77 [73] Brief an August Macke

Sindelsdorf, 1.6.1912


Lieber August, es tut mir leid, hier Deinem Rat, die Ausstellung ›refusierter‹ Bilder des Sonderbundes fallenzulassen, nicht nachgeben zu können; wie ich schon telegraphierte, müßte ich mich höchstens von meinen Kollegen ausschließen, was ich keinesfalls tue. Im ›Sturm‹ werde ich etwas schreiben [Aufzeichnungen und Schriften Nr. 11, 12, d. Hrsg.], das die eigentlichen Gründe dieser Aktion darstellt, nämlich das Publikum über die Irreführung, die eine so jurierte Ausstellung für jeden Nichteingeweihten bildet, aufklären. Wir Maler müssen mit aller Energie heute die Ideen gesunden künstlerischen Ausstellungswesens vertreten und mit allen Mitteln verfechten. Z.B. nur mein eigener Fall: Ich habe ausdrücklich mit Reiche (telefonisch) besprochen, daß ich nur ausstelle, wenn die Zusammenstellung dessen, was ich ausstelle, mir überlassen bleibt. Ich stellte sechs Bilder (die von Reiche angegebene Zahl) mit allem Bewußtsein zusammen. Die sechs zusammen ergeben einen klaren künstlerischen Gedankengang (wenigstens nach meinem Gefühl, das hier für den Beschauer wichtig ist). Die zwei ausgestellten Sachen zerreißen meine Idee genau so, als wenn man von einem Komponisten hier ein Adagio einem Stück eines anderen folgen läßt oder ähnlich. Genau dasselbe besprachen Kandinsky, Jawlensky, Werefkin und die anderen. Ausstellungen sind da, um dem Publikum Klarheit über künstlerische Ideen und Persönlichkeiten zu geben; wie kann man das, wenn man z.B. von Jawlensky nichts von den neuen eingesandten Arbeiten ausstellt, sondern alte Arbeiten (die zufällig in Barmen lagerten), und noch dazu, ohne überhaupt Jawlensky zu fragen! Jawlensky hat vor, diese Bilder auf dem Rechtswege dem Sonderbunde abzufordern. Wenn der Sonderbund solche Geschichten macht, hat er die Folgen selber zu tragen; es wird ihm trotz allem Zorn gegen uns eine gesunde Lehre sein, und es wird uns gelingen, die Frage über Ausstellungswesen in ein sehr nützliches Licht zu rücken. Wenn Reiche (der doch durch Deussers Gewalttätigkeit vor uns allen, die auf seine Vereinbarungen in München eingegangen sind, sehr blamiert ist), Hagelstange, Cohen, Osthaus, Wiehert einigermaßen klug sind (und uns wirklich schützen, conditio sine qua non), muß ihnen unsere Aktion ein erwünschter Anlaß sein, eine famose Handhabe gegen Deusser etc. zu haben und sie gründlich auszunutzen. Was haben sie doch voriges Jahr, Cohen und Hagelstange, hier alles geredet (hohe Töne!!!); aus Angst, es mit den Herren am Rhein zu verderben oder gar aus ›Dankbarkeit für bisher bewiesenes[73] Interesse‹ uns zu ducken, fällt uns gar nicht ein. Wir haben unsere Ideen und kämpfen für sie. Du sitzt den Leuten etwas zu nahe und verstehst vielleicht nicht, wie gleichgültig uns persönliche Rücksichten hier sind. Als Reiche hierher kam und von der Jury sprach, weigerten wir uns sämtlich, auszustellen. Wir sagten einmütig, gar kein Interesse an der Ausstellung zu haben, wenn wir nicht völlige Freiheit dort bekämen. Reiche kam wieder und wieder, redete und redete, bis er uns zur Teilnahme (unter ganz bestimmten Versprechungen) überredete; der Sonderbund hat sich an uns gedrängt, wir uns wahrhaftig nicht an ihn. Nun muß er die Folgen tragen; wie gesagt: wenn einzelne dort diese Folgen nicht ausnutzen, sind sie töricht und stumpf genug und Maulhelden, die reden, wenn der gestrenge Oberst nicht dabei ist. Sei nicht fad, sondern tu fest mit uns. Du hättest überhaupt schon in der Jury-Frage nicht nachgeben sollen; was hätt's gemacht, wenn alles gekracht hätte; ich kann natürlich nicht beurteilen, wie die chose war.

Raummangel ist keineswegs ein Grund für die Refüsierungen. Dieser Blödsinn, über 100 Van Goghs auszustellen. Erstens kommt die Ausstellung ganz post festum, ähnliche van Gogh-Ausstellungen hat's schon viele gegeben (ich selbst hing doch vor zwei Jahren 70 van Goghs bei Brakl); so eine Ausstellung gehört nicht in den ›Sonderbund 1912‹, der die Ent wicklung der Modernen zeigen will. Eine solche Massenausstellung verrückt ja jedes Gleichgewicht und verwirrt mehr, als sie nützt; zehn wirklich gute van Goghs wirkten besser.

Hoffentlich ist Dir die Geschichte nicht allzu unangenehm, – ich könnte gar nicht verstehen, warum eigentlich. Übrigens ist auch über die formelle Seite einiges zu sagen; was denkt sich eigentlich der Sonderbund, daß er niemandem von uns die geringste Mitteilung über refüsierte und angenommene Werke gibt? (14 Tage nach Eröffnung). Ferner z.B. Campendonk eine Einladung zum Festessen, Dauerkarten etc. zusendet, ohne daß eine einzige Sache angenommen ist? Reiche fällt es gar nicht ein, uns sofort von dem schiefen Ausgang unserer Vereinbarungen mit ihm zu unterrichten, eine Sache, die er unbedingt hätte tun müssen. Rücksichten hin, Rücksichten her. Was ist eigentlich von uns bei der Sache ›gemein‹? Refüsierte Bilder muß eine Jury ebensogut öffentlich vertreten als angenommene. Ein jeder denkt, wir hätten nur dies bissel Zeug zum Zeigen gehabt, nun zeigen wir die andere Seite, und unsere Gründe dafür sind, glaube ich, klar und gerecht und jedenfalls nicht ohne ernstes Ziel. Ich allein hätte natürlich nichts für mich getan, aber mich von den anderen, die noch viel gemeiner behandelt worden sind, auszuschließen, fällt mir nicht ein! Nun genug des Sums, der Hase läuft, die Sonder bündlinge können hinter ihm dreinschießen, Sonntagsjäger. Pfeif doch auf die Gesellschaft. Sie kommt schon mal wieder,[74] wenn sie sich noch ein paar solche Lehren geholt hat. Wie geht's Walterchen und Lisbeth? Habt Ihr denn noch Lust, uns am Rhein zu sehen nach dieser Affaire? Hoffentlich seid Ihr nicht vergrämt? Nee, um Gotteswillen nicht! Es umarmt Euch mit Gattin

Euer Frz.

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 73-75.
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