85 [79] Brief an Wassily Kandinsky

Sindelsdorf, 23.10.1912


Lieber Kandinsky, Dank für Ihre hübsche Karte; ich erwarte keine Nachrichten, freu mich aber furchtbar auf's Erzählen. Ich schreib auch nur kurz; Dinge, die Sie interessieren, z.B., daß ich die Futuristen in Köln gesehen habe und von dem größern Teil der Bilder (vor allem Carrà, Boccioni und auch Severini, in ihren reifen Sachen) rückhaltlos begeistert bin; hoffentlich werden Sie nicht gleich böse.[79] Erinnern Sie sich der ›geputzten Knöpfe‹, eine Forderung, die Sie an ernste Kunst stellten? Die Futuristen haben sie; es sind glänzende Maler; natürlich Impressionisten; strengster Naturalismus; es sind nicht die Ideen des Bl. Reiters und das, was Sie als Kommendes sehen; aber ich glaube, daß wir uns beide (ich für meinen Teil jedenfalls) geirrt haben, wenn wir dachten, daß sich der Naturalismus in Picasso in die letzte mögliche Form verflüchtigt hat; müdgeflogen; ich schrieb ein paar Zeilen im Sturm von meinem Eindruck über die Futuristen; sie stehen mit beiden Füßen in der Wirklichkeit; die Titel ihrer Bilder sind wie japanische Gedichte; dabei ist von literarischen Malerei keine Spur; herb und hart; auch ihre berüchtigte ›Süßlichkeit‹ ist hart, fast wild. ›Wenn ich das Fenster öffne, dringt der Lärm der Straße in das Zimmer‹; so etwas malen, ohne zu straucheln! Mir ist eigentlich ganz wohl bei dem Gedanken, daß diese großen Naturalisten leben; ich gehe dabei ruhiger und langsamer meinen Ideen nach. Die Pariser Kubisten sind jetzt meistenteils von den Futuristen angesteckt, aber schlecht, unintelligent und äffisch. Gute Dinge, d.h. echte lassen sich eben nicht nachmachen ...

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 79-80.
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