6. Italienische Reise.

[78] Mitten im Winter, gegen die Kälte durch Pelzmantel und Pelzfußsack geschützt, in Hoffnungen und fröhlichen Erwartungen innerlich erglühend, trat ich meine Romfahrt an. Auf Mamas Wunsch hielt ich in Wien eine kurze Rast, um mich nach Hans, der hier Medizin studierte, umzusehen. Ich fand ihn munter und guter Dinge, in Fachstudien rüstig fortschreitend, aber auch tief in politische Umtriebe verstrickt. In den Kreisen, in welchen ich bisher gelebt hatte, herrschte wohl die größte Unzufriedenheit mit der Regierung, wurden liberale Wünsche mit Eifer gepflegt. Ich selbst durfte mich leidlich liberal nennen. Doch trug man den erbärmlich schwachen, thatenscheuen Machthabern mehr Verachtung als Haß entgegen. Namentlich die Polizei, welche damals gegen das Bürgertum noch selten brutal auftrat, nur durch ihre aufdringliche Geschäftigkeit alle Welt plagte, wurde als Ungeziefer angesehen, welches nun einmal in einem alten Bau dauernd nistet und nun einmal geduldet werden muß. Hans Czermak führte mich am Abend in einen Kreis junger thatendurstiger Männer, welche in heftigstem Zorn gegen den Absolutismus entflammt waren, die radikalen badenschen[78] Zeitungen, inbesondere Struwes Zuschauer, wie ein Evangelium verehrten und auf gewaltsame Umwälzungen ihre ganze Hoffnung setzten. Daß sie in solchem Falle nicht unthätig zur Seite stehen würden, war mir klar. Solche heimliche Verbindungen gab es, wie mir Hans versicherte, in Wien mehrere, und merkwürdigerweise besaß nur die Polizei keine Kenntnis von ihnen. Zum erstenmal spürte ich die Vorboten revolutionärer Stürme. Doch alle politischen Gedanken verblaßten, als ich von der Höhe von Optschina bei Triest das Adriatische Meer erblickte. Kunst und Natur nahmen mich wieder vollständig gefangen. Den ersten längern Halt machte ich in Venedig.

Auf die großen Meister der venetianischen Schule hatten mich einigermaßen die deutschen Galerien vorbereitet. In einem ganz neuen Lichte traten mir aber die kleineren und älteren Maler entgegen und auch die Helden sprachen hier ganz anders zu mir, als in der fremden Umgebung. Erst auf ihrem heimatlichen Boden gewannen sie alle volles Leben, erschienen die Gestalten, die Farben, die Luft ganz natürlich. Hätte ich nicht den Kopf mit Hegelschen Schrullen angefüllt gehabt, welche mich überall nach Entwicklungsgesetzen ausspähen ließen, so wäre der Genuß der einzelnen Meister noch reiner gewesen. Ich suchte eifriger die Mängel auf, welche den weitern Weg des Fortschrittes andeuten, als die positiven Reize, welche die Werke bereits besaßen. Doch blieb es ein großer Gewinn, daß ich eine ganze Schule in ihrem festen Zusammenhange und ihrem natürlichen Wachstum kennen lernte. Außer den Venetianern fesselte nur[79] eine künstlerische Schöpfung meine Aufmerksamkeit: das Gebetbuch Grimani in der Bibliothek des Dogenpalastes. Diese köstlichste Frucht der flandrischen Miniaturmalerei aus dem Anfange des sechzehnten Jahrhunderts war damals noch wenig bekannt und wurde selten von Reisenden beachtet. Das brachte mir den Vorteil, daß die Bibliothekare den Schatz nicht so ängstlich, wie späterhin, hüteten, mir vielmehr volle Freiheit bei dem Studium gestatteten. Daß man vor einem Menschenalter das Hilfsmittel der Photographie entbehrte, sich fast ausschließlich an die Betrachtung der Originale halten mußte, hatte wenigstens die eine gute Folge, daß man genauer und eingehender die einzelnen Werke prüfte und sie fester dem Gedächtnis einprägte. Heute sieht der Kunstfreund in der Regel alles viel rascher, weil er sich auf die Photographie verläßt, welche der Erinnerung nachhilft, aber freilich von dem Original meistens nur den farblosen Schatten wiedergiebt. Ob nicht der so ausgedehnte Gebrauch photographischer Nachbildungen unsern Farbensinn abgestumpft hat?

Als ich eines Tages über dem Kodex saß, bemerkte ich, daß ein Fremder, offenbar ein Deutscher, sich von der Gruppe der Bibliotheksbesucher abgesondert hatte, und über meine Schulter die Miniaturen mitbetrachtete. Ich machte ihm Platz zur bequemern Besichtigung der Bilder. Ein Wort gab das andere, und als wir nach ein paar Stunden die Bibliothek verließen, waren wir schon gute Bekannte geworden. Der Fremde war Lottens Enkel, der Sohn des hannöverschen Archivrates Kestner. Von nun an machten[80] wir alle Studien gemeinsam, auch die Gondelfahrten in prachtvollen Mondnächten, bei welchen Kestner seiner Sangeslust freien Lauf ließ. Ihm dankte ich die wertvolle Bekanntschaft des Malers Nerly. Nerly, Rumohrs Pflegesohn, hatte viele Jahre in Rom gelebt, als »generale« alle Künstlerfeste daselbst geleitet, dann in Venedig sich niedergelassen und für seine Lagunenbilder eine zahlreiche Kundschaft erworben. Er wohnte im Palazzo Pisani und malte in derselben Stube, in welcher Leopold Robert sich erschossen hatte. Komisch war sein Ärger über die vielen Pilger und Pilgerinnen zu Roberts Sterbezimmer und ihre naive Unwissenheit, daß sie gleichzeitig die Werkstätte eines doch immerhin angesehenen lebenden Malers betraten. Zuweilen gab aber doch der Pilgerbesuch Anlaß zum Bilderkauf.

