Erster Khaṇḍa.

[100] 1.–11. Khaṇḍa: Das Brahman als die Weltensonne, die natürliche Sonne als die Erscheinungsform des Brahman, – das ist der Grundgedanke dieses in der Anlage gigantischen, in der Ausführung unserm Geschmack weniger zusagenden Abschnittes, dessen hohe Wertschätzung sich in der Warnung am Schlusse, diese Lehre keinen Unwürdigen mitzuteilen, und in ihrer Höherstellung als die Erde mit allem ihrem Reichtum bekundet.

In groteskem Bilde erscheint die sichtbare Sonne als der aus den Veden zusammengeflossene Honigseim, von dem die Götter sich nähren. Hierbei ist der Himmel, als Träger von Sonne und Luftraum, das die Waben (die ja von oben gebaut werden) tragende Quergestell, entsprechend unserm Bienenstock (tiraçcîna-vaṅça); der Luftraum bildet die Waben (apûpa), welche von den Lichtelementen (marîcayaḥ) als der Brut (putrâḥ) erfüllt sind. Die nach Osten, Süden, Westen, Norden und nach oben gehenden Sonnenstrahlen (raçmayaḥ) sind die röhrenförmigen Honigzellen (madhunâḍyaḥ) dieser Waben, durch welche der Seim nach der Mitte zusammenfliesst und den Sonnenkörper bildet.

Die Blumen, aus denen der Sonnenhonig gewonnen wird, sind 1. Ṛigveda, 2. Yajurveda, 3. Sâmaveda, 4. die epischen und mythologischen Gedichte (itihâsa-purâṇam), 5. die Upanishad's (hier brahman ge nannt); – die Bienen, welche aus diesen Blumen den Honig bereiten, sind entsprechend 1. die Ṛigverse, 2. die Yajussprüche, 3. die Sâmalieder, 4. die Atharvaverse (atharva-a girasaḥ), 5. die Geheimlehren (guhyâ' âdeçâḥ) der Upanishad's. Die Veden sind also das Prius (die Blumen), ihre Verse, Sprüche und Lieder sind nur das Vehikel, durch welches ihr Inhalt uns zugetragen wird (die Bienen), und zwar dadurch, dass sie die entsprechende Vedablume »bebrüten« (abhitapanti), wobei als »unsterblicher Nektarseim dieses« (tâ' amṛitâ' âpas) gewonnen wird, was als Saft (rasa) in Gestalt von Ruhm, Kraft, Stärke, Mannheit und Nahrung (yaças, tejas, indriyam, vîryam, annâḍyam) aus den Veden abfliesst und sich in der Sonne als deren 1. rote, 2. weisse, 3. schwarze, 4. tiefschwarze, 5. in der Mitte wallende Erscheinungsformen ansammelt. Unter ihnen stehen am höchsten die Upanishadlehren; sie sind die Essenz der Essenzen, der Nektar des Nektar.

Nicht irdisch ist Speise und Trank der Götter, sondern an diesen fünf aus den Veden quellenden Nektararten sättigen sich in entsprechender Reihenfolge 1. die Vasu's, 2. die Rudra's, 3. die Marut's, 4. die Âditya's, 5. die Sâdhya's, welche der Reihe nach von 1. Agni (Erde), 2. Indra (Luftraum), 3. Varuṇa (Himmel), 4. Soma (Ritual), 5. Brahman (Philosophie) regiert werden. Wer den Nektar des betreffenden Veda kennt, der nimmt teil an seinem Genusse, ja, er übt über die betreffende Götterklasse eine Oberherrlichkeit und Selbstherrschaft aus, und zwar in Zeiträumen von[100] einer in geometrischer Progression steigenden Länge. Nämlich 1. in der gegenwärtigen Weltperiode geht die Sonne im Osten auf und im Westen unter; dann wird sie 2. zweimal so lange (zwei Weltperi oden) im Süden auf- und im Norden unter-, dann 3. zweimal solange (vier Weltperioden) im Westen auf- und im Osten unter-, dann 4. zweimal solange (acht Weltperioden) im Norden auf- und im Süden unter-, und endlich 5. zweimal solange (sechzehn Weltperioden) im Zenith auf- und im Nadir (in die Erde hinein?) untergehen, und entsprechend lange ist die Oberherrschaft dessen, der den Nektar des betreffenden Veda kennt. Dann aber wird die Zeit kommen, wo die Sonne nicht mehr auf- noch untergehen, sondern allein in der Mitte stehen bleiben wird, und diese Zeit des ewigen Tages ohne Nacht ist schon jetzt für den da, welcher diese Upanishad des Brahman weiss. Er hat durch das Symbol hindurch die Wesenheit, durch die natürliche Sonne hindurch die Brahmansonne ergriffen, für ihn ist der Tag der vollkommenen Erkenntnis angebrochen, welcher keine Nacht mehr kennt.


1. Die Sonne dort ist der Honig der Götter. Dabei ist das Quergestell [an dem die Waben hängen] der Himmel, die Waben sind der Luftraum, die Brut sind die Lichtelemente.

2. Die östlichen Strahlen der Sonne, die sind die östlichen Honigzellen; die Bienen sind die Ṛigverse, die Blume ist der Ṛigveda, die Nektarflüssigkeit ist diese, dass jene Ṛigverse 3. den Ṛigveda bebrüteten, und aus ihm, da er bebrütet wurde, Ruhm, Kraft, Stärke, Mannheit und Nahrung als Saft hervorging; 4. dieser zerfloss und lagerte sich um die Sonne herum: es ist das, was an jener Sonne das rote Aussehen ist.

Quelle:
Sechzig Upanishads des Veda. Darmstadt 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1921], S. 100-101.
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