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[131] 27.III.15


Liebe, Deine Briefe freuen mich jetzt so, sie sind endlich alle auf einen anderen Ton gestimmt, auf den ich so lange gewartet. Was hilft alles Deprimiertsein. In mir tritt allmählich an die Stelle der sich periodisch ablösenden pessimistischen und optimistischen Stimmungen die – Neugierde. Ich werde allgemach Zuschauer dieses tollen europäischen Dramas; die Unberührtheit Klees u.s.w. mache ich freilich nicht mit. Um so mehr lebe ich in meinen eigenen Plänen und Gedanken so wie Du auch. Ja, das Bl. R[eiter]-Buch! Damit hast Du völlig recht; buchtechnisch und als ›Klang‹ äußerlich ganz verfehlt und innerlich verworren, weil voll Rücksichten und Verbeugungen vor Dingen, die im Grunde nicht das Geringste mit unserer persönlichen historischen Aufgabe zu tun haben. Ich werde auch nie an etwas Ähnlichem (wie den Plänen von Mitrinovič) wieder mitarbeiten, sondern möglichst allein Dinge ›bilden‹. So denk ich mir auch die Aphorismen; den prophetischen Ton möglichst vermeiden (höchstens daß man bei jedem Wort fühlt: Der Pfeil ist nach vorne abgeschossen, nicht nach der Seite, und daß nichts darin im toten Zirkel läuft) das Ganze als Selbstgespräch wie jedes gute Bild, die Art Bachs, dessen Musik im Grunde den Hörer nicht braucht, – im[131] Gegensatz zu Wagner und Schönberg, deren Musik nur im Zuhörer lebt und auf dessen Seele lauert; ein ähnlicher Gegensatz wie Mantegna und Dürer; Dürers meiste Sachen (nicht alle, z.B. die Holzschnitte nicht) sind ohne den gebildeten Zuschauer tote Dinge. Mantegnas Bilder leben auch, wenn kein Mensch sie ansieht; man erschrickt, wenn man ihnen zufällig (Nationalgalerie!) begegnet; ähnlich wie man über dies geheime, selbstschöpferische unabhängige Leben erschrickt vor dem (neu angekauften) Bilde eines alten Italieners (Seitenkabinett der Pinakothek, ich glaube Nähe des Tiziansaales) Mann, Frau, Kind und Falke; ich glaube, ich zeigte Dir einmal die Photographie dieses wunderbaren Bildes.

Daß Kaminsky wirklich Komponist ist, wußte ich gar nicht. Dann verstehe ich natürlich, daß er nicht in dem Sinne zum Musizieren zu bringen ist. Aber das ist ja auch das, was ich immer bei Dir und bei Klee vermißte. Du verstehst, wie ich das meine; Musik machen ist für mich Unerfahrenen etwas so Wunderbares, daß ich immer zu leicht aus dem Spielenkönnen die Folgerung eines schöpferischen Gestaltenkönnens ziehe; daher aber auch meine alte Abneigung gegen alles pedantische oder virtuose Spiel, das beides unwesentlich ist. Ich sehne mich nach nichts mehr, als einmal einen Komponisten spielen zu hören. ...

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 131-132.
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