Nerly wußte prächtig von dem römischen Künstlerleben zu erzählen, als noch Thorwaldsen in Rom thronte, die »Alten« jünger, munterer waren und harmlose Fröhlichkeit den Verkehr würzte. Er malte Kestner und mir die Cervarafeste farbenreich aus, schilderte die Stiftung des Bajoccoordens und war unerschöpflich in Anekdoten von Thorwaldsen, Koch und Reinhart. Den letztern würde ich noch am Leben treffen, sonst aber meinte er, solle ich die Erwartungen auf ein anregendes frisches Künstlerleben nicht hoch spannen.

Schweren Herzens trennte ich mich von Venedig, langsam wanderte ich über Padua, Ferrara, Bologna nach Florenz. Bald fuhr ich im Postwagen, bald benutzte ich einen Vetturino, auf der Höhe der Apenninen lernte ich[81] auch die Annehmlichkeit eines mit Ochsen bespannten Gefährtes kennen. Die Reisegenossen aus dem ganzen Wege waren Italiener, zumeist kleine Leute, die sich ausschließlich über ihre persönlichen Angelegenheiten und die nächstliegenden Interessen unterhielten. Nur auf der Strecke von Ferrara bis Bologna genoß ich die Freude einer angenehmen Gesellschaft. Bei der Lösung der Karte für die Postkutsche gab mir der Beamte den freundlichen Rat, am Abend noch die Oper zu besuchen. Nach dem Schlusse derselben werde der Wagen an dem Theaterausgange meiner und der anderen Passagiere harren. Ich fand, daß die Sänger in der Verdischen Oper (Ernani?) mehr schrieen als sangen und das Ballet in grünen Höschen recht anständig, aber auch recht langweilig getanzt wurde. Doch mußte sich die Theatergesellschaft eines guten Rufes erfreuen, denn der Oper zu Liebe waren mehrere Musikfreunde von Bologna herübergekommen und traten jetzt den Rückweg an. Leidenschaftlich wurde die Aufführung, das Verdienst und die Mängel der einzelnen Darsteller besprochen, die halbe Oper noch einmal durchgesungen. An Schlaf war in dem dichtgefüllten Wagen nicht zu denken. Ich ärgerte mich darüber nicht, da die lebendige Beredsamkeit und die laute Begeisterung der Männer mein Ergötzen und Erstaunen weckte.

Hatte ich die venetianischen Wochen in angenehmen Verkehre gelebt, so blieb ich in Florenz ausschließlich auf mich angewiesen. Ich glaube nicht, daß ich in dieser ganzen Zeit hundert überflüssige Worte gesprochen hätte. Ein gelegentlicher Gruß der Wirtin, welcher ich eine kleine[82] Stube abgemietet hatte, die Bestellungen in der Trattoria, eine Anfrage an Kirchendiener hielten allein meine Sprechwerkzeuge in Übung. Langsamen Schrittes, so daß ich die zwischenliegenden Städte, insbesondere Siena, eingehend studieren konnte, brachte mich ein Vetturin nach Rom. Den Eindruck des ersten Anblicks der Weltstadt zu schildern, welche damals schon bald nach der letzten Nachtstation, hinter La Storta, sichtbar wurde, langsam, aber immer mächtiger und großartiger dem Auge sich näherte, darf ich mir wohl ersparen. Er glich jenem, welche alle älteren Romfahrer erfahren und viele von ihnen lebendig und wahr geschildert haben. Mit ihnen teilte ich die Erfahrung, daß der Glaube, der erste Eindruck, wenn man über den ponte molle durch die porta del popolo fährt, könne niemals übertroffen werden, sich als irrig erwies. Als ich Rom das zweitemal besuchte, war die Wirkung des Wiedersehens ebenso groß, ja noch erhebender. Die Tage nach meiner Ankunft benutzte ich zu genauer Orientierung im alten und neuen Rom. So fühlte ich mich nach kurzer Zeit schon völlig heimisch und konnte ruhig und planmäßig meinen Studien obliegen. Die Morgenstunden waren den Kirchenbesuchen gewidmet, dann ging es in den Vatikan, oder in die größeren Bildergalerien, der Nachmittag lockte zu kleinen Ausflügen in die Campagna.

