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[188] 24.I.16


Liebste, einliegend ein so nettes Briefchen von Lisbeth; aus ihm klingt die erwachende Lebensfroheit wieder etwas heraus. ...

... Ich hab heute einen köstlichen Spazierritt gemacht, – ein strahlender Tag. Ich sehe überall ganz, ganz verwischt Spuren uralter Zeiten, – Lothringen ist ja reich an keltischen und gallischen Erinnerungen; ich hab das Gefühl, daß alles Land, Wege, Häuser, Wälder so ganz vorübergehender Besitz sind, – ich verstehe die Wanderer, die ›Habenichtse aus Überzeugung‹. Letzthin sagte mir ein Physiker, in der Physik habe man jetzt entdeckt, daß die alte dritte Dimension, also die mathematisch bis jetzt als einwandfrei gegoltene Bestimmung einer Sache nach seiner kubischen Dimension als wissenschaftlich unhaltbar anzusehen sei, solange die vierte Dimension der Zeit, des Zeitpunktes, nicht noch hinzugenommen wird. In jeder Rechnung sei diese 4. Bestimmung als Potenz mit einzustellen, – wie, ist aber noch dunkel. Das wirft die ganze alte Mathematik über den Haufen. Man steht vor einem Novum. Ich weiß nicht, ob Du da mitdenken kannst; ich liebe wie Novalis diese Gedankengänge sehr. Ich habe in dieser Richtung ja schon als Gymnasiast Algebraunterricht gegeben, bei dem ich mir lauter solche Sachen allein ausdachte. Leider habe ich zu diesen Dingen genausowenig praktisches Talent wie zur Musik. Wie fandst Du Koehler? Über Deine Stickerei hab ich immer noch nichts gehört. Mit Küssen und aller Liebe Dein Fz. ...

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 188-189.
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