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[113] Hagéville, 11.XI.14


Liebe Maman, jetzt wird's allmählich wirklicher Herbst, auch bei uns, kalt und fröstelnd. Beschämt sitzen wir in unserem gemütlichen Quartier, wenn wir an unsere Kameraden in der Front denken, in den Geschützständen und Schützengräben. Das einzig Trostvolle, auch für jene, ist, daß sie die Siegenden sind; denn wenn es auch langsam geht, so schließt sich der Ring um das feindliche Heer immer enger und drückender; man stürmt wenigstens hier und in den Vogesen nicht mehr so wahnsinnig vor wie im September und August, um das gute Menschenmaterial nach Möglichkeit zu schonen. Nun tobt dieser fürchterliche Krieg auch bald über ganz Asien, Persien und China werden unrettbar hineingerissen, und ich glaube nicht, daß Amerika sich bis zum Ende dem Kampfe entziehen kann. Dieser Weltbrand ist wohl der grausigste Moment der ganzen Weltgeschichte.[113] Ich denke oft, wie ich als Bub und Jüngling trauerte, keine große weltgeschichtliche Epoche zu erleben, – nun ist sie da, und fürchterlicher, als es sich irgendeiner träumen konnte. Man wird klein vor der Größe dieser Ereignisse und fügt sich geduldig in den Platz, der einem vom Schicksal gewiesen ist. Ich empfinde diesen Krieg schon lange nicht mehr als deutsche Angelegenheit, sondern als Weltereignis. Gewiß hast Du recht, daß viele zum Bewußtsein von Gedanken und religiösen Gefühlen kommen werden, die sie lange für verloren und überwunden glaubten. Mir geht es ebenso. Die ungeheure seelische Erschütterung läßt uns unser ganzes Wissen und unsere Überzeugungen bis zum Grunde prüfen. Nur denke ich, daß man nicht auf alte Glaubensformeln und Gewohnheiten zurückgreifen kann, wenn man wirklich Grund fassen will in diesem Meer von Unruhe und Kriegsgewühl, sondern daß sich neue religiöse Gedanken bilden werden, ein ganz neues europäisches Reich. Das religiöse Gefühl bleibt im Menschen immer dasselbe, aber es äußert sich in immer neuen Formen. Die alten Griechen waren in ihrer Art ebenso religiös wie die Inder und Mohammedaner und Christen, und die neuen Europäer des 20. Jahrhunderts werden nicht weniger religiös empfinden, nur eben auf ihre Art. Darüber grüble ich viel, wohin, auf welches Ziel und in welche Formen sich der moderne Mensch verändern und entwickeln wird. So wie Europa gewesen ist, kann es nicht lange bleiben, auf keinen Fall nach diesem ungeheuren Kriege. So schmerzlich und wehmütig mir die Trennung von meinem Heim und meiner Arbeit ist, so bin ich doch froh, heraußen zu sein. Ich würde mich zu Hause bedrückt und krank fühlen. So lebe und erlebe ich alles mit. Ich werde auch hoffentlich alles gesund überstehen. Hier in H. können wir Kräfte sammeln. Wir sind gut verpflegt, Hunger und Durst leidet hier kein Soldat ...

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 113-114.
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