Vor einem Menschenalter gab es noch nicht scharf abgetrennte Fächer in der Kunstgeschichte, galt noch nicht der Grundsatz, daß der Forscher nur ein einzelnes Feld des weiten Gebietes, nur einen Abschnitt der Geschichte, diese[83] dann aber auf das sorgfältigste beobachten und prüfen dürfe. Die Grenzen der alten und neuen Kunst flossen für uns unmerklich ineinander, beiden brachten wir das gleiche Interesse und die gleiche Genußfähigkeit entgegen. Zuweilen sogar der antiken Kunst eine größere. So war es wenigstens in der ersten Zeit mit mir bestellt. Schon in Florenz übte der Niobidensaal auf mich eine besondere Anziehungskraft und gern lenkte ich von der Tribuna und dem angrenzenden Florentiner Saale, rasch die langen Gänge durchwandernd, meine Schritte zu den Niobiden. In Rom erging es mir nicht anders. Ich fühlte mich im Belvedere und den Statuenhöfen des Vatikans heimischer als in den Stanzen. Die Stanzen sind nur unter gewissen historischen Voraussetzungen verständlich und genießbar. Man muß mit bestimmten Gedankenkreisen sich vertraut gemacht haben, um die Bedeutung der Bilder, der Gruppen und Gestalten vollkommen zu erfassen. Die Antiken sprechen unmittelbar zu unserm künstlerischen Sinne, sie sind zeitlos, sie scheinen von Ewigkeit zu bestehen und erst gestern geschaffen zu sein; sie atmen eine frische Natur und bedeuten zugleich allgemeine Typen; wir erblicken in ihnen einfach Menschen, menschliche Leidenschaften und Stimmungen ohne irgend welche Gebundenheit durch Äußerliches und Zufälliges. Aus diesem Grunde wirkten auch die Gestalten Michelangelos in der Sixtina mächtiger auf mich, als die figurenreichen Fresken Raffaels in den Stanzen. So weit sie auch sonst von der antiken Empfindungsweise entfernt sind – einen Zug besitzen namentlich die Propheten und Sibyllen mit[84] der guten Antike gemeinsam, daß sie ein unbedingtes voraussetzungsloses Leben zu führen scheinen, rein für sich bestehen. Später lernte ich diese Anschauungen vielfach berichtigen. Die Teppichkartons Raffaels brauchen den Vergleich mit der Antike nicht zu scheuen und auch sonst fehlt es in der neuern Kunst nicht an ebenbürtigen Werken. Wenn in meiner Jugend das Verständnis und die Begeisterung für die Antike rascher erwachte, als für die Schöpfungen der Renaissance, so lag es daran, daß der angehende Kunstjünger auf den Genuß jener besser vorbereitet wurde. Unser Führer auf dem Gebiete der antiken Kunst war Winckelmann, im Kreise der neuen italienischen Kunst Rumohr. Nun kann man gewiß dem holsteinischen Edelmanne reiche Gelehrsamkeit nicht absprechen. Die Gabe aber, den Leser für den Gegenstand zu begeistern, war ihm von der Natur nicht verliehen worden. Niemals verlieren die »Italienischen Forschungen« den trockenen Ton, niemals merkt man dem Autor an, daß im Angesicht einer Kunstschöpfung sein Puls rascher schlage, sein Atem heißer wehe. Wo die Urkunden schweigen, sinkt sein Interesse. Zu einer eingehenden, liebevollen psychologischen Schilderung eines Künstlers, schwingt er sich selten auf. Wie arg hat er sich an dem großen Giotto versündigt, wie wenig wurde er dem fröhlichen Naturton der älteren Florentiner gerecht. Wir lernten viel aus Rumohr, aber Anregungen zu einem frischen Genusse der Kunstwerke gab er uns nicht. Ganz anders packte Winckelmann die Geister. Seine Schilderungen versetzen uns sofort in eine hellstrahlende Welt der Götter[85] und Halbgötter und nehmen unsere Phantasie vollkommen gefangen. Was Winckelmann in seiner Kunstgeschichte schreibt, ist, wie Winckelmännchen später nachwiesen, nicht immer wahr, es verdiente aber wahr zu sein. Das Gleiche gilt von Böttichers »Tektonik der Hellenen.« Beide Bücher haben manchen Irrtum verschuldet, aber in weite Kreise eine ehrliche Begeisterung und tiefes Interesse für die Antike verpflanzt. Seit sie nicht mehr viel gelesen werden – böse Zungen behaupten, sie würden von Kunstjüngern überhaupt nicht mehr gelesen – hat die klassische Archäologie Mühe, ihre alte Anziehungskraft auf die Welt zu behaupten. Die Bahn unserer Kultur scheint sich in der That seit einem Menschenalter immer mehr von der Antike zu entfernen.

Heutzutage sind die Kunstschätze Roms gewiß viel zugänglicher geworden. In mancher Beziehung besaß aber das Studium vor einem Menschenalter doch eine größere Bequemlichkeit. Zunächst stießen sich die Besucher der Museen nicht mit den Ellenbogen, gab es im Vatikan kein so arges Gedränge, wie gegenwärtig in jedem Frühling und Herbst. Man fühlte sich im Vatikan, von der Bibliothek abgesehen, beinahe wie zu Hause und hatte an einzelnen Tagen die Sixtinische Kapelle ganz für sich. Wie oft ließen wir uns vom Kustoden, gegen ein kleines Trinkgeld, für mehrere Stunden in ihr einsperren und konnten nun völlig ungestört die Fresken studieren. In der Farnesina stand jede Ecke und jeder Winkel der Villa dem Besucher offen. Die Restaurationswut hatte noch nicht so heftig um[86] sich gegriffen, Kirchen und Ruinen im ganzen verschont. Das alte Rom und auch das Rom des Mittelalters hatte noch nicht die schöne Patina verloren.

