67. Hans und Jagerle

[66] Es war einmal ein Mann, der hatte zwei Söhne, der eine hieß Hans, der andere Jagerle. Einmal schickte sie der Vater aufs Feld. Der ältere sollte im Walde Holz fällen, der jüngere die Schafe hüten. Da schickte gegen Mittag Hans den Jagerle nach Hause, daß er das Essen hole: Man gab ihm aber daheim einen Topf mit Milch und einen Palukes. Als Jagerle an den Fluß kam und gerade über die Brücke ging, so schrien die Frösche . »quack-ack-kack! quack-ack-kack!« Der Junge glaubte, sie riefen: »Jagerle schau, Jagerle schau!« und dachte: »Ihr armen Tierchen, ihr seid gewiß sehr hungrig, wartet, ihr sollt nicht umsonst gebeten haben!« Damit goß er aus seinem Topf die Milch in den Fluß, die Frösche tauchten unter und waren still. Jagerle aber freute sich des, denn er dachte, jetzt äßen sie und seien befriedigt. Wie er nun so in seinen Gedanken in den Fluß sah, merkte er nur einmal zu seinem Schrecken, daß die Brücke eine Menge Löcher hatte. »O ihr armen Schafe, wie würdet ihr hier eure Füße gebrochen haben, wenn ich nicht beizeiten die Gefahr bemerkt hätte.« Damit nahm er den Palukes und strich, so weit er reichte, alle Löcher zu. Dann eilte er froh zur Herde und in den Wald zu seinem Bruder. Dieser fragte ihn: »Hast du das Essen gebracht?«

»Ja, aber als ich auf die Brücke kam, da baten mich die hungrigen Tierchen im Wasser so flehentlich, daß ich ein Stein gewesen wäre, wenn ich mich ihrer nicht erbarmt hätte. Ich goß ihnen denn die Milch hinunter. Dann denke dir nur, die Brücke war so voller Löcher, daß unsere Schafe sich gewiß die Füße zerbrochen hätten, wenn ich das nicht bei Zeit gesehen, allein nun habe ich sie mit dem Palukes zugeschmiert.«

»O du Dummbart, der du bist, jetzt leide Hunger. Ich will mir schon Erdbeeren im Walde suchen!«

Jagerle ging voll Ärger zu der Herde, weil ihn sein Bruder so gescholten hatte. Bald überkam ihn der Hunger auch so sehr, daß er seinen ganzen Tornister durchsuchte, ob er da nicht etwas zum Beißen finde. Endlich fand er noch eine verschimmelte, harte Brotkrume. Er fing gleich an zu nagen und zu kauen. Die Schafe aber lagen auch da und kauten ebenfalls. Jagerle aber verdroß das sehr, denn er dachte, sie machten ihm nach und spotteten seiner. Er nahm seinen Stock und schlug sie alle tot. Als gegen Abend sein Bruder hinzukam, da sie miteinander die Schafe heimtreiben sollten, schlug er die Hände zusammen und rief: »Um Gottes willen, was hast du getan?«

»Ich bin nicht einer, der sich verspotten läßt!« sprach Jagerle. »Als ich da an einer verschimmelten Brotkrume nagte, machten sie mir ein schiefes Gesicht, jetzt haben sie's bezahlt bekommen!«

»O weh!« sprach Hans, »was wird uns der Vater tun? Ich will mich hüten, ihm vor die Augen zu kommen!« Er schlich sich aber verstohlen nach Hause, nahm sich seinen Geldbeutel und wollte in die Welt laufen. Jagerle aber war ihm nachgegangen, und da er nichts hatte, nahm er die Tür auf den Rücken und lief ihm nach. »Bleibe mir vom Halse!« sprach Hans, »ich gehe nicht mit dir!«

»Das sollst du auch nicht!« sprach Jagerle, »aber ich gehe mit dir!« Da kamen sie abends, als es schon dunkel war, in einen Wald. Nur einmal sahen sie in der Ferne eine Menge Räuber kommen. »Jetzt sind wir verloren, wenn du mir nicht folgst«, sprach Hans zu Jagerle, »nur schnell mir nach!«

Hans stieg auf einen Baum. Jagerle kletterte mit der Tür nach. Die Räuber aber kamen immer näher und ließen sich gerade unter dem Baum nieder und machten ein Feuer. Die beiden auf dem Baum quälte der Rauch, allein sie hielten aus. Da rief Jagerle: »Hans, ich muß pissen!«

»Nur das nicht, sonst sind wir verloren!« drohte dieser. Doch Jagerle pißte und gerade ins Feuer und in die Töpfe und Pfannen. »Wie es auf einmal regnet!« sprachen die Räuber. Nach einiger Zeit rief Jagerle wieder: »Hans, ich muß misten!«

»Nur das nicht!« drohte Hans, »sonst sind wir verloren.« Aber – Not bricht Eisen! Bald fiel etwas dem Räuberhauptmann auf die Nase. Erschrocken wischte sich der gleich ab und sprach: »Es muß ein großer Vogel auf diesem Baum nisten!« Es dauerte nicht lange, so rief Jagerle: »Hans, ich kann die Tür nicht länger halten, ich muß sie fallen lassen!«

»Nur das nicht!« drohte Hans, »sonst sind wir verloren.« Alsbald aber – platsch! Lag sie schon unten und schlug zwei Räuber tot, die anderen liefen im Schrecken davon, und als sie in der Ferne wieder Atem geschöpft, riefen sie: »Das war ein Donnerschlag, Gott sucht uns heim, wenn wir es am wenigsten vermuten!« Als aber Hans und Jagerle sahen, daß die Räuber fort waren, so stiegen sie hinunter und nahmen alle Schätze, und da war auch eine silberne Flöte vom Hauptmann. Jagerle nahm sie an den Mund und fing damit ein Hirtenstück an zu pfeifen. Einer der Räuber wagte es, sich wieder der Unglücksstätte zu nähern, und trat zu Jagerle und sprach: »Aber wie kannst du so schön pfeifen!«

»Ja!« sprach Jagerle, »man hat mir die Zunge gelöst!«

»Willst du mir sie nicht auch lösen!?« bat der Räuber. »Warum nicht! Komm nur her.« Da schnitt Jagerle dem Räuber die Zunge aus. Der lief aber alsbald heulend fort zu seinen Kameraden, und als diese ihn fragten, was ihm geschehen, rief er nur verworren: »Hababababa!« Sie glaubten, er sei vom bösen Geist besessen, und flohen vor ihm nach allen Richtungen fort, und niemand hat sie mehr gesehen. Hans und Jagerle kehrten nun mit dem vielen Geld nach Hause, und ihr Vater verzieh ihnen und vergaß über den großen Schätzen die verlorenen Schafe.

Quelle:
Haltrich, Josef: Deutsche Volksmärchen aus dem Sachsenlande in Siebenbürgen. Wien: Verlag von Carl Graeser 1882, S. 66-67.