21.

[191] Vielleicht ist es auch gut, daß die reine Lehre der Wissenschaft heute eine so utilitaristische und unkeusche Behandlung findet; denn die Kräfte, die sich ihr weihen und ahnungslos ihrem fernen Ziele dienen, mehren sich damit tausendfach. Die Natur ist so erfinderisch in jesuitischen Vorwänden und Umwegen, um ihr großes Ziel zu erreichen. Und oft sind ihre Mittel auch fruchtbar und erstaunlich der fatalistische Gehorsam der Menschen.

Was weiß der Europäer von dem Sinn des entsetzlichen Krieges, in den er sich gestürzt und den er jahrelang vorbereitet hat?[191]

Wenig. Die meisten nichts.

In welche schwache Vorwände verfing er sich da nicht! Ließ er sich nicht sagen, daß der Krieg für ihn eine Magenfrage sei? – wirklich, man entblödete sich nicht es zu thun, auf beiden Seiten. Die Magen – und Platzfrage mußte genügen, nachdem die sonst so wirksame Rassenfrage zufällig nicht anwendbar war.

Eine kleinere Gruppe Einsichtiger und Vorfühlender sah mit voller Bestimmtheit die Unvermeidlichkeit des Krieges. Aber ihr Geist besaß nicht Spannung genug, nach den Gründen seines geheimnisvollen Kommens zu fragen. Man sprach von ihm, wie der Kranke von der bevorstehenden Operation spricht. Sie lag in Gottes, der Ärzte und Minister Ratschluß. Man bereitete sich so gut es ging darauf vor. Man legte keinen besonderen Wert auf die Formalitäten; die nächstbesten genügten, ein politischer Mord, ein paar Grenzärgernisse. Deutschland schien zu zögern; die anderen wollten lieber jetzt als später. Jedem aber war es schließlich recht, da jeder das Unvermeidliche sah und das lähmende Gefühl vor dem großen Blutgang los sein wollte. Die Tagespresse übernahm die seelsorgerische Ermutigung und Tröstung, hüben und drüben. In Deutschland gelang sie vortrefflich, denn Deutschland hatte von vornherein die Trümpfe der Zukunft in der Hand. Deutschland war der aktive Teil und hatte eine Aufgabe. Die anderen waren die Leidenden, die dem großen Schicksal gehorchen mußten. Welche Ironie des Schicksals, daß gerade sie den Ausbruch des Krieges zu beschleunigen suchten und sich vollzählig dazu drängten. Das alte amor fati hat sie getrieben. Die Deutschen konnten warten; vielleicht fühlten sie auch ein leises Bangen, – nicht vor dem Kriege, aber vor der schweren Aufgabe nach dem Kriege.

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Franz Marc: Schriften. Köln: DuMont, 1978, S. 191-192.
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