Das Kunststudium entrückte aber den Rompilger keineswegs den greifbaren Interessen der Gegenwart. Rom stand, als ich daselbst eintraf, im Zeichen des Evviva Pio nono. So las man an allen Mauerecken, so hörte man aus dem Munde der Vornehmen und Geringen, der Kleinen und Großen, der Einzelnen und der großen Volksmassen. Die Augen Europas waren auf Rom gerichtet, die Augen Roms auf den Papst. Ein wunderbares Schicksal schien in Scene zu gehen, die Vermählung der strengsten kirchlichen Autorität mit politischer Freiheit, der Bund einer religiösen Weltmacht mit einer scharfbegrenzten Nationalität. Der Papst an der Spitze eines freien Italiens! Dieser Traum fand viele Gläubige. Wer an die nahe Verwirklichung des Traumes nicht glaubte, hütete sich, wenigstens sein Mißtrauen öffentlich auszusprechen. So lebte Rom viele Monate lang in einem wahren Freudenrausche. Man wartete die Großthaten des Papstes nicht ab, um ihm begeisterte Huldigungen darzubringen. Jeder Anlaß, jedes Gerücht wurde benutzt, Pio IX. einen Triumph zu bereiten. Es genügte, daß der Papst sich öffentlich zeigte, um den Volksjubel zu entfachen, und wenn er sich einmal längere Zeit nicht zeigte, so stürmten ihn die endlosen Evvivas der enthusiastischen Römer aus dem Quirinal auf den Balkon heraus. Wie oft habe ich damals den Segen des Papstes empfangen! Denn daß ich mich regelmäßig den Volkshaufen anschloß, welche nach[87] dem Quirinal singend und jubelnd zogen, verstand sich von selbst. Einmal kam ich dabei sogar in nähere Berührung mit dem angesehensten und scheinbar wichtigsten Volksführer, mit Cicernacchio, dem ehemaligen Getreidehändler und Pferdehalter und gegenwärtigen römischen Volkstribun, der den kurzwährenden Ruhm später in so furchtbarer Weise büßen mußte. Wir hatten wieder, viele hundert Köpfe stark, auf dem Quirinalplatze die nebenbei gesagt höchst triviale Piushymne so laut gebrüllt und so oft wiederholt, bis der Papst auf dem Balkon erschien und uns segnete. Als er sich zurückgezogen hatte, begannen wir abermals zu jubilieren, in der Hoffnung, der Papst werde noch einmal auf dem Balkon erscheinen. Diese Zudringlichkeit war dem guten Cicernacchio doch zu arg. Er trat aus dem Thore des Palastes heraus und mahnte zur Ruhe und zum Weggehen. Ich stand in der ersten Reihe und konnte nicht so rasch, wie der Tribun es verlangte, zurücktreten. Da verstärkte er die Mahnung: andate via mit einem derben Faustschlag vor die Brust, den ich noch lange spürte. Von allen Schauspielen zu Ehren des Papstes haftet im Gedächtnisse am stärksten der improvisierte Fackelzug am Abend des Jahrestages seiner Wahl. Bildhauer hatten die Statue des knieenden Papstes aus Gips und Stroh modelliert. Nach Anbruch der Nacht wurde sie auf den Schultern von zwölf facchini mit Fackelbeleuchtung durch die Straßen getragen. Überall öffneten sich die Fenster, traten Frauen mit Lampen an dieselben und mischten ihre Stimmen in unsere brausenden Evvivas. Der Zug ging nach dem[88] Quirinalplatze, welcher sofort in einem Flammenmeer strahlte. Das Schauspiel schloß in der üblichen Weise. Die Thüre des Balkons öffnete sich, ein Teppich wurde über die Brüstung gelegt, ein Kreuzträger trat vor, ihm folgte der Papst in weißem Gewande, von zwei Kämmerern begleitet und spendete mit seiner überaus wohllautenden Stimme den Segen. Der Rausch der Volksmenge durchbrach alle Grenzen. Hätte der Papst an jenem Abend befohlen, die Stadt anzuzünden oder alle Fremden zu ermorden: willig wäre ihm Folge geleistet worden. Nur im Palazzo di Vinezia, wo der österreichische Gesandte wohnte, fand dieser Jubel keinen Widerhall. Das konnte ich bald bemerken, da ich hier häufig verkehrte. Graf und Gräfin Nostiz hatten mich dem Gesandten, ihrem alten Freunde, warm empfohlen und mir dadurch eine überaus