3. Die alten Könige beim Opfer

[276] Nur ein Heiliger kann Gott opfern, nur ein ehrfürchtiger Sohn kann seinen Eltern opfern. Opfern bedeutet sich nahen. Man muß sich dem Göttlichen nahen, ehe man ihm opfern kann. Darum tritt ein ehrfürchtiger Sohn vor den Vertreter des Toten ohne Scheu. Der Fürst führt das Opfertier, und seine Gemahlin bringt den Wein dar; der Fürst stellt die Fleischspeisen vor den Vertreter des Toten, seine Gemahlin stellt die Holzplatten auf; die Großwürdenträger stehen dem Fürsten zur Seite, und deren Gattinnen stehen seiner Gemahlin zur Seite. Wie ernst und gemessen war ihre Ehrfurcht! Wie[276] dienstbereit war ihre Gewissenhaftigkeit! Wie aufrichtig waren sie in ihrem Vorhaben, ihrem Opfer!

König Wen verhielt sich bei seinem Opfer so, daß er seinen verstorbenen Vorfahren diente, als ob sie noch lebten, daß er der Verstorbenen so innig gedachte, als ob er selbst nicht mehr zu leben wünschte. An ihrem Gedächtnistag war er wehmütig gestimmt, er nannte sie bei ihren Namen wie im Leben, als ob er sie sähe; so gewissenhaft war er bei seinem Opfer, als ob er sähe, was seine Eltern von ihm wollten, als ob er wünschte, aus ihren Mienen zu lesen. So war der König Wen. – In den Liedern heißt es (II, V, 2, 1):


»Schon bricht der Tag an.

Ich schlafe noch nicht,

sondern denke an die beiden Eltern.«


Das Lied bezieht sich auf König Wen. Am Tag nach dem Opfer lag er noch bis zum Morgen wach und brachte ihnen noch ein weiteres Nachopfer dar, und danach fuhr er fort, an sie zu denken. Am Tag des Opfers war sein Herz geteilt zwischen Freude und Schmerz. Während er ihnen die Opfergaben darbrachte, war er erfreut (daß sie kamen), und wenn das Opfer dargebracht war, war er traurig (daß sie sich wieder zurückzogen).

Quelle:
Li Gi. Düsseldorf/Köln 1981, S. 276-277.
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