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[210] Ich fing einen einsamen Gedanken, der sich wie ein Falter auf meine hohle Hand setzte; der Gedanke, daß schon einmal sehr frühe Menschen gelebt haben, die in unserm zweiten Gesicht standen und das Abstrakte liebten wie wir.

In unsern Völkermuseen hängt so manches Ding ganz verschwiegen und sieht uns mit seltsamem Auge an.

Wie waren solche Erzeugnisse eines reinen Willens zum Abstrakten möglich? Wie solche abstrakten Gedanken denkbar ohne unsre neuen Möglichkeiten des abstrakten Denkens?

Unser europäischer Wille zur abstrakten Form ist ja nichts anderes als unsre höchst bewußte, thatenheiße Erwiderung und Überwindung des sentimentalen Geistes. Jener frühe Mensch aber war dem Sentimentalen noch nicht begegnet, als er das Abstrakte liebte –

Quelle:
Franz Marc: Schriften. Köln: DuMont, 1978, S. 210.
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