freundliche Aufnahme verschafft. Graf Lützow war ein österreichischer Diplomat alten Schlages, ganz unempfindlich für die neuen politischen Stimmungen, völlig befangen in dem alten Formelkram. Er zählte zu Metternichs unbedingten Verehrern und wurde niemals müde, die Instruktionen, welche er aus der Staatskanzlei empfing, als Wunderwerke tiefer Weisheit und klassischer Form zu preisen. Er selbst studierte täglich das Journal des Debats, nicht wegen des Inhaltes, diesen fand er viel zu liberal, sondern weil hier noch ein Diplomat die vornehme französische Sprache üben könne. Mit dem Gang der Dinge in Rom war er natürlich im höchsten Maße unzufrieden. Ihn kränkte nicht allein der verringerte Einfluß Österreichs, ihn ärgerte auch das steigende Ansehen[89] seines diplomatischen Nebenbuhlers, des französischen Gesandten Comte de Rossi. In der eigenen Familie mußte er den Giftsamen des Piononokultus keimen sehen. Die Gräfin, aus einem piemontesischen Adelsgeschlechte, machte aus ihrer Verehrung des Papstes kein Hehl und unterhielt uns bei Tische, zu geheimem Kummer des Grafen, gern von den liebenswürdigen Eigenschaften und geistreichen Aussprüchen ihres Ideals, nachdem uns vor Tische der Graf über die unseligen Schwächen des Papstes belehrt hatte. Mit den Mitgliedern der Gesandtschaft trat ich natürlich in keine näheren Beziehungen, doch merkte ich bald, daß auch hier Doppelströmungen walteten. Der Botschaftskavalier, wie er gewöhnlich hieß, Graf Szechényi, ein munterer, junger Herr, nahm offenbar die Ereignisse nicht tragisch, freute sich über die bunten Scenen, welche das sonst öde römische Leben aufheiterten und gab zu verstehen, daß er die nationalen Regungen in Italien nicht ganz verwerflich finden könne. Ein bürgerlicher Botschaftsrat, dessen Name mir entfallen ist, besorgte die schmutzige Wäsche der Gesandtschaft und schrieb fleißig Polizeiberichte nach Wien. Er gab offen seinen Haß gegen das liberale Italien kund und unterhielt, wie man im Palazzo di Venezia munkelte, in aller Heimlichkeit einen regen Verkehr mit den Jesuiten und den andern Gegnern des Papstes. Auch mich wollte er in den Polizeidienst spannen. Er meinte in einer scheinbar ganz harmlosen Plauderei, eine Sammlung der zahllosen politischen Straßenanschläge und Mauerinschriften würde für mich ein interessantes Reiseandenken abgeben und er mir dankbar[90] sein, wenn ich ihm dieselbe gelegentlich auch mitteilen wollte. Da ich nicht das Aussehn eines Deutschen besäße und viel herumkomme, so dürfte meine Thätigkeit als Abschreiber den Leuten kaum auffallen. Ich war zwar ein grüner Bursche, aber doch nicht so dumm, als daß ich nicht die Polizeiabsicht gewittert hätte. Und so bedurfte es gar nicht der Warnung befreundeter österreichischer Künstler, um den Vorschlag höflich abzulehnen. Diese, in dem Palazzo wohnhaft, oder doch von der Botschaft mehr oder weniger abhängig, befanden sich in einer schlimmen Lage. Mischten sie sich unter das Volk, so gerieten sie leicht in den Verdacht der Spionage, hielten sie sich abseits, so wurde das wieder als Widerwille gegen die liberale Strömung ausgelegt. Ängstlich mieden sie daher politische Gespräche und wichen sorgfältig allen Streitigkeiten aus. Das war aber damals schwer, ja geradezu unmöglich. Denn auch in den deutschen Künstlerkreisen deutete das Wetterglas auf Sturm. Deutsche politische Tagesfragen fanden im Café greco und den deutschen Weinkneipen kräftigen Widerhall. Preußen standen Süddeutsche, Liberale den Konservativen gegenüber, und ob Preußen bald eine Verfassung erhalten, Deutschland die Einheit gewinnen werde, darüber zerbrachen sich auch die deutschen Maler in Rom ihre Köpfe. Nicht einmal auf den sonst so friedlichen Kunstgebieten blieb man vor Parteileidenschaften und Streitigkeiten sicher.

