58.

[201] Die Dekadenz der Kunst beginnt stets mit dem Auftauchen des Zweckgedankens, – der Wille zur Form schwächt sich ab zum Willen zu nützen.

Einen merkwürdigen und geistreichen Ausweg aus diesem Verhängnis suchte im 19. Jahrhundert die l'art pour l'art-Theorie; sie gewann freilich ihr Ziel der Erneuerung nicht; denn Kunst als Genuß und Genüge Einzelner, Kunst als Genuß überhaupt ist nur eine graziöse Variante des Nützlichkeitsgedankens. Von Genuß in der Kunst überhaupt zu sprechen ist eine Blasphemie und Unart.

Kunst ist immer nur Erkenntnis und Bejahung des Glaubens. Brauchbarkeit, Genuß, Glück liegen auf der äußersten Peripherie des Kunstempfindens, wo die Kunst verdünnt und verschlechtert ein höchst ärmliches Dasein führt.

Nietzsche sagt einmal: »Der Mensch strebt nicht nach Glück, nur der Engländer thut das.« Bei dieser besonderen Spezies Mensch, die der Engländer darstellt oder dargestellt hat, – der Krieg wird ihn manches gelehrt haben –, überwucherten die Glücks- und Nützlichkeitsgedanken dergestalt jede Tiefe, daß die Kunst auf jenem ›glücklichen‹ Eiland wirklich eines elenden Todes starb.

Wir Deutsche haben nie viel nach Glück gefragt; darin liegt unsre Kraft und darum wird es auch wieder eine deutsche Kunst geben, – nicht als Trösterin in der Not dieser Tage, sondern als das große Jasagen zum Geist der Zeit, ohne Hinter- und Nebengedanken.

Quelle:
Franz Marc: Schriften. Köln: DuMont, 1978, S. 201-202.
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