101. Der Fuchs lehrt den Wolf fischen

[100] Einige Tage konnte der Wolf nicht ausgehen, so sehr war er zerschlagen worden; aber nun überfiel ihn wieder sein entsetzlicher Hunger und zwang ihn dazu. »Hättest du nur die Hälfte der Fische, die du zum vorigenmal zuviel gegessen, wie würdest du jetzt zufrieden sein. Doch wozu dies? Zehn Hättich geben doch kein Hab ich.« Da dachte er auch an seinen Gevatter Fuchs, und sein Grimm wurde glühend. »Gleich mußt du zu ihm und ihn züchtigen!« Als er vor die Wohnung desselben kam, lag dieser gerade vor seiner Türe und aß an einem Aal, den er den Fischern entwendet hatte. Er sah aber den grimmigen Wolf kommen und zog sich in sein Haus etwas zurück. Da der Wolf merkte, daß er ihm nichts anhaben könne, sprach er freundlich: »Was esset Ihr denn da, Gevatter?«

»Einen köstlichen Aal«, sprach der Fuchs, »den ich mir gefangen habe.« Nun erwachte bei dem Wolf der Hunger mit unwiderstehlicher Gewalt, und er erinnerte sich auch, wie vortrefflich ihm zuletzt die Fische geschmeckt hatten. »Ei, wenn ich doch nur auch fischen könnte; wollt Ihr mich lehren?«

»Gevatter, bei Euch ist kein Dank zu verdienen, das habe ich nun genug erfahren; aber bei meiner Treue, ich möchte Euch fischen lehren, und Ihr solltet so viele Aale fangen, daß Ihr lange genug hättet, wenn Ihr mir einen heiligen Eid schwöret, daß Ihr keine Bosheit im Schilde führt.«

»So schwöre ich«, fiel der Wolf ein, »beim Auge der Nacht, daß Euch durch mich kein Leid widerfahren soll.« Darauf kam der Fuchs hervor und fühlte den Wolf auf das Eis, wo am Abend kurz zuvor die Fischer ein Loch gehauen hatten. »Nun lasset Euren Zagel hier ganz hinein, dann werden sich allmählich eine Menge Fische daran fangen; aber Ihr müßt stille halten, bis recht viele dran sind, sonst verscheucht Ihr sie.« Der Wolf tat so, wie ihn der Fuchs lehrte. Es war aber eine kalte Mondnacht; das Loch im Eise fror bald zu. Da fragte nach einiger Zeit der Fuchs: »Gevatter, habt Ihr schon einige ?« Der Wolf zog ein wenig an. »Jawohl, ich fühle schon etwas.«

»Haltet nur still, Gevatter, daß sie nicht fortziehen«, sprach der Fuchs. Der Wolf tat das gerne, denn er wünschte einen guten Fang zu machen und fürchtete nur, nicht genug zu bekommen. Nach langer, langer Zeit sprach der Fuchs wieder: »Nun, Gevatter, lasset es jetzt genug sein, Ihr werdet sonst nicht wissen, was anfangen mit den unzähligen Fischen, und Ihr wisset ja: zuviel ist ungesund.« Der Wolf zog

und freute sich anfangs, daß es so schwer ging, und glaubte, das komme von den vielen Fischen. Aber wie sehr er sich auch anstrengte, der Zagel regte und rührte sich nicht. »Ich will gleich Hilfe schaffen«, sprach der Fuchs und lief an die Holzstätte. Als die Holzknechte den Fuchs sahen, ergriffen sie Stangen und Hebbäume und gingen auf ihn los; der aber kehrte um und lief dahin, wo der Wolf war. »Gevatter, die Holzknechte kommen, um die Fische Euch gewinnen zu helfen; aber ich rate Euch, esset dann nicht zuviel.« Damit – hast du nicht gesehen – war er gleich fort. Der arme Wolf wurde bald von allen Seiten angegriffen, daß er sich nicht erwehren konnte. Da nahm er seine ganze Kraft zusammen und riß und riß – endlich wurde er los, aber sein Zagel war im Eis zurückgeblieben.

Quelle:
Haltrich, Josef: Deutsche Volksmärchen aus dem Sachsenlande in Siebenbürgen. Wien: Verlag von Carl Graeser 1882, S. 100-101.