Als ich nach Rom kam, drehte sich das Gespräch ausschließlich um das von Schrader ausgestellte Gemälde »Die Übergabe von Calais an König Eduard III. von England.«[91]

Das Werk war offenbar unter dem Einfluß der bekannten Bilder von Gallait und Biéfve entstanden und brachte den »Deutsch-Römern« die erste sichere Kunde von dem Kunstwandel in der Heimat. Um ein solches Bild zu malen, brauchte man nicht nach Rom zu kommen, meinten die einen; »seht, daß man auch außerhalb Roms tüchtige Bilder malen kann«, rühmten die anderen. Roms alter Ruhm als die beste Hochschule der Kunst erschien bedroht, sein Einfluß, angeblich so fruchtbar und segensreich, in bedenklicher Weise erschüttert. Nerly in Venedig hatte nur zu sehr recht gehabt, als er das Rom Thorwaldsens und der Romantiker im Absterben behauptete. Von den alten Säulen stand nur noch eine aufrecht. Overbeck. – Der einsame Bewohner des Palazzo Cenci zeigte aber am besten, daß eine andere Zeit angekommen sei. Er lebte nur in der Vergangenheit. Die Gegenwart verstand er nicht, besaß auch nicht das geringste Interesse für sie. Kopfschüttelnd hörte er zu, wenn man ihm von den großen Erfindungen unserer Zeit, von der Blitzesschnelle der Eisenbahnfahrten, von der Sonnenhelle des Gaslichtes erzählte. Noch weniger verstand er die Begehrlichkeit der Menschen nach Freiheit und nationaler Einheit. Als ob die Kirche nicht längst, was dem Menschen wahrhaft frommte, ihm gegeben hätte. Er hatte mit dem Leben abgeschlossen und auch für die Kunst hoffte er auf keine neuen Bahnen mehr. Doch blieb der Verkehr mit dem würdigen friedlichen Greise noch immer genußreich. Man blickte in eine ferne Welt zurück, deren Farben zwar längst abgeblaßt waren, aber noch immer einen harmonischen[92] Schimmer bewahrten. Unter dem frischen Eindruck der Begegnung versuchte ich in den Jahrbüchern der Gegenwart, Ende 1847 oder Anfang 1848, ein Bild von Overbecks Persönlichkeit und seiner Stellung in Rom zu entwerfen. Jeden Sonntag stand seine Werkstätte den Besuchern offen. Oft herrschte ein förmliches Gedränge in den beschränkten Räumen. Der Meister, gewöhnlich mit gefalteten Händen, ging von einer Gruppe zur andern und wechselte mit jedem, der ihn ansprach, ein paar freundliche Worte. Bei diesen Anlässen lernte man ihn nur oberflächlich kennen. Er lud aber zuweilen jüngere Leute zum Frühstück in sein Haus. Hier ließ er sich offener gehen und zeigte sich gesprächig. Die Herrlichkeit der alten italienischen Malerei, besonders der umbrischen, erfüllte seine ganze Phantasie. Niemals wurde er polemisch, wenn er nicht loben konnte, schwieg er lieber. So erinnere ich mich nicht, jemals ein Wort über Michelangelo aus seinem Munde gehört zu haben. Da besaß seine Frau eine viel schärfere Zunge und oft brachte sie uns durch ihre inquisitorischen Fragen in arge Verlegenheit. »Welche Kirche wir am Morgen besucht hätten«, war der gewöhnliche Gruß, mit welchem sie uns junge Leute empfing. Wir richteten uns deshalb so ein, daß wir vor dem Besuche Overbecks stets Kirchenstudien machten und dann die Frage mit gutem Gewissen bejahend beantworten konnten. Daß wir in den Kirchen Mosaiken betrachtet, die Architekturformen untersucht hatten, brauchte die gute Dame nicht zu wissen. Mein gewöhnlicher Besuchsgenosse bei Overbeck, der leider bald[93] nach meiner Abreise von Rom verstorbene Kupferstecher Wiesner aus Prag, ein Schützling des archäologischen Instituts und durch die Wiedergabe der Ficoronischen Ciste mit Recht in Künstlerkreisen geachtet, verstand es vortrefflich, die fromme Neugierde der Frau Overbeck durch naive Antworten zu beschwichtigen und half uns aus mancher Not.

Welch schroffer Gegensatz bestand zwischen dem alten Overbeck und dem in Kraftfülle und überschäumender Lebenslust strotzenden Karl Rahl, welcher mich von dem jüngern Künstlergeschlechte am meisten fesselte. Rahl stand an der Spitze der Bewegungspartei. Freisinnig in allen politischen und kirchlichen Dingen, rücksichtslos bis zur verletzenden Schroffheit in der Aussprache seiner Urteile, aber durchaus ehrlich und wahrheitsliebend, dabei von großen Hoffnungen für die nächste Kunstentwickelung erfüllt, erwies sich Rahl als trefflicher Lehrmeister, um ein selbständiges Urteil zu erringen und zu kritischen Prüfungen der Kunstwerke anzuregen. Der Umgang mit Rahl befreite mich aus der Gefahr, einfach gläubig auf die alten Autoritäten zu schwören, welcher man in Rom so leicht verfällt. Rahl war von Natur reich, fast zu reich angelegt, sein Interessenkreis war zu groß, die echt künstlerische Naivetät durch den scharf ausgeprägten kritischen Sinn oft zurückgedrängt. Auch die fast unheimliche Plumpheit des Körpers übte Einfluß auf seine Phantasie und ließ ihn zu leicht in schwerfällige wuchtige Formen, wenn er malte, verfallen. Der venetianische Jordaens hieß er bei einzelnen seiner Genossen.

Das Peter- und Paulsfest war mit Girandola und[94] Kuppelbeleuchtung vorüber. Ich hatte mich nach Kräften bemüht, einen Überblick über die römischen Kunstschätze zu gewinnen, in Rom selbst mich eingebürgert, auch nach guter, alter Sitte das Albaner- und Sabinergebirge durchwandert. Allmählich machte die steigende Hitze den längern Aufenthalt in Rom unleidlich. So entschloß ich mich denn gleichfalls zur Rückreise, wählte aber, von Overbeck aufgemuntert, den Weg jetzt durch das umbrische Land. Von früheren Zeiten her, als er in S. Maria degli Angeli in Assisi die bekannte Freske gemalt, besaß Overbeck zahlreiche Bekannte und Verehrer in umbrischen Städten und Klöstern. Er stattete mich mit warmen Empfehlungen an sie aus. Manche Briefe blieben unbestellbar; die Leute waren verzogen, verdorben, gestorben; einzelne der Adressaten heischten Hilfe von mir, statt mir die gewünschten Dienste zu leisten. Am schlimmsten erging es mir in Perugia. Dorthin hatte mich Overbeck an die Witwe eines nahe befreundeten Mannes empfohlen, mir sogar ein Röllchen Scudi, den Rest einer ältern Verpflichtung, an sie mitgegeben. Das Weib hielt aber jetzt ein berüchtigtes Haus und ich dankte es nur der Warnung eines facchino, daß ich mich nicht bei ihr ein quartierte, sondern nach Erledigung meines Auftrages schnell davonging und in einem bescheidenen Albergo Obdach suchte. In andern Fällen dankte ich Overbecks Empfehlungen freundliche Aufnahme und wohlfeilste Unterkunft.

