungen kann ich Ihnen gar nicht beistimmen, auch nicht nachfühlen. Freilich ist es für mich nicht leicht, nun mit ein paar Worten das, was ich an diesen Zeichnungen schätze, hinzuschreiben; denn meine Ideen hängen vollkommen und unzertrennlich mit den 6 Bildern zusammen, die er gestern zum Sonderbund absandte. Campendonk und ich hatten immer gehofft, Sie kämen noch einmal vorher heraus, um all die Arbeiten zu sehen, die dieser Winter uns gebracht. Schließlich kam noch Ihre böse Krankheit dazwischen, sonst hätte ich Sie direkt gebeten, herauszukommen. Auch für meine Bilder wollte ich gern Ihr Urteil haben.

Campendonks Bilder, 3 Variationen über Cello, in denen er gewissermaßen die ›Klangfiguren‹ eines Cello-Adagio, Allegro etc. auszudrücken versuchte, dann ›Guitarre‹ im gleichen Sinn den Klangtypus des Instrumentes, dann ein Stilleben, eine Geige, angesichts dessen ich ganz betroffen war über die souveräne Beherrschung seiner malerischen Mittel, da dieses Bild vollkommen ›Stilleben‹ ist, ohne überhaupt für den Beschauer die Möglichkeit zuzulassen, daß das Instrument ›tönt‹, und doch sieht das Bild äußerlich vollkommen den ›Musikbildern‹ gleich. Die Zeichnungen sind aus den vielen Studien genommen, die er, auch bei uns, nach meiner Frau, gezeichnet hat. Daß Picasso der Anreger dieser Bilder ist, ist klar; sicher ist mir auch, daß er aus einem anderen Geiste arbeitet als Picasso; nur bestreite ich leidenschaftlich, daß er aus dem Geiste arbeitet, den Sie hier vermuten. Ich bin etwas betroffen, daß Sie schon Lust hatten, die Blätter von der Ausstellung einfach auszuschließen; sollte mein[71] Urteil bei Ihnen so leicht wiegen, daß es Sie nicht einmal stutzig und zweifelnd macht in einem solchen Falle? Ich stand diese ganzen Monate unter dem mich beglückenden Eindruck dieser Bilder, deren Werden ich täglich verfolgte – ich kann mir nicht denken, daß ich fünf Minuten, geschweige Tage an eine Kunst à la Hörschelmann verlöre. Es mag sein, daß die Zeichnungen für jemanden, der von Campendonk sonst nichts kennt, nur leise reden, ›unter Kissen‹, wie Sie sagen. Aber dies ist oft bei Malerzeichnungen resp. Studienblättern der Fall. Aber ausstellenswert scheinen sie mir deswegen doch; mit Geschicklichkeit macht man solche Arbeiten nicht; wirklich aussprechen werden wir erst darüber können, wenn Sie einmal Campendonks Bilder sehen. Ich spreche auch Campendonk nicht darüber, da ich ihn nicht befangen machen will und Sie es mündlich und vor seinen Bildern besser ausdrücken werden, was Sie fühlen. Wal den verehrte mir letzthin die ganzen bisherigen (2) Jahrgänge ›Sturm‹, sehr gute Kokoschkas darin! Die neuen Nummern hat er aber nicht geschickt. Herzlich von Haus zu Haus Ihr F.M.

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 71-72.
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