18.

[190] Seit Jahrhunderten kreist der Gedanke, die Gotik und den Orient, diese zwei größten neueren Kulturgebilde durch eine neueuropäische Kultur abzulösen. Die deutsche Musik, das episodenhafte Rokoko, Kant, die Romantik, der Naturalismus sind Bereiter und Etappen dieses Gedankens. Niemals aber kam bis heute der europäische Gedanke zu einer reinen, dauernden Form. Das große Problem blieb Stückwerk und verdorrte jedesmal in schnellem Verfall am Wege. Die heroischsten und geistvollsten Versuche scheiterten, da das Fundament fehlte.

Erst dem späten 19. Jahrhundert gelang eine Fundamentierung, die obschon unfertig eine bisher unerreichte Festigkeit und Tiefe besitzt, das Fundament[190] unsrer wissenschaftlichen Erkenntnis, das wir unter den Thron der alten Götter und Gewalten geschoben haben, die unser Arm nun hebt wie einen Ball. Dies exakte Wissen, die Ablösung der Dinge von ihrem Schein, von der ›Fabel‹ war in allen früheren Versuchen und Kulturen Europas nur ein Nebensinn, ein Teilsinn einiger Geister, nie das feste Fundament ihrer Kulturen. Sie bauten auf den fliegenden Schutt vergangener Zeiten und versanken immer wieder schweigend in ihm.

Quelle:
Franz Marc: Schriften. Köln: DuMont, 1978, S. 190-191.
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