In fröhlicher Fahrt durchstreifte ich das umbrische Land. Ich trat den Volkskreisen näher, lernte ihre Denkweise kennen und sättigte das Auge mit landschaftlichen Eindrücken,[95] welche mir noch nach vielen Jahren das Verständnis der verschiedenen italienischen Kunstschulen öffnen halfen. In jedem Flecken fand ich eine Fahrgelegenheit und wenn es auch ein Weinkarren war, der mich für gute Worte und weniges Geld nach dem nächsten Städtchen brachte, in jedem Orte einen patriotischen Kunstfreund, welcher mich auf die Denkmäler seiner Heimat aufmerksam machte und eifrig, zuweilen übereifrig, meine Führung übernahm. Während der ganzen Fahrt bestand ich nur ein einziges Abenteuer. Overbecks Empfehlung hatte mir in dem Kloster degli Angeli, unterhalb Assisi, Herberge verschafft. An jedem Morgen stieg ich den Berg empor und studierte die (arg zerstörten) Fresken in S. Francesco; gegen Abend kehrte ich in die Herberge zurück, labte mich an einer frugalen Mahlzeit, träumte im Klostergarten, oder verkehrte mit den Mönchen oder zufällig anwesenden Fremden. Eines Abends gesellte sich ein französischer Architekt zu mir, welchem gleichfalls die Empfehlung eines Bischofs Aufnahme im Kloster verschafft hatte. Von der Kunst, die an den heiligen Franz anknüpft, kamen wir auf die Legenden des Heiligen zu sprechen. Der Franzose sprach sich über einzelne derselben, wie über den ganzen katholischen Heiligenkultus, ziemlich frivol aus und erzählte einzelne gute Schnurren, die mich zum Lachen brachten. Wir hatten keine Ahnung, daß der uns bedienende Klosterbruder auch der französischen Sprache mächtig war. Am nächsten Morgen wurden wir zum Guardian beschieden, welcher uns eine grimmige Strafpredigt hielt, die Gastfreundschaft kündigte und zum Schlusse[96] kategorisch aufforderte, sofort Kloster und Stadt zu verlassen, wenn wir nicht die Rache des Heiligen erfahren wollten. Beschämt schlichen wir in unsere Zellen zurück, packten die Ranzen und zogen die Straße nach Toscana weiter. Das Schlimmste war, daß wir mit hungrigem Magen die Reise antreten mußten und der Vetturin das Fahrgeld der Ketzer beträchtlich erhöhte, auch sonst sich mißtrauisch und wenig gefällig erwies.

In Florenz wurde wieder eine längere Rast gemacht. Mit andern Augen sah ich jetzt die Gemälde in den Galerieen an, als auf der Herreise. Der Aufenthalt in Rom und Umbrien hatte den Sinn für das Eigentümliche der einzelnen Meister geschärft, die größere Aufmerksamkeit den Formen und nicht mehr vorwiegend dem Inhalt zuzuwenden gelehrt. Die Florentiner Meister aus dem Anfange des sechzehnten Jahrhunderts, die Fra Bartolommeo, del Sarto, Ridolfo Ghirlandajo u.a. offenbarten erst jetzt ihre volle Anziehungskraft und ließen mich nun mit Vorliebe in den früher wenig beachteten Sälen der toscanischen Meister verweilen. Auch die Sammlung der Akademie übte erst jetzt volle Wirkung. Methodisch war diese Art des Studiums, dem Entwickelungsgange der Kunst geradezu entgegenlaufend, nicht. Zum Ziele führte sie dennoch. Wer in Florenz lange verweilt, ehe er Rom kennen gelernt hat, glaubt in der Regel, das Bessere und Vollkommenere müsse erst kommen. Die hochgespannten Erwartungen rauben dem Blicke die Ruhe und lassen die ältere Thätigkeit nur zu leicht als bloße Vorbereitungsstufe ohne selbstständigen Wert[97] erscheinen. In Rom entdeckt man allmählich, daß das viele Licht doch nicht ganz ohne Schatten sei, den Kunstwerken zuweilen die naive Naturfrische mangele. Die toscanischen Meister sind beschränkter, aber innerhalb dieser Beschränkung gleichfalls vollendet; sie tragen den italienischen Volkscharakter offener zur Schau und zeigen, frei von allem Überhasteten und Eiligen, in dem technischen Verfahren eine ruhige Gediegenheit.

Kurze Besuche in Pisa und den benachbarten Landstädten ergänzten meine Kunde der ältern toscanischen Kunst. Dann aber packte mich wieder unwiderstehlich die Sehnsucht nach Licht und Luft, nach blauen Bergen und dem leuchtenden Meere. Von Lucca schlug ich den Landweg ein, welcher an der Küste über Spezzia nach Genua führt und ließ mich erst in Mailand wieder von kunsthistorischen Interessen einfangen. Als ich den italienischen Boden zuerst betrat, hatte ich den Kopf noch mit philosophischen Begriffen angefüllt, über meine Zukunft kaum ernstlich nachgedacht. Als ich Italien verließ, war ich den historischen Studien gewonnen und stand der Entschluß, mein Heil und Glück in Deutschland zu versuchen, fest. Das waren die wichtigsten Reisefrüchte. Im Angesicht der lebendigen Kunstwerke schrumpfte die Gelehrsamkeit, welche die spekulative Ästhetik dargeboten hatte, arg zusammen, erwiesen sich die verschiedenen Kategorieen als gebrechliche Stützen. Wie stolz fühlte sich der junge Philosoph, wenn er die Entwickelungsstufen der künstlerischen Phantasie: die architektonische, plastische und malerische an den Fingern[98] abgezählt und danach die Aufeinanderfolge der Kunststile in der Zeit mit unbedingter Sicherheit bestimmte. Und ein Kunstwerk glaubte er vollständig begriffen zu haben, wenn er es in den verschiedenen Arten des Erhabenen, des Einfach-Schönen, des Humoristischen u.s.w. einordnen konnte. Sobald er aber der Fülle der wirklichen Kunst gegenüberstand, merkte er seine Armut und Unwissenheit. Die Entwickelung des Schönheitsbegriffes ließ sich der zeitlichen Folge der Kunstweisen durchaus nicht anpassen, die Kunstwerke sträubten sich beharrlich, als bloße Beispiele der verschiedenen Kategorieen zu gelten. Dort Zwang, hier Freiheit, dort Eintönigkeit, hier größte Mannigfaltigkeit, dort ein erträumtes Reich, hier fester Boden, dort ein Schaukeln in Wolken, hier eine lebendige Welt, im Volke sicher wurzelnd, dessen liebste Gedanken und Empfindungen wiederspiegelnd. Die Entscheidung konnte nicht schwer fallen. Was das Auge lehrte, konnte keine nachträgliche Spekulation widerlegen. Das Auge predigte aber Achtung vor der Wirklichkeit, Anerkennung der Individualitäten, selbstständiges Wachstum der Kunst in den einzelnen Weltaltern. Wie die Kunstwerke entstanden sind, wie sich die künstlerischen Persönlichkeiten entwickelt haben, solche Untersuchungen führen am besten in das Kunstverständnis ein. Der Sieg der historischen Betrachtungsweise über das philosophische Credo brachte auch die Frage: Was aus mir werden solle? in Fluß. Die historischen Wissenschaften waren in Österreich heimatlos. Auf allen Disziplinen lastete ein schwerer Druck. Alle hatten unter dem beschränkten Hasse, der lächerlichen[99] Angst der Regierung zu leiden. Kein Studium lag so tief zu Boden, wie das historische. Hier war der Regierung wirklich gelungen, einer Wissenschaft den Lebensfaden abzuschneiden. Keine Möglichkeit, sich über die Quellen, die Methode zu unterrichten, keine Gelegenheit, eine Arbeit vorzubereiten, den kritischen Sinn zu üben. Niebuhr, Ranke waren unbekannte Namen, ihre Bücher geradezu unauffindbar. Und dazu die öde Umgebung, der radikale Pessimismus bei dem jüngern Geschlechte, die Gleichgültigkeit bei den Alten, die Verachtung des eigenen Staates, der Widerwille gegen die Gegenwart bei allen. Auf jede Anregung mußte ich Verzicht leisten, jeder Teilnahme an meinem Streben entbehren. Irgend eine gelehrte öffentliche Wirksamkeit war auf absehbare Zeit nicht zu hoffen. Das Gespenst eines verkümmerten Privatlehrers, welcher sich durch Stundengeben vom Hungertote rettete, stand drohend vor meinen Augen. Ich kannte mehrere, welche in ihrer Jugend gar reiche, gelehrte Pläne mit sich trugen, aber schließlich doch, weil sie sich der offiziellen Schablone nicht fügten, zu Grunde gegangen waren. Allerdings sehnte ich mich nach dem Familienleben in Czermaks Hause zurück. Aber Mama hatte die Absicht, mit Jaroslav, dessen Talent sich immer prächtiger entfaltete, Prag sobald als möglich zu verlassen, und eine andere Kunstschule – sie dachte schon damals an Antwerpen – aufzusuchen. So faßte ich den kühnen Entschluß, statt nach Österreich zurückzukehren, an einer deutschen Universität mich für die Gelehrtenlaufbahn vorzubereiten, zunächst mir hier den Doktorhut zu holen. Meine[100] Wahl schwankte nicht lange. In Tübingen besaß ich Gönner und durfte einer freundlichen Aufnahme und guter Unterstützung gewärtigen. Nach Tübingen richtete ich meine Schritte. Nachdem ich in Lugano noch meine Mailänder Kunststudien ergänzt hatte, durchflog ich die Schweiz und traf Anfang September in der Schwabenstadt ein.[101]

Quelle:
Springer, Anton: Aus meinem Leben. Berlin 1892, S. 78-102.
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Unsühnbar

Unsühnbar

Der 1890 erschienene Roman erzählt die Geschichte der Maria Wolfsberg, deren Vater sie nötigt, einen anderen Mann als den, den sie liebt, zu heiraten. Liebe, Schuld und Wahrheit in Wien gegen Ende des 19. Jahrhunderts.

140 Seiten, 7.80 Euro